[305] Es war ein regnerischer unfreundlicher Tag, dergleichen man selten im Monat Mai erlebt, an welchem ich mit meiner Tochter und ihren Kindern von Nürnberg abreiste. Wir konnten die Schönheit der Gegend, in welcher Nördlingen liegt, mehr ahnen als sehen, und ebenso raubte uns auch der anhaltende Regen den Überblick der vielen wohlbevölkerten Dörfer in der Umgegend. Erst in Öttingen, wo wir Mittag hielten, heiterte der Himmel sich etwas auf, und abends um fünf Uhr kamen wir glücklich in unserem neuen Wohnort an. Das Haus, welches wir gemietet hatten, gewährte zwar von außen wegen der Ungleichheit seines Daches und seines weißen, mit dem Dunkelrot der Fenstereinfassungen und Stockabteilungen grell abstechenden Anstriches keinen sonderlich erfreulichen Anblick; aber es steht an einem freien Platz zunächst der großen, schönen gotischen Kirche, seine größere Front gegen Morgen, die kleinere gegen Mittag gerichtet, und wenn uns schon diese Lage mit dem Ungefälligen seines Äußern versöhnte, so ließ uns seine bequeme innere Einrichtung ganz darüber wegsehen. Hierzu kam, daß wir es, was uns besonders lieb war, allein bewohnten und daß uns auch das Gärtchen am Haus überlassen war, was wir ebenfalls, vorzüglich um der Kinder willen, hoch anzuschlagen hatten.
Schon diese Annehmlichkeiten unserer neuen Wohnung minderten die mancherlei unangenehmen Gefühle, mit welchen wir Nürnberg verließen, um vieles, und nach dem, was wir zuvor schon Gutes von Nördlingen gehört hatten, durften wir hoffen, daß wir Nürnberg trotz seiner vielen Vorzüge vor Nördlingen je länger, je weniger vermissen würden. Diese Hoffnung hatte vorzüglich ich, denn außerdem, daß ich längst schon beinahe ein Fremdling in Nürnberg geworden war, indem ich[306] schon seit mehreren Jahren selten mehr eine größere Gesellschaft besuchte und mich fast allein auf den Umgang mit meinen nähern Freunden und Bekannten und auf den Betrieb meiner Geschäfte beschränkte, hatte auch die Veränderung meiner Lage selbst so viel Erfreuliches für mich, daß ich das Angenehme meiner frühern in Nürnberg leicht verschmerzen konnte, und ich darf wohl sagen, wirklich verschmerzte. Ich war mit meiner Familie zusammengeblieben, ich durfte nicht einsam und verlassen unter fremden Menschen leben, ich konnte der Liebe und Treue meiner Nürnberger Freunde gewiß sein wie sie der meinigen, ich hatte nicht mehr mit den Widerwärtigkeiten meines Berufs zu kämpfen, ich war aus einem Sklaven desselben ein freier Mann geworden, und den Rest meines größtenteils andern gewidmeten Lebens durfte ich mir selbst leben. Zwar war ich in Nürnberg sowohl als praktischer Arzt als auch als königlicher Staatsbeamter viel besser daran als alle meine Kollegen. Als praktischer Arzt war ich nicht an die Praxis gebunden, denn ich mußte nicht von ihr leben, ich konnte nach Muße praktizieren. Als Staatsbeamter genoß ich der mir als solchem gebührenden Achtung, und so war allerdings meine Lage viel glücklicher als die Lage aller meiner Mitärzte. Aber nichtsdestoweniger fand ich doch gar vieles, was mir nicht nur mein praktisches Leben, sondern auch meine amtliche Stelle verbitterte. Allen Widerwärtigkeiten war ich durch meinen Abgang von Nürnberg mit einemmal entgangen; ich konnte, nachdem ich Nürnberg im Rücken hatte, freier atmen, und schon in den ersten Tagen nach meiner Ankunft in Nördlingen ward es mir klar, daß ich durch die Veränderung meiner Lage mehr gewonnen als verloren hatte. Zwar entging mir durch den Verlust meiner Privatpraxis in Nürnberg ein nicht unbedeutender Teil meines Einkommens, allein bei meiner ansehnlichen Pension und bei meinen ungleich geringern Ausgaben in Nördlingen konnte ich jene Mehreinnahme leicht missen, ja, da ich mich überhaupt nicht aus Interesse in eine Privatpraxis in Nürnberg eingelassen hatte, so kommt jener Verlust an Einkommen in keinen Betracht gegen die Vorteile, welche ich mir von der Unabhängigkeit meiner Lage in Nördlingen[307] zu versprechen hatte und welche mir auch im reichen Maße zuteil wurden, wie die nun folgende Geschichte meines Aufenthalts daselbst ausführlicher zeigen wird.
In den ersten vierzehn Tagen hielt mich teils die Beschäftigung mit meiner häuslichen Einrichtung, teils das schlechte Wetter zu Hause. Allein sowie ich mit jener fertig und dieses besser geworden war, war mein erstes, mich in der Stadt umzusehen, in welcher ich künftig wohnen sollte, und ihre Umgegend kennenzulernen, von deren Schönheit und Fruchtbarkeit ich früher schon vieles gehört hatte. Von der Stadt, als einer ehemaligen Reichsstadt, versprach ich mir, wie leicht zu erachten, nicht sonderlich viel. Ich dachte mir sie als ein kleines Städtchen mit altväterischen Häusern, finstern und schmutzigen Straßen und noch schmutzigern Nebengäßchen. Allein ich fand alles viel besser. Die Stadt hat einen größern Umfang, als ich vermutete. Die Häuser sind größtenteils gut gebaut, mehrere wirklich schön, es gibt mehrere freie Plätze in der Stadt, die Hauptstraßen haben die gehörige Breite, nur das Pflaster könnte besser sein, auch sind mehrere Straßen, selbst Hauptstraßen, nicht gepflastert, sondern bloß chaussiert, daher bei schlechtem Wetter schmutzig und überdies nicht gehörig reingehalten. Dagegen zieht sich um die ganze Stadt ein bedeckter Gang, in welchem man auch bei dem schlechtesten Wetter spazierengehen kann. Die Stadt ist überall von Gärten umgeben, größtenteils jedoch von Baum- und Grasgärten, weil die Gemüse in dem leimigen Boden weniger gut geraten als das Obst. Schon diese vielen Gärten, die Gesundheit und Schönheit der Bäume und der üppige Graswuchs, besonders in dem Stadtgraben, machen die Umgebung der Stadt sehr anmutig; aber diese nächste Umgebung der Stadt kommt in keinen Vergleich mit der weiten, fruchtbaren und reich bevölkerten Ebene, auf welcher die Stadt liegt und welche an Schönheit auch den schönsten Gegenden in Deutschland nicht nachstehen würde, wenn es ihr nicht an Bäumen, zumal an kleinen Waldpartien, wodurch sie mehr Abwechselung, und an einem Fluß mit schönen Ufern fehlte, wodurch sie mehr Leben erhielte. Nach allen Richtungen hat man eine gleich schöne Aussicht schon von der[308] Ebene aus und noch mehr von den Anhöhen, zu welchen sie sich da und dort erhebt, vorzüglich aber von dem hohen Stadtkirchturm und dem Felsen in dem eine kleine Stunde von Nördlingen gelegenen Wallerstein, wo man beinahe das ganze Ries übersieht und schon mit bloßen Augen gegen hundert teils größere, teils kleinere Dörfer zählt. Von diesen Dörfern habe ich, sobald ich mich in der Stadt umgesehen hatte, mehrere besucht und gefunden, daß sie fast durchaus wohl gebaut, reich bevölkert und von fleißigen, heitern Menschen und, wie ich hörte, auch vielen wohlhabenden Familien bewohnt sind. Da ich jetzt mehr Zeit zu solchen Exkursionen hatte als in Nürnberg, so machte ich sie auch häufiger, und nie kehrte ich von einer zurück, ohne mich zu freuen, in einer Stadt zu leben, die zwar als Stadt Nürnberg weit nachsteht, aber in Rücksicht auf die Schönheit der Gegend, in welcher sie liegt, Nürnberg wenigstens gleichkommt.
Aber so wie überhaupt an jedem Ort in der Welt die Menschen das Interessanteste sind, so interessierten auch mich mehr als die Stadt und ihre Umgebungen die Menschen, mit denen ich an meinem neuen Aufenthaltsort leben sollte, und ich begann daher gleichzeitig mit der Besichtigung der Stadt meine Besuche, zuerst bei denjenigen Personen, die ich schon früher kannte, dann bei denen, die ich kennenzulernen wünschte, in der Hoffnung, bald in nähere Berührung mit ihnen zu kommen, indem einem geselligen Menschen nichts einen Ort, er sei welcher er will, angenehmer machen kann als die nähere Berührung, in welche er mit guten, verständigen und gebildeten Menschen kommt.
Der erste dieser Besuche war der, welchen ich dem fürstlich Wallersteinischen Domänendirektor Ritter in Wallerstein machte. Er war früher Hofintendant der verwitweten Herzogin Ludwig von Württenberg, und ich sah ihn zum erstenmal in dem Schloß Winnental vier Stunden von Ludwigsburg, dem Witwensitz der Herzogin, aus Gelegenheit einer Krankheit der Herzogin, deren Arzt ich schon in Ludwigsburg nach dem Tod ihres Gemahls gewesen war. Da ich dieselbe öfter besuchen mußte, so lernte ich auch ihren Intendanten näher kennen, ich[309] kam bald in ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm, und so lange wir uns auch nicht gesehen hatten, so erneuerte sich dasselbe sogleich bei unserem Wiedersehen in Wallerstein. Ich traf ihn in seinem freundlichen, wohl gebauten, trefflich eingerichteten Haus, besah den daran stoßenden Garten mit seiner niedlichen englischen Anlage, und bei einem Glas Nierensteiner erinnerten wir uns unserer frühern Bekanntschaft nicht nur auf das lebhafteste wieder, sondern es kamen auch einzelne Vorfälle zur Sprache, von welchen ich nur einen erzählen will und zu welchem ebenjene Krankheit der Herzogin Veranlassung gab. Die Herzogin lag bedeutend krank an einem Gallenfieber. Es war im Herbst, der Weg weit, das Wetter schlecht, die Reiseauslagen, die ich zu machen hatte, beliefen sich auf eine beträchtliche Summe, die Korrespondenz mit der Hofdame, die nicht deutsch konnte, mußte in französischer Sprache, in welcher ich ebensowenig gut schreiben, als ich sie fertig sprechen konnte, geführt werden. Nach einigen Wochen war die Herzogin glücklich wiederhergestellt, und es war natürlich, daß ich auch eine meinem Verdienst um sie angemessene Belohnung erwartete. Aber ich erhielt nicht mehr als hundert Reichstaler, eine Summe, von welcher beinahe schon ein Drittel für meine Auslagen abging, und mit dem Rest hielt ich mich für die Mühe, die ich mir mit ihr gab, für den Verlust der Zeit, die mir die vielen Besuche in Winnental wegnahmen, für die Versäumnisse in Ludwigsburg und die Beschwerlichkeit meiner französischen Korrespondenz für nichts weniger als fürstlich belohnt. Ich schrieb daher an Ritter, welcher mir auf Befehl der Herzogin jene Summe zugeschickt hatte, daß ich mit dieser unverhältnismäßigen Belohnung nicht zufrieden sein könne, daß zwar die Summe an sich nicht gering sei, daß aber auch wohlhabende bürgerliche Personen den Arzt nicht selten ebensogut bezahlten, daß die Reichen für die Armen bezahlen müssen, und daß die Frau Herzogin nicht vergessen dürfe, daß ich sie durch Herstellung von einer schweren lebensgefährlichen Krankheit aufs neue in den Besitz ihrer irdischen Herrlichkeit eingesetzt habe. Das war freilich eine große Impertinenz, und ich fürchtete, die Herzogin würde mir dieselbe nicht nur im[310] höchsten Grad übelnehmen, sondern auch bei dem Herzog sich über den impertinenten Arzt beschweren. Allein sie tat wenigstens das letztere nicht, und ohne sich über mein Benehmen zu äußern, ließ sie mir die oben angegebene Summe verdoppelt durch Ritter zustellen. Ritter erinnerte sich dieses Vorgangs noch ganz genau und versicherte mich, daß die Herzogin gewiß nicht aus Geiz mich so schlecht honorierte, sondern bloß, weil sie nicht gewußt habe, was sich in solchen Fällen gebühre, daß sie nichts weniger als geizig, sondern im Gegenteil sehr oft zu freigebig gewesen, während sie am unrechten Ort sparte. Mich freute diese Belehrung wegen ihres Geizes, von dem ich zu ihren Lebzeiten so viel sagen hörte, um so mehr, da sie wegen so vieler anderer guter Eigenschaften allgemein gerühmt wurde. – Wenige Tage nach meinem Besuch in Wallerstein machte mir Ritter seinen Gegenbesuch in Nördlingen, wo wir nicht minder vergnügt beisammen waren; aber eine Reise, die er in die Rheingegenden machte, unterbrach drei Monate lang unsere erneuerte Verbindung. Nach seiner Zurückkunft sahen wir uns sowohl in Nördlingen als in Wallerstein öfter, weil wir beide als pensionierte Beamte keine bindende Geschäfte mehr hatten, und immer war ich vergnügt in seiner Gesellschaft, nicht nur weil er ein ebenso gebildeter als gescheiter Mann ist, sondern auch weil er mir aus dem Schatz seiner Erfahrungen, besonders in betreff des württenbergischen Hofes, manches mitteilte, was ich zuvor nicht wußte.
Ein anderer alter Bekannter, den ich aufsuchte, war ein Baron von Welden, den ich bereits vor vielen Jahren in Ansbach kennengelernt hatte. Er war vormals eichstädtischer Beamter, nach dem Übergang des Fürstentums an Bayern wurde er pensioniert, lebte zuerst in Ansbach und zog dann nach Klein-Nördlingen, einem eine halbe Stunde von Nördlingen entfernten Dorf, wo er ein nicht unbedeutendes Anwesen besitzt. Auch mit ihm wieder zusammenzukommen war mir sehr erfreulich, denn er ist ein Mann von gesundem Verstand und dem besten Herzen, redlich, gefällig und zuvorkommend dienstfertig. – Nicht minder erfreulich war mir auch die erneuerte Bekanntschaft mit seiner Gemahlin, welche ich in Ansbach als Freundin[311] der Gräfin von Thürheim öfter als ihn zu sehen Gelegenheit hatte. Sie war damals eine der schönsten Frauen in Ansbach, und man sieht ihr noch wenig an, daß sie älter geworden. Auch besitzt sie noch dieselbe Lebendigkeit und Munterkeit, welche sie in Ansbach so liebenswürdig machten, und, was sich mit den Jahren noch weniger verliert als Schönheit, sie ist noch dieselbe geistreiche Frau, für die sie in Ansbach allgemein bekannt war. Sie hat eine noch unverheuratete Tochter bei sich, die, wenn sie auch ihrer Mutter an Schönheit nicht gleicht, doch durch ihren Verstand und ihre Bildung beweist, daß sie die Tochter einer solchen Mutter ist. Schon das Angenehme des Umgangs mit einer solchen Familie lockte mich öfter nach Klein-Nördlingen, aber auch der zunächst an dem Wohnhaus gelegene große und schöne Garten, ob ihn gleich der Besitzer an einen Wirt verpachtet und der Wirt ihn zu einem öffentlichen Gesellschaftsplatz gemacht hat, zog mich oft dahin, teils weil ich keinen Fehlgang machte, wenn die von Weldensche Familie nicht zu Hause war, teils weil der Garten groß genug ist, um sich von der größern Gesellschaft absondern zu können, wenn man allein sein will.
Außer den eben genannten fand ich sonst keine alte Bekannte, weder in der Stadt selbst noch in der Nachbarschaft, aber um so zahlreicher waren die neuen Bekanntschaften, die ich machte, und ich freute mich derselben um so mehr, da ich unter beiden Geschlechtern wirklich mehrere Personen fand, mit welchen ich in eine nähere Verbindung zu kommen wünschen konnte, als ich vermutete. Nächst unserem Hausherrn, dem Rat und Kaufmann Weimann, unserem nächsten Nachbar, zähle ich dazu von den Geistlichen der Stadt den Dekan Beck, die Stadtpfarrer Weng, Günther und Jordan und den katholischen Pfarrer Zipfel, dann den Landrichter Pölzl, den Rentbeamten von Ammon, den Bürgermeister Doppelmeier, die beiden Advokaten von Senger und Gös, den Rektor Hirschmann, den Subrektor von Löffelholz und den Landgerichtsarzt Böhm.
Die Geistlichen sind durchaus aufgeklärte Männer. Aber es würde zu weitläuftig sein, jeden der genannten Geistlichen[312] einzeln zu schildern, es ist genug, wenn ich sage, daß ich sie insgesamt als Männer kennenlernte, in deren Mitte zu leben jedem, der solche Männer zu schätzen weiß, erfreulich sein muß.
Ebenso enthalte ich mich auch einer nähern Schilderung unseres wackern Hausherrn Weimann, des sich in allem seinem Tun als einen sehr braven Mann darstellenden Landrichters Pölzl, des in der preußischen Schule gebildeten, geschäftsgewandten Rentbeamten von Ammon, des gutmütigen, redlichen und auch wegen seines Kunstsinnes achtbaren Bürgermeisters Doppelmeier, der beiden wegen ihrer Rechtlichkeit und Geschicklichkeit gleich geschätzten Advokaten von Senger und Gös, des sprachgelehrten wackern Rektors Hirschmann, des geschickten fleißigen und liebenswürdigen Subrektors von Löffelholz und noch mehrerer anderer; nur von meinem Kollegen, dem Landgerichtsarzt Böhm, muß ich einige Worte mehr sagen.
Er ist noch ein ganz junger Mann, und was mir mein Schwiegersohn, der ihn schon früher kennengelernt hatte, von ihm sagte, fand ich gleich bei der ersten Unterredung mit ihm vollkommen bestätigt. Nicht wie die meisten jüngern Ärzte geht er auf den Erwerb einer ausgebreiteten Praxis aus, er liest und studiert auch noch fleißig, und wie er schon von der Universität aus reich an wissenschaftlichen Kenntnissen war, so vermehrt er sie nicht nur durch seine fortgesetzten Studien noch täglich, sondern er weiß sie auch zu seiner weitern Ausbildung zum praktischen Arzt zu benutzen, was ihm um so besser gelingt, da er schon von Natur ausgezeichnete praktische Talente besitzt. Solche jüngere Ärzte, besonders wenn sie auch ein so einnehmendes Äußere haben wie er, gelangen bald zu einer ausgebreiteten Praxis, ohne daß sie nötig haben, dazu Wege einzuschlagen, die wie sie selbst auch den ärztlichen Stand entehren. Die Praxis macht sich bei ihnen von selbst, und wirklich ist Böhm sowohl in der Stadt als außerhalb derselben, selbst in weit entlegenen Ortschaften als Arzt und Chirurg, denn er ist auch ein gleich ausgezeichneter Chirurg, so gesucht und beliebt, daß er selten zu Hause zu treffen und, wenn es so fortgeht, zu[313] besorgen ist, er werde die Anstrengungen und Strapazen nicht in die Länge aushalten können. Aber nicht minder achtungswürdig als Arzt ist er auch als Mensch, indem man selten einen so teilnehmenden, gewissenhaften und uneigennützigen Arzt findet, als er ist.
Von den Damen, deren Bekanntschaft ich in Nördlingen machte, kann ich weniger sagen als von den Männern, teils weil man sie nicht so leicht und schnell kennenlernt als diese, teils weil sie mich als einen Greis von achtundsiebenzig Jahren nicht mehr in dem Grade interessierten als in meinen jüngern Jahren. Ich gefiel mir zwar immer noch wohl in ihrer Gesellschaft, zumal wenn ich mit geistreichen und gebildeten zusammenkam, auch hatte ihre Schönheit ihren Reiz noch nicht für mich verloren. Allein da ich in der letztern Zeit überhaupt seltener Gesellschaften besuchte, so kam ich noch seltener in Damengesellschaften, und ebenso selten besuchte ich sie auch zu Hause, teils weil mich die Besuche bei ihnen genierten, teils weil ich nicht eitel genug war, mir einzubilden, sie könnten an dem alten Mann noch einiges Interesse finden. Daher besuchte ich meistens bloß ältere Damen, und unter diesen interessierten mich vorzüglich die Frau von Bouwinghausen, die Rätin Kiderlin und ihre Tochter und die Frau des Dekans Beck, wiewohl auch bei ihnen meine Besuche nicht so häufig waren, als sie es zu wünschen schienen.
Die Frau von Bouwinghausen ist die Witwe eines alten Bekannten und Freundes von mir, des ehemaligen württenbergischen Landvogts von Bouwinghausen in Heilbronn am Neckar und des Sohnes eines württenbergischen Generals, dessen ich mich noch von der Akademie in Stuttgart her erinnere, da ich ihn öfter in Begleitung des Herzogs sah, bei welchem er in hohem Ansehen stand. Daher war mein erster Damenbesuch in Nördlingen der bei ihr. Sie muß in ihren jüngern Jahren sehr schön gewesen sein, denn auch noch jetzt gehört sie zu den schönen alten Frauen. Noch mehr aber als die Reste ihrer vormaligen Schönheit zog mich ihr würdiges und freundliches Benehmen, ihr gebildeter Verstand, ihre Welterfahrung und die Offenheit, mit welcher sie sich mitteilte, an, und je öfter ich sie[314] sah, desto mehr gewann sie meine Achtung und mein Zutrauen.
Nicht minder, ja ich möchte sagen, noch besser als die Frau von Bouwinghausen gefiel mir die Rätin Kiderlin. Sie ist eine Frau schon hoch in Jahren, seit mehreren Jahren Witwe, aber nicht minder geachtet in ihrem Witwenstand als zu Lebzeiten ihres Mannes, nicht wegen des Wohlstandes, in welchem sie lebt, sondern weil sie eine ebenso gute, artige und gefällige als verständige Frau ist. Schon bei dem ersten Besuch, den ich ihr machte, hatte ich mich davon überzeugt, und eben darum war sie auch eine von den Damen, deren Bekanntschaft ich vorzüglich zu kultivieren suchte. – Ein auf eine andere Art vorzügliches Frauenzimmer ist ihre Tochter. Sie ist nicht mehr jung, aber von einer angenehmen Bildung und von einer Heiterkeit, welche sogleich für sie einnimmt. Gutmütig und freundlich wie ihre Mutter, zeichnet sie sich noch besonders durch ihren hellen Verstand, ihr ebenso anständiges als munteres Betragen im Umgang aus, und was mir die Unterhaltung mit ihr besonders angenehm macht, ist, daß sie sehr bekannt mit meinem Vaterland ist und mehrere Freunde dort hat, die auch die meinigen sind.
Die Frau des Dekan Beck ist eine geborene Italienerin, aber eine wahrhaft deutsche Frau, ebenfalls schon bei Jahren und sehr achtungswürdig wegen ihres Verstandes, ihrer Häuslichkeit und überhaupt wegen ihrer weiblichen Tugenden, deren ihr keine fehlt. Sie gehört unter die vorzüglichsten Frauen in Nördlingen, sowie sie auch allgemein dafür anerkannt ist.
Außer den genannten lernte ich auch noch mehrere andere verständige, wackere häusliche und liebenswürdige Frauen wie vorzüglich die Frau des Advokaten von Senger, die liebste Freundin meiner Tochter, kennen sowie auch mehrere schöne Frauen wie die Landrichterin Pölzl und die Frau von Gruner und beider noch schönere Töchter.
Was das Nördlinger Volk im ganzen betrifft, so ist dasselbe wie überall auf Sinnengenuß gestellt, dabei aber gewerbsam und fleißig, wie es denn auch an keiner Art geschickter Professionisten in der Stadt fehlt. Als eine vormalige schwäbische[315] Reichsstadt ist sie auch jetzt mehr schwäbisch als bayerisch, nicht allein rücksichtlich der Sprache, sondern auch der Sitten. Das Volk ist gutmütig, höflich, dienstfertig, und daß es im ganzen auch wohlhabend ist, zeigt sich insbesondere auch darin, daß man sowohl in der Stadt als außerhalb derselben nicht soviel Bettler sieht als anderwärts, ob es schon in Nördlingen ebenso teuer zu leben ist als in Nürnberg. Allerdings gibt es auch in Nördlingen Arme genug, allein daß diese sich weniger als anderwärts auf Bettelei legen, kommt hauptsächlich von der hier eingeführten hohen Armentaxe her, welche ungleich größer ist als in vielen andern Städten. Indessen zahlt man die Armentaxe gern, weil nichts unangenehmer ist, als allenthalben von Bettlern angefallen zu werden, von denen man nicht weiß, ob sie des Almosens, welches man ihnen reicht, auch wert sind.
Ungleich drückender als die hohe Armentaxe ist die Teuerung der Lebensmittel in Nördlingen. Da Nördlingen in einer so fruchtbaren Gegend liegt, so sollte man eher das Gegenteil erwarten. Allein die Teuerung wird vorzüglich dadurch veranlaßt, daß so viele Viktualien in das Württenbergische ausgeführt werden und die württenbergischen Händler bei ihren Einkäufen nicht gehörig von der Polizei beaufsichtigt werden, die zwar das Gesetz aufgestellt hat, daß Fremde nicht eher einkaufen dürfen, als bis sich die Einheimischen mit ihrem Bedarf versehen haben, allein gleichgültig zusieht, daß viele einheimische Viktualienhändler auch für die fremden einkaufen, so daß ein großer Teil der auf den Markt gebrachten Viktualien schon verkauft ist, ehe der Markt anfängt. Dies ist der wahre Grund der Teuerung der Lebensmittel in Nördlingen, und daß der Magistrat, der ihn wohl kennt, zur Abstellung jenes Unfugs gleichwohl wenig oder gar nichts tut, kommt ohne Zweifel daher, daß er wie überhaupt die meisten Magistrate seine Popularität nicht verlieren will. Ebendiesem Mangel an Energie des Magistrats ist es auch zuzuschreiben, daß manche Lebensmittel wie z.B. das Brot und das Bier in einigen Wirtshäusern nicht von so guter Qualität sind, wie man sie anderwärts antrifft. Daher ist es in dem nur wenige Stunden von Nördlingen gelegenen Öttingen nicht nur wohlfeiler zu leben[316] als hier, sondern es sind auch manche Lebensmittel besser, so daß man, wenn man um denselben Preis besser leben will, sie von Öttingen kommen lassen muß, wie dies bei uns der Fall ist, die wir von Nürnberg her besser zu leben gewohnt sind, als man im allgemeinen in Nördlingen lebt.
Aber noch weit mehr als die Teuerung der Lebensmittel in Nördlingen fällt der Mangel an guten Unterrichtsanstalten, besonders für das weibliche Geschlecht, auf, welchem abzuhelfen längst eine Hauptangelegenheit des Magistrats hätte sein sollen. Bloß für die Knaben ist eine gute lateinische Schule und eine wohlbesorgte Gewerbsschule vorhanden, für die Mädchen besteht bloß eine ganz gewöhnliche Trivialschule, in welcher sie nichts als Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, zu einer höhern Bildung fehlt es nicht nur an einer öffentlichen Anstalt, sondern es können auch aus Mangel an Unterstützung keine Privatanstalten aufkommen, ja es können sich aus ebendiesem Grunde nicht einmal einzelne tüchtige Lehrer und Lehrerinnen halten. So sah sich z.B. der treffliche Musiklehrer Kindinger genötigt, sich um eine erledigte Kantorstelle in Nürnberg zu melden. So begab sich die in weiblichen Arbeiten ausgezeichnet geschickte Demoiselle Klara Beck, weil ihr eine verlangte kleine Unterstützung von dem Magistrat verweigert worden, nach Dinkelsbühl. So suchten noch andere gute Privatlehrer, um ein besseres Glück auswärts zu machen, von Nördlingen wegzukommen. Die Familien, die ihren Töchtern eine höhere Erziehung geben wollen, haben daher keine andere Wahl, als entweder kostspielige Gouvernantinnen zu halten oder sie in ein auswärtiges Erziehungsinstitut zu schicken wie z.B. in das in Wallerstein von einer Würzburgerin errichtete, welches zwar gelobt wird, aber, wie leicht zu erachten, dem Zweck ebensowenig entspricht als alle andere Institute dieser Art. Da wir eine Gouvernantin von Nürnberg mitgebracht hatten, so fühlten wir den Mangel an Anstalten für höhere Mädchenbildung zwar weniger, aber da die Gouvernantin nicht in allem, was die Kinder lernen sollten, Unterricht geben konnte, so konnte auch uns der Mangel an tüchtigen Privatlehrern nicht gleichgültig sein, und wie wohl wir uns auch sonst[317] in Nördlingen gefielen, so vermißten wir doch in dieser Rücksicht unsern vormaligen Aufenthalt in Nürnberg schmerzlich. Soviel ich hörte, ist dem Magistrat schon längst seine Saumseligkeit in betreff dieser wichtigen Angelegenheit zum Vorwurf gemacht worden, und auch ich habe mich darüber bei mehreren Gelegenheiten nachdrücklich ausgesprochen; allein er entschuldigt sich immer damit, daß die Stadt von den Kriegszeiten her noch so viele Schulden habe und daß diese erst bezahlt sein müssen, ehe für Verbesserung des Erziehungswesens wegen der großen Kosten, die sie erfordere, etwas Bedeutendes geschehen könne. Allerdings ein sehr triftiger Entschuldigungsgrund! Aber wenn Schuldenabzahlen etwas Löbliches ist, so ist die Verbesserung des Erziehungswesens etwas nicht minder Löbliches, und wenn der Magistrat glaubt, vor allem auf das Abzahlen der Stadtschulden bedacht sein zu müssen, so beweist er dadurch, daß er das materielle Interesse dem geistigen vorziehe, und wie kann sich wohl ein Magistrat dieses nachsagen lassen? Mit dem Schuldenzahlen hat es Zeit, und es ist nicht notwendig, daß man in einem Zeitraum von wenigen Jahren damit zustande komme, die Verbesserung des Unterrichts- und Erziehungswesens hingegen ist ein Bedürfnis, dessen Befriedigung nicht aufgeschoben werden darf, wenn die jetzige Generation nicht durch Vernachlässigung ihrer geistigen und sittlichen Bildung büßen soll, was die künftige an materiellem Wohlstand gewinnt, wenn die Stadt schuldenfrei ist. Ohne Zweifel kennt der Magistrat dieses Bedürfnis ebensogut und vielleicht noch besser als alle, die ihm abgeholfen zu sehen wünschen; allein wenn man ihm auch gern zugibt, daß es bisher an Mitteln zu seiner Befriedigung gefehlt habe, so kann ihn dies bloß entschuldigen, daß er bisher für die Verbesserung des Unterrichts- und Erziehungswesens nichts im großen getan hat, keineswegs aber auch darüber, daß er aus lauter Eifer, die Stadt schuldenfrei zu machen, gleichgültig zusieht, wenn von den vorhandenen tüchtigen Privatlehrern einer nach dem andern aus Mangel an Unterstützung die Stadt verläßt und kein fremder, gleich tüchtiger seine Stelle einzunehmen Lust hat. Daher sollte er vorderhand wenigstens dafür sorgen, daß es[318] in der Stadt nicht an tüchtigen Privatlehrern fehle. Glaubt er, sich auch dieser Sorge entschlagen zu dürfen, so erregt er den gerechten Verdacht, daß es ihm mehr um die kleinige Ersparung von einigen hundert Gulden für das städtische Ärar als um das Wohl der heranwachsenden Jugend zu tun sei, ein Verdacht, den ein Magistrat, der noch höhere Pflichten kennt, als die Stadt schuldenfrei zu machen, um so weniger auf sich sitzen lassen darf, da unverkennbar auch die sittliche Bildung der Nördlinger Jugend, wenigstens des männlichen Geschlechts, nicht minder vernachlässigt ist als die geistige.
Nach diesen die Stadtangelegenheiten betreffenden Bemerkungen kehre ich wieder zu meinen eigenen Angelegenheiten zurück. Da ich als Pensionär ganz Herr meiner Zeit war, so konnte ich auch einen größern Teil derselben als in Nürnberg dem geselligen Leben widmen, und so brachte ich denn meine meisten müßigen Stunden in dem Umgang mit meinen oben genannten neuen Freunden und Freundinnen zu. Sie waren mir alle sehr liebe Gesellschafter, indessen hielt ich mich doch am meisten an die Geistlichen, nicht weil ich diese für vorzüglichere Menschen hielt, sondern weil ich am liebsten mit solchen Männern umgehe, bei denen ich mehr allgemeine als bloß auf ein besonderes Fach beschränkte wissenschaftliche Bildung finde. Zwar gibt es auch unter den andern gelehrten Ständen Männer von allgemeiner wissenschaftlicher Bildung genug, aber im ganzen fand ich sie doch immer am häufigsten unter den Geistlichen. Daß sehr viele Juristen bloß in ihrem Corpus juris und in ihren Gesetzbüchern zu Hause sind, kann niemand leugnen, der sie über andere wissenschaftliche Gegenstände sprechen hört, und daß es auch mit vielen Ärzten nicht anders ist, kann ebensowenig in Abrede gestellt werden. Dies kann man von den Geistlichen nicht sagen. Es gibt zwar auch nicht wenig Geistliche, denen die allgemeine wissenschaftliche Bildung abgeht; allein im ganzen trifft man sie bei ihnen weit häufiger an, und wenn es vorzüglich diese allgemeine wissenschaftliche Bildung ist, was den Umgang zwischen Gelehrten angenehm macht, und daran ist wohl kein Zweifel, so ist es ganz natürlich, daß, wer selbst sich einer allgemeinen wissenschaftlichen Bildung[319] bewußt ist, sich am liebsten zu seinesgleichen hält, weil er nur bei ihnen findet, was er vorzüglich zu seiner gesellschaftlichen Unterhaltung verlangt. Solche Gelehrte finden sich nun am häufigsten unter den Geistlichen, und die Ursache ist hauptsächlich das Studium der Philosophie, welches von den Studiosen der Theologie fleißiger getrieben wird als von den Studiosen der Jurisprudenz und der Medizin. Soll aber das Studium der Philosophie den Studiosen der Theologie wirklich diesen Nutzen bringen, so müssen sie dasselbe auch als Pfarrer fortsetzen, aber bekanntlich tun dieses nicht alle und in unserer jetzigen Zeit noch weniger als früher. Entweder setzen sie es, nachdem sie Pfarrer geworden, aus Bequemlichkeit oder in der Meinung beiseite, jetzt es bloß noch mit der Bibel, der Dogmatik und dem Katechismus zu tun zu haben, oder sie geben ihre philosophischen Studien auf, teils weil sie selbst das theologische Lehrsystem für abgeschlossen und eine weitere philosophische Prüfung desselben für überflüssig halten, teils weil sie sich fürchten, von den Konsistorien, welche als die vom Staat aufgestellten Bewahrer desselben von amtswegen Widersacher der Philosophie sind, in das schwarze Register eingeschrieben zu werden. Nur wahrhaft protestantische Geistliche, d.h. solche, die auch ein Fortschreiten in der Theologie für möglich und nützlich halten, fahren in ihren philosophischen Studien fort, weil sie einsehen, daß nur die Philosophie Licht in die Theologie bringen kann, und diese sind es, von denen ich spreche, wenn ich sage, daß ich lieber mit Geistlichen umgehe als mit Juristen und Medizinern, wenn sie nichts weiter sind als Juristen und Mediziner. Freilich sind Geistliche dieser Art jetzt nicht mehr so häufig als zu Ende des vorigen Jahrhunderts, wo das freie Denken in Religionssachen nicht so verpönt war wie jetzt. Aber es gibt ihrer doch noch viele, die sich ebensowenig von einem Konsistorium, welches das Luthertum, wie es sich in den ersten Zeiten nach Luther gestaltet, stabilzumachen suchen, abschrecken lassen, als sie sich einem Konsistorium zu Gefallen zum Mystizismus bekennen, der in der Religion eben das ist, was die Homöopathie in der Medizin, ein Schandmal unseres Zeitalters. Soweit ich unsere Nördlinger Geistliche[320] und auch einige vom Lande kenne, gehört keiner weder zu den verknöcherten starren Lutheranern noch zu den wahnsinnigen oder heuchlerischen Mystikern. Sie sind insgesamt aufgeklärte Männer und, was mit echter Aufklärung unzertrennlich verbunden ist, auch rechtschaffene Männer, und der Umgang mit ihnen gehört nächst dem Umgang mit meinem Kollegen Böhm, dessen ich mich wegen seiner vielen Geschäfte, die ihn dem geselligen Umgang entziehen, leider zu selten erfreue, unter die vorzüglichsten Annehmlichkeiten meines Aufenthalts in Nördlingen.
Da ich nach meinem Abgang in Nürnberg aller ärztlichen Praxis entsagt habe, so erwartet man vielleicht, daß ich die dadurch erhaltene Muße nicht bloß zum Studieren und Lesen, denn man wird mir zutrauen, daß ich in Nördlingen kein Müßiggänger geworden, und zum geselligen Umgang und bei guter Witterung zu Spaziergängen in der schönen Umgegend von Nördlingen, sondern auch zu schriftstellerischen Arbeiten benutzt haben werde. Allein was hätte ich schreiben sollen? Ein philosophisches Werk, da ich so großen Philosophen wie Kant, Fichte, Schelling etc. bloß nach-, nicht gleichdenken konnte? Ein historisches, da ich so treffliche Historiker wie Raumer, Rotteck, Schneller etc. auch nicht von ferne zu erreichen hoffen durfte? Oder was hätte ich als Arzt schreiben sollen? Etwa ein Enchiridion, in welchem ich das Resultat meiner Praxis als ein Vermächtnis niedergelegt hätte wie Hufeland, dessen praktisches Leben viel reicher war als das meinige? Oder ein Handbuch der praktischen Heilkunde, eine Iliade nach dem Homer, nachdem uns Neumann mit seiner speziellen Pathologie und Therapie beschenkt hat? Oder endlich gar eine neue Theorie der Medizin, die, auch abgesehen, daß wir der Theorien ohnehin schon zu viel haben, zu nichts gedient hätte als zum Beweis, daß Theoretisieren nicht meine Sache sei? – Indessen habe ich doch eine schriftstellerische Arbeit unternommen, eine Arbeit, welche ich schon seit einigen Jahren vorhatte; ich fing an, eine Geschichte meines Lebens zu schreiben, und sie soll auch das einzige sein, was ich noch schreiben werde. Schon in Nürnberg hatte ich die Materialien dazu gesammelt und geordnet,[321] und so konnte ich dann gleich nach meiner Ankunft in Nördlingen die Arbeit beginnen. Ich weiß wohl, daß ich nicht zu den Männern gehöre, deren Lebensgeschichte von besonderem Interesse ist. Ich kann weder als Mensch noch als Arzt etwas von mir sagen, was nicht auch andere Menschen und Ärzte von sich sagen können. Allein außerdem, daß ich in manche Verhältnisse gekommen bin, in welche hundert andere nicht kommen, glaube ich, meine Selbstbiographie dürfte auch deswegen nicht ganz uninteressant sein, weil sie durchaus die Spuren einer genauen Selbstbeobachtung, einer aufrichtigen Wahrheitsliebe und einer treuen Darstellung meiner Ansichten über allerlei Gegenstände tragen wird, welche nicht jeder Selbstbiograph so offen aussprechen würde, wie ich es getan habe. Überdies schreibe ich sie viel mehr für mich selbst und für meine Freunde als für das Publikum, und was mich vorzüglich bewog, sie zu schreiben, weil sie mir zu einer lebendigern Erinnerung an mein vergangenes Leben dienen sollte, auf welches ich zwar nicht mit voller Selbstzufriedenheit, doch ohne vieles bereuen zu müssen, zurücksehen kann. Wirklich blieb auch meine Absicht nicht unerreicht. Mein ganzes Leben von meiner frühesten Kindheit an stellte sich mir auf das lebhafteste dar, ich durchlebte es gleichsam wieder von vorn, und ob ich mich gleich des Unerfreulichen nicht minder lebhaft erinnerte als des Erfreulichen, so war doch beides vorüber, und ich konnte das Andenken an das Erfreuliche um so fester halten, da man das Unerfreuliche ohnehin leichter vergißt als das Erfreuliche. Vor allem war mir die Erinnerung an meine Kinderjahre ein köstlicher Genuß, ebenso auch die Erinnerung an meine Jünglingsjahre, die ich in der Akademie in Stuttgart in der Mitte so vieler lieben Freunde zubrachte, und wenn ich bei der Darstellung meiner männlichen Lebensperiode auf gar manches kam, was mir die Rückerinnerung an sie weniger erfreulich macht als an die schöne heitere Jugendzeit, so hatte ich doch das Unangenehme und Widrige ertragen, und der Gedanke, es mit Mut und Geduld ertragen zu haben, verwandelte das unangenehme Gefühl in ein angenehmes. Überhaupt war ich bei keiner meiner schriftstellerischen Arbeiten vergnügter und aufgelegter als bei[322] dieser. Ich konnte sie fortsetzen, sooft ich wollte, und wenn ich ihr auch mehrere Stunden gewidmet hatte, so war sie mir doch nie so entleidet, daß ich abbrechen mußte. Daher verging auch nicht leicht ein Tag, an dem ich sie aussetzte; ich setzte sie entweder fort oder revidierte wenigstens das bereits Fertiggewordene, und so rückte sie denn stets weiter vorwärts, und ich konnte hoffen, sie bald vollendet zu sehen.
Neben dieser steten Fortsetzung meiner Biographie widmete ich auch einen Teil meiner Muße meiner Korrespondenz, welche in Nördlingen häufiger war als in Nürnberg und überhaupt an allen Orten, wo ich früher gelebt hatte. Ich war nämlich von jeher nie ein fleißiger Briefsteller gewesen, bloß meine Geschäftsbriefe, deren ich als praktischer Arzt allerdings nicht wenige zu schreiben hatte, fertigte ich sogleich, und wenn die Fälle, wo ich wegen Kranker um Rat gefragt wurde, dringend waren, beantwortete ich die Briefe mit umgehender Post. Dagegen war ich um so saumseliger in Beantwortung der freundschaftlichen Briefe, und Höflichkeitsbriefe beantwortete ich entweder gar nicht, oder ich verschob die Antwort so lange, daß ich mich schämte, sie nachzuholen, und so hörte denn diese Art von Korrespondenz zuletzt beinahe ganz auf. In Nördlingen hingegen, wo ich, weil ich nicht mehr praktizierte, weniger Geschäftsbriefe zuschrei ben hatte, konnte ich mehr Zeit meiner freundschaftlichen Korrespondenz widmen, und dies tat ich auch wirklich. Am häufigsten jedoch korrespondierte ich mit meiner schon früher genannten Freundin in Nürnberg, dem Fräulein Bertha von Kretschmann. Unsere Korrespondenz betraf meistens philosophische, pädagogische und religiöse Gegenstände, und man kann sich denken, wie interessant mir der Ideenwechsel über solche Gegenstände mit einem Frauenzimmer war, welches ich zu den geistreichsten und gebildetsten zähle, die mir in meinem Leben vorgekommen.
Es würde nicht am rechten Orte sein, wenn ich alles, was wir uns über jene Gegenstände, und noch weniger, was wir uns über minder wichtige Dinge schrieben, hier mitteilen wollte. Ich liebe überhaupt die Briefwechsel nicht, wo sich die Freunde, zumal wenn sie an dem nämlichen Ort wohnen, jede Kleinigkeit[323] schriftlich mitteilen. Nur Ideen und Empfindungen wichtiger Art, wenn sie sogleich zu Papier gebracht und dem Freunde gleichsam noch warm mitgeteilt werden, verdienen eine schriftliche Mitteilung. Nachrichten hingegen, wie man geschlafen habe, wie man sich befinde, was man den Tag über getrieben und getan habe, was man am folgenden Tag tun oder treiben wolle, sind der schriftlichen Mitteilung nicht wert, und wenn man sie gar drucken läßt, so ist es ein Beweis von Eitelkeit, weil man dadurch verrät, daß man sich einbilde, es sei auch interessant für die Welt zu wissen, wie ein berühmter Mann seine Halsbinde anzieht. Eine solche Korrespondenz habe ich mit meiner Freundin nicht geführt. Es waren lauter wichtige Gegenstände, über welche wir uns unsere Ideen mitteilten, und wenn eine Korrespondenz dieser Art schon an sich interessant ist, so wird sie noch ungleich interessanter als Korrespondenz mit einem geistreichen selbstdenkenden Frauenzimmer, dessen Ansichten immer etwas Originelles haben, den denkenden Mann auf eine eigene Art ansprechen und ihn zu einer mehrseitigen Entwickelung seiner eigenen anregen.
Es ist leicht zu erachten, daß in einer so kleinen Stadt wie Nördlingen selten etwas vorkommt, was die allgemeine Aufmerksamkeit der Einwohnerschaft erregt und in lebendigere Bewegung setzt, wie dies in größern Städten der Fall ist. Es ist kein fürstlicher Hof dort, an dessen Festivitäten das Volk teilnehmen könnte. Es gibt keine Merkwürdigkeiten dort zu sehen, die Fremde herbeiziehen. Es existiert dort kein stehendes Theater, nur zuweilen findet sich eine wandernde Schauspielergesellschaft ein, die einige Wochen hindurch spielt. Es gibt keine große öffentliche Gesellschaftshäuser, wo Bälle, Maskeraden, große Gastmähler gehalten werden könnten, und was dergleichen Gelegenheiten zu allgemeinen Ergötzlichkeiten mehr sind. So geht das Leben in Nördlingen stets seinen gewöhnlichen Gang fort; nur die große Nördlinger Messe erregt mehr Regsamkeit und Bewegung in der Stadt. Diese Messe nämlich ist die einzige im Jahr und dauert vierzehn Tage. Sie fällt in das Ende des Monats Mai, beginnt an einem Samstag präzis mittags um zwölf Uhr, und so hört sie auch am Samstage[324] präzis um zwölf Uhr auf. Sie ist eine der besuchtesten Messen in Bayern, auch von weit entfernten Orten kommen Verkäufer und Käufer herbei, der Marktplatz, andere freie Plätze, mehrere Hauptstraßen sind mit Buden besetzt, vor allem aber ein großer geräumiger Boden, das Paradies genannt. Am besuchtesten ist die Messe am zweiten Sonntag, und wie auf dem Markt, wimmelt es auch in den Wirtshäusern von Menschen. Gleichwohl wird nicht soviel verkauft, als man glauben sollte. Der größte Teil der Besuchenden besucht die Messe mehr, um sich zu vergnügen, als um einzukaufen, und daß es nicht an Gelegenheit, sich zu vergnügen, fehlt, beweisen die vielen Tanzbelustigungen, welche fast in allen Wirtshäusern stattfinden, und zumal in der Nacht vom letzten Freitag auf den letzten Samstag, wo auch die meisten Dienstboten teilnehmen. Sonst sollen die Messen noch besuchter gewesen sein als jetzt, es sollen sich weit mehr fremde Kaufleute auf denselben eingefunden haben, und so soll auch mehr gekauft worden sein. Da die Messe die einzige im Jahr ist, so sollte man denken, es müßten auch mehr Geschäfte gemacht werden; allein daß dies nicht geschieht, kommt teils daher, daß jetzt weniger Geld unter den Leuten ist, weil sie sich von den langen Kriegszeiten her noch nicht ganz erholt haben, teils daher, daß die Messe zu lange dauert. Sie sollte nur eine Woche lang dauern, dagegen sollten jährlich zwei sein, die eine im Frühjahr, die andere im Herbst. Ist nur eine Messe im Jahr, so müssen die Käufer sich mit den Waren, die sie auf der Messe kaufen, auf ein ganzes Jahr versehen, und dazu fehlt es den meisten an Geld, und was die Verkäufer betrifft, so dauert für sie die Messe zu lang, weil ein zweiwöchentlicher Aufenthalt an einem Ort, wo es so teuer zu leben ist wie in Nördlingen und wo sie ein so großes Standgeld bezahlen müssen, zu kostspielig ist. Daher nimmt die Zahl der Kaufleute, welche die Messe beziehen, mit jedem Jahr ab, und die sich einfinden, klagen mit Recht über den geringen Gewinn, den ihnen die Messe bringe. Dieser Klage würde am besten abzuhelfen sein, wenn, wie schon gesagt, statt einer zwei, jede nur eine Woche lang dauernd, eingeführt würden. Auch der Magistrat soll, wie man gesagt,[325] längst zu dieser Abänderung geneigt gewesen sein, und er würde sie wirklich auch schon getroffen haben, wenn nicht, sooft die Sache zur Sprache kam, die einheimischen Kaufleute aus leicht zu erachtenden Gründen dagegen protestiert hätten.
Man könnte denken, der Mangel an öffentlichen Lustbarkeiten in Nördlingen, an denen Nürnberg so reich ist, werde uns öfters an unsern Aufenthalt in Nürnberg schmerzlich erinnern. Allein dies war keineswegs der Fall. Erstlich konnten wir jene Lustbarkeiten leicht missen, weil wir nie einen großen Anteil daran genommen hatten. Wir besuchten selten das Theater, wohnten selten einem Konzert oder Ball bei, machten nur zuweilen eine Partie auf die alte Veste, fuhren nur zuweilen auf der Eisenbahn, und was mich insbesondere betrifft, so besuchte ich selbst das Volksfest in den vielen Jahren, seit es besteht, überhaupt nur dreimal. Was wir vermißten, waren die vielen Freunde, die wir in Nürnberg zurückließen, zumal im Anfang, wo wir noch ganz fremd in Nördlingen waren und noch keine Bekanntschaften gemacht hatten, die uns den Verlust hätten ersetzen können. Insbesondere war dies der Fall bei meiner Tochter, welcher die Trennung von ihren Freundinnen um so schwerer fiel, je fester sie sich an einige derselben angeschlossen hatte. Allein auch sie fand sich bald in ihre neue Lage, da sie in Nördlingen mehrere Frauen kennenlernte, mit welchen eine nähere Verbindung ihr wünschenswert war, und schon in den ersten Wochen diesen Wunsch erfüllt sah, indem der größte Teil derselben ihr mit Wohlwollen entgegenkam.
Zweitens hatten wir zwar durch unsern Abzug von Nürnberg außer dem Umgang mit unsern Freunden auch noch vieles andere verloren, was wir in Nördlingen nicht fanden und was nur eine größere Stadt gewähren kann, wie der stets vorhandene Vorrat aller zur Befriedigung jeder Art von Lebensbedürfnissen erforderlichen Mittel, die mancherlei Gelegenheiten zu literarischen Unterhaltungen und Beschäftigungen, zu Kunstgenüssen aller Art usw. Allein wir fanden uns in Nördlingen dafür von einer andern Seite entschädigt, mein Schwiegersohn durch ein besseres Einkommen und eine angenehmere[326] dienstliche Stellung, meine Tochter durch das vermehrte Ansehen in der kleinern Stadt, durch die Ersparnisse, welche sie, jetzt weniger zu Luxusausgaben aufgefordert, machen konnte, und durch Verminderung ihrer Haushaltungssorgen und ich durch meine Versetzung in den Ruhestand, die mich zu meinem eigenen Herrn machte, mich allen Unannehmlichkeiten meines Amtes und allen Mühseligkeiten meiner Praxis enthoben und mich in den Stand gesetzt hatte, die letzten Jahre meines Lebens mir selbst zu leben. Ich konnte nun tun und treiben, was ich wollte, ich konnte die Gegenstände meiner Studien ganz nach meiner Neigung wählen, ich wurde nicht mehr von denselben zur Unzeit abgerufen, und, was eine Hauptsache ist, ich durfte, wenn ich zu meiner Erholung oder zu einem andern Zweck eine Reise machen wollte, um keinen Urlaub mehr bitten.
Daß ich mir alle diese Vorteile auf alle Weise zu Nutzen gemacht habe, kann man sich leicht denken. Mit keiner ärztlichen Praxis mehr befaßt, las ich jetzt nur solche medizinische Schriften, von welchen ich mehr Licht in der Physiologie erwartete; dagegen aber las und studierte ich um so fleißiger philosophische und historische Werke, teils die ältern, die ich schon früher gelesen und studiert hatte, wie unter den erstern Kants, Garves etc. und unter den letztern Gibbons, Humes, Robertsons etc., teils neuere, wie unter jenen besonders Heinroths Schriften und unter diesen vorzüglich Raumers klassische Geschichte des neuern Europa.
Das Studium dieser und anderer vorzüglicher philosophischer und historischer Werke war der Gegenstand meiner täglichen Beschäftigung, und wenn ich es unterbrach, so geschah es nur durch eine Reise entweder in mein Vaterland oder anderswohin, wodurch ich neben dem Hauptzweck auch den erreichte, daß mir meine Studien um so lieber wurden, je länger ich sie unterbrochen hatte.
So reiste ich schon einige Wochen nach meiner Ankunft in Nördlingen in mein Vaterland, und man kann sich denken, daß ich diese Reise mit ganz andern Gefühlen machte als alle meine frühern. Schon daß ich nicht mehr um Urlaub bitten mußte, machte, daß ich die Reise viel heiterer antrat als sonst, und[327] der Gedanke, in meinem Vaterland bleiben zu können, so lange ich wollte, ließ mich nicht schon bei der Hinreise auf die Rückreise denken. Ich nahm keine Sorgen weder wegen zurückgelassener oder meine Hülfe in Anspruch nehmender neuer Kranken noch wegen Versäumnis amtlicher Geschäfte mit mir auf die Reise. Das Vergnügen, meine Anverwandte und Freunde wiederzusehen, wurde nicht durch den Gedanken, noch ehe ich ihrer recht froh geworden, wieder von ihnen scheiden zu müssen, getrübt, und wenn ich bei meinen frühern Reisen sie gleichsam nur im Vorübergehen gesehen hatte, so konnte ich jetzt wieder auf längere Zeit mit ihnen zusammenleben, so wie ich eben wegen des längern Aufenthalts in den mir in meinen jüngern Jahren so lieb gewordenen Städten Stuttgart und Ludwigsburg aufs neue wieder einheimisch werden konnte.
In diesen freudigen Gefühlen rüstete ich mich nun zu meiner vorhabenden Reise, ehe ich aber das Nähere von derselben erzähle, muß ich erst eines Besuchs erwähnen, welchen wir von dem Bruder meines Schwiegersohns, dem Oberpostamtssekretär Hänlein von Nürnberg, erhielten. Schon bei unserer Abreise von Nürnberg hatte er versprochen, uns ehestens in Nördlingen zu besuchen, und man kann sich denken, wie erfreut wir waren, diesen in jeder Beziehung trefflichen jungen Mann in unserer Mitte zu sehen. Er verweilte nur acht Tage bei uns, und da dieser kurze Aufenthalt nicht gestattete, ihn in dem schönen Ries überall hinzuführen, wo etwas Interessantes für ihn zu sehen war, so suchten wir ihn dafür durch die Beweise von Liebe und Dankbarkeit zu entschädigen, die wir ihm gaben und auf die er sich besonders in den letzten Tagen unseres Aufenthalts in Nürnberg, wo er beinahe alles, was zu unserem Abzug nötig war, ebenso eifrig als verständig besorgte, den größten Anspruch zu machen hatte. Daß er mit seinem Besuch bei uns zufrieden war, zeigte uns seine ungetrübte Heiterkeit während desselben und der Schmerz, mit dem er uns verließ und welcher ihm und uns nur durch das gegenseitige Versprechen erleichtert wurde, daß wir uns bald wiedersehen würden.
Gleich nach der Abreise dieses lieben Gastes trat ich in Begleitung einer meiner Enkelinnen die Reise in mein Vaterland[328] an. Ich machte wie die zwei letztern auch diese auf dem Eilwagen, fuhr aber nicht bis nach Stuttgart, sondern stieg schon in Cannstatt ab, um mich zu meinen noch lebenden zwei Schwestern in Untertürkheim, einem eine kleine Stunde von Cannstatt entfernten Dorfe, zu begeben. Hier sollte nämlich mein fixer Aufenthalt sein, von Untertürkheim aus wollte ich meine Exkursion nach Cannstatt, Stuttgart und Ludwigsburg machen, und weil ich diesmal länger im Vaterland verweilen wollte und mir vorgenommen hatte, mich zwischenhinein mit verschiedenen literarischen Gegenständen zu beschäftigen, wozu mir besonders die Nähe von Stuttgart die mir in Nördlingen mangelnden Hülfsmittel darbot, so war auch in dieser Rücksicht Untertürkheim der schicklichste Ort, welchen ich zu meinem fixen Aufenthalt wählen konnte.
Schon einige Tage vor meiner Abreise von Nördlingen hatte ich meinen Schwestern meinen Besuch bei ihnen angekündigt, und wie sonst immer glaubte ich auch diesmal alles zu meiner Aufnahme hergerichtet zu finden. Ich fuhr daher von Cannstatt, wo ich den Eilwagen verließ, sogleich mit einem Lohnkutscher nach Untertürkheim. Meine Schwestern empfingen mich auf das herzlichste, aber sie überraschten mich zugleich mit der Erklärung, daß sie mich nicht bei sich aufnehmen können, weil sie am Tag vor Empfang meines Briefes ihr Haus verkauft hätten und mit Räumung desselben beschäftigt seien, daß sie sich aber in Cannstatt um eine Wohnung für mich umgesehen und daß der Oberamtsrichter daselbst, der Oberjustizrat Cleß, an welchen sie sich deshalb als an einen nahen Anverwandten und einen alten, lieben Freund von mir gewendet, sich erboten habe, mich in seinem eigenen Hause aufzunehmen und mich, solange ich wollte, zu beherbergen. Auf diese Nachricht fuhr ich sogleich von Untertürkheim zurück nach Cannstatt, stieg im Hause des Oberjustizrats ab und wurde von ihm und seiner Familie als ein willkommener Gast empfangen. Nun konnte ich zwar wie von Untertürkheim auch von Cannstatt aus meine Exkursionen nach Stuttgart und Ludwigsburg machen, auch gab mir die Cleßische Familie auf alle Weise zu erkennen, daß ich ihnen ein ebenso lieber Gast sei, als ich meinen Schwestern[329] gewesen wäre; allein ich verweilte nur zehn Tage in Cannstatt, weil ich von dem Bruder des Oberjustizrats, dem Obermedizinalassessor Cleß, nach Stuttgart eingeladen ward und dieser Einladung um so lieber folgte, da ich nicht nur, sooft ich nach dem Tod meiner Eltern in Stuttgart gewesen, immer bei ihm gewohnt hatte, sondern auch wegen des Vorfalls in Untertürkheim nicht so lange im Vaterland bleiben wollte, als ich anfangs willens war.
Wie von seinem Bruder in Cannstatt wurde ich auch von ihm auf das freundlichste aufgenommen, und ich war ihm um so willkommener, da sein ältester Sohn, der im Frühjahr seine medizinischen Studien vollendet und die Doktorwürde erhalten, ein paar Tage zuvor seine gelehrte Reise nach Paris angetreten hatte. Allein auch in Stuttgart verweilte ich nur zehn Tage, und weil ich meinen Schwager, den Hofprediger Harpprecht in Ludwigsburg, schon in Cannstatt, wo er das Bad gebrauchte, täglich gesehen und daher keine Veranlassung hatte, auch in Ludwigsburg längere Zeit zu verweilen, so beschloß ich, meinen Aufenthalt im Vaterland überhaupt abzukürzen, und nach nicht vollen drei Wochen reiste ich von Stuttgart aus wieder nach Nördlingen zurück.
Solchergestalt hatte ich nun freilich meinen Plan, eine längere Zeit im Vaterland zu bleiben, für diesmal nicht ausgeführt; allein meine Hauptabsicht hatte ich darum nicht verfehlt. Ich hatte alle meine Freunde in Cannstatt, Stuttgart und Ludwigsburg wiedergesehen, ich hatte höchst vergnügt mit ihnen zusammen gelebt, ich hatte einige neue interessante Bekanntschaften gemacht, ich hatte alle die Plätze besucht, wo so viele teure Erinnerungen an mein früheres Leben wieder lebendig in mir wurden, ich hatte auf dem Gottesacker in Stuttgart meine dort ruhenden Eltern und Geschwister und alle vor mir hingegangenen Freunde herzlich gegrüßt, und so konnte ich denn, auch mit meinem diesmaligen Aufenthalt im lieben Vaterland ganz zufrieden, wieder nach Nördlingen zurückkehren.
Ungeachtet ich seit meiner Versetzung in den Ruhestand nichts mehr mit Krankenanstalten zu tun hatte, so interessierte[330] mich doch das Krankenhaus in Stuttgart zu sehr, als daß ich es auch diesmal zu besuchen hätte unterlassen können. Es gehört unter die vorzüglichsten Krankenhäuser, die ich kenne, und wenn ich es wegen seiner in jeder Hinsicht trefflichen Einrichtung höchlich preisen muß, so muß ich auch zum Ruhm der an demselben angestellten Ärzte, vorzüglich aber des ersten von ihnen, meines Freundes und Wirtes Cleß, sagen, daß schwerlich ein öffentliches Krankenhaus so besorgt ist als dieses Stuttgarter. Es ist eine wahre Freude, in demselben herumzuwandeln, die überall herrschende Ordnung und Reinlichkeit wahrzunehmen und den wie in seinem Element darin lebenden Cleß handeln zu sehen. Ein solches Krankenhaus sollte nach meinem Plan das Nürnberger werden; aber das Schicksal hat es nicht gewollt, mein Plan ist wenigstens bis jetzt unausgeführt geblieben, und ich kann mich bloß freuen, daß eines in Stuttgart, meiner Vaterstadt, existiert, welches meiner Idee von einem Krankenhaus, wie es sein soll, entspricht.
Von den vielen Freunden, welche ich sonst bei meinen Besuchen im Vaterland antraf, leben sehr wenige mehr; die noch lebenden und während meines Aufenthalts anwesenden habe ich alle besucht und mit ihnen insgesamt die vergnügtesten Stunden zugebracht. Von ihnen nenne ich vorzüglich den Medizinalrat und vormaligen Stadtphysikus Plieninger, den pensionierten Oberamtmann Seubert, den pensionierten General der Infanterie von Phull, die verwitwete Frau von Notter und ihre Tochter, die gleichfalls verwitwete Ministerin von Weishaar und den Minister des Innern, den Geheimenrat von Schlayer. Die drei ersten gehörten schon als meine Mitzöglinge in der vormaligen Karls-Akademie in Stuttgart zu meinen liebsten Freunden, und wie überhaupt Jugendfreundschaften sich am festesten knüpfen, so war dies auch der Fall bei uns. Wir sind nun alle hochbejahrte Männer, aber wir lieben uns noch ebenso warm, als wir uns als Zöglinge der Akademie liebten, und daher war es auch diesmal ein hoher Genuß für mich, sie wiederzusehen. – Die Frau von Notter, die ich schon als ganz junges Mädchen kennenlernte, war mir auch als Frau wegen ihrer reinen, selten in einem so hohen Grade wahrzunehmenden[331] Weiblichkeit sehr lieb, und auch als ich sie diesmal wiedersah, hatte ich die Freude, mich zu überzeugen, daß sie wie ihre Tochter mich noch immer zu ihren liebsten Freunden zähle.
Mit dem Geheimenrat von Schlayer bin ich erst vor zwei Jahren, und zwar aus einem glücklichen Irrtum, bekannt geworden. Ich wollte nämlich einen Besuch bei dem Kriegsminister, dem General von Hügel, machen, kam aber statt in das Kriegsministerium in das Ministerium des Innern. Ich ließ mich bei dem Minister durch einen Kanzleidiener melden, welcher mich einstweilen, bis der Minister zu sprechen sein würde, in das Wartzimmer führte. Hier wartete ich nun beinahe eine halbe Stunde, ohne daß ein Kanzleidiener wiederkam, die Zeit fing mir an lang zu werden, ich wollte mich wieder entfernen, allein in dem Augenblick, da ich die Treppe hinuntergehen wollte, öffnete sich eine Türe, aus welcher der Professor Pahl, welchen ich am Tag zuvor im Badgarten in Cannstatt gesehen hatte, heraustrat, begleitet von einem jungen Mann, welchen ich für einen Sekretär des Kriegsministers hielt. Ich bat ihn, mich zu dem Minister zu führen, allein der junge Mann war kein Sekretär des Kriegsministers, es war der Minister des Innern, der Geheimerat von Schlayer. Ich wollte mich wegen meines Irrtums entschuldigen, aber wie ich freute auch er sich des Irrtums. Er nahm mich freundlich bei der Hand, führte mich in sein Arbeitszimmer und benahm sich so wohlwollend gegen mich, als ob wir schon längst die besten Freunde wären. Ich verweilte beinahe eine Stunde bei ihm, und beim Abschied mußte ich versprechen, ihn zu besuchen, sooft ich nach Stuttgart käme. Im folgenden Jahr machte ich zwar wieder eine Reise nach Stuttgart, aber ich besuchte ihn nicht, weil er wegen des damaligen Landtages zu beschäftigt war, ich sah ihn bloß in einer Sitzung der Ständeversammlung, welcher ich beiwohnte und in welcher ich ihn mit Bewunderung seines ebenso ausgezeichneten Rednertalents als seiner tiefen Kenntnisse, die er in dieser wichtigen Sitzung an den Tag legte, sprechen hörte. Wie leid es mir tat, meine Bekanntschaft mit diesem trefflichen Mann diesmal nicht erneuern zu können, kann man sich denken. Um so mehr freute ich mich auf meinen Besuch in Stuttgart im nächsten[332] Jahr, wo ich ihn minder beschäftigt anzutreffen hoffte. Allein ich durfte nicht so lange warten. Schon in demselben Jahr machte er nach Beendigung des Landtages eine Erholungsreise und überraschte mich auf eine ebenso erfreuliche als unerwartete Weise mit einem Besuch in Nürnberg, wo er zwei Tage lang verweilte. Er war zuvor nie in Nürnberg gewesen, und ich brauche nicht zu sagen, daß ich alles tat, was mir möglich war, um ihm seinen Aufenthalt daselbst angenehm zu machen. Mit Vergnügen sah er alles, was diese alte ehrwürdige Stadt Interessantes aufzuweisen hat, vorzüglich aber freute ihn die Fahrt auf der Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth, die er in meiner Begleitung machte. Überhaupt verließ er Nürnberg vollkommen befriedigt, und was mich betrifft, so zähle ich die paar Tage, die ich mit ihm zusammen war, zu den angenehmsten meines Lebens.
Aber näher als in Nürnberg wurde ich mit diesem hochverehrten Mann bei meinem im folgenden Jahr gemachten Besuch in Stuttgart bekannt. Schon am ersten Tag nach meiner Ankunft begab ich mich zu ihm, wurde auf das freundlichste von ihm aufgenommen, unterhielt mich mit ihm über allerlei Gegenstände, über welche er sich ebenso offen als einsichtsvoll aus sprach, speiste bei ihm zu Mittag, wo ich mit ihm und seiner Gemahlin einige höchst vergnügte Stunden zubrachte, und als ich Stuttgart verließ, freute ich mich schon voraus auf das nächste Jahr, wo ich mein Vaterland wieder zu besuchen beschlossen hatte und ihn und seine Gemahlin wiedersehen würde.
Ich habe schon gesagt, daß ich mich nur zehn Tage in Stuttgart aufhielt; aber mein Freund Cleß machte mir diese Tage zu ebenso vielen Festtagen. Wir besahen miteinander alles Merkwürdige in der Stadt, die vielen und großen, schönen, neuen Gebäude, wir machten Spaziergänge in den reizenden Umgebungen der Stadt, wir besuchten die geschlossenen Abendgesellschaften, deren Mitglied er war und in denen ich mehrere interessante Bekanntschaften machte, unter andern mit dem geistreichen und gelehrten Professor an dem Gymnasium Pauly, dem Sohn eines meiner ehemaligen liebsten Freunde in Ludwigsburg. Wir reisten miteinander nach Eßlingen, wo wir den[333] Abschied seines ältern Sohnes von dem väterlichen Haus feierten. Wir gingen miteinander nach Cannstadt zu einem großen Gastmahl in dem Frößnerischen Badhause, wo ich ebenfalls mehrere interessante Personen und, was mir besonders angenehm war, die hochgefeierte Sängerin Fräulein Schebest, welche ich im vergangenen Jahr in Nürnberg spielen sah, nun auch persönlich kennenlernte und an der ausgezeichneten Künstlerin auch ein schönes, liebenswürdiges und, was bei solchen hochgefeierten, voreilig vergötterten Künstlerinnen selten der Fall ist, bescheidenes, anspruchloses Frauenzimmer fand. – Von bekannten Personen, die an dem Gastmahl teilnahmen, traf ich unter mehreren andern auch meinen einzigen noch lebenden Lehrer, den Obersten von Rösch, an. Er war bereits vierundneunzig Jahr alt, noch so gesund und rüstig, wie ich ihn immer gesehen hatte. Wie gewöhnlich hatte er auch diesmal den Weg von Stuttgart nach Cannstatt zu Fuß gemacht, aß mit dem besten Appetit, und als ich ihm über sein glückliches Alter meine Freude bezeigte, erwiderte er, vierundneunzig Jahre seien noch kein Alter, wenn er das hundertste Jahr zurückgelegt habe, werde er eingestehen, daß er ein alter Mann sei, und solange er nicht hundertundfünfundzwanzig Jahre zähle, denke er nicht an das Sterben.
Nach Ludwigsburg, wo ich ebenfalls, wenn ich meinen Schwager Harpprecht dort getroffen hätte, mehrere Tage verweilen wollte, kam ich nur zweimal, das eine Mal, als ich meine Enkelin, die mich auf der Reise begleitet hatte, einführte, und das andere Mal, als ich sie wieder dort abholte. Beidemal war ich nur über Mittag in Ludwigsburg, wo ich bei meiner Schwägerin, der verwitweten Stallmeisterin Leuze, speiste. Die Zeit war daher zu kurz, um Besuche zu machen, doch ging ich vor Tisch eine Stunde spazieren in den schönen Anlagen hinter dem königlichen Schloß, und auf dem Rückweg durchlief ich einige Straßen, um die wohlbekannten Häuser wiederzusehen, die ich so oft als Arzt betreten hatte. Aber die meisten sah ich mit Wehmut an, weil von denen, die sie vor dreißig Jahren bewohnten, nur wenige mehr am Leben waren. Überhaupt fühle ich nirgends so sehr, daß ich ein alter Mann geworden, als in[334] Ludwigsburg und in Stuttgart. In beiden Städten finde ich mich wie in einer neuen Welt, nicht nur was die Menschen, sondern auch die Städte selbst betrifft. Die Städte haben sich erweitert, verschönert, und es machte mir Freude, diese Veränderungen wahrzunehmen. Aber wenn ich mein Haus in Ludwigsburg ansehe, das zu einer Kaserne geworden, und an dem Akademiegebäude in Stuttgart vorübergehe und bedenke, daß es jetzt statt den Musen Hofleuten zur Wohnung dient, so überfällt mich eine Wehmut, deren ich lange nicht wieder loswerden kann. Ein gleiches Gefühl überfällt mich auch, wenn ich der Menschen gedenke, welche beide Städte zu meiner Zeit bewohnten. Nur wenige von ihnen leben noch, die meisten ruhen längst in ihren Gräbern, und der Gedanke, wie lange wohl den noch Lebenden und mir das Licht des Tages zu schauen noch vergönnt sein wird, läßt mich die Freude, sie zu sehen, nur halb genießen.
Mit diesen wehmütigen Gefühlen verließ ich nun mein liebes Vaterland auch diesmal wieder, und der Gedanke, es vielleicht zum letztenmal besucht zu haben, verfolgte mich auf der ganzen Rückreise. Indessen kam ich, begleitet von meiner Tochter und einer andern meiner Enkelinnen, welche mir bis Aalen entgegengefahren, wieder wohlbehalten in Nördlingen an, und es tat mir wohl, mich nun wieder in dem engen Kreis der Meinigen zu sehen, in welchem man sich doch immer am wohlsten befindet, zumal nach einem so zerstreuten Leben wie bis in mein hohes Alter das meinige.
Das erste, womit ich mich nach meiner Zurückkunft beschäftigte, war, wie leicht zu erachten, die Fortsetzung meiner Biographie; allein den größten Teil meiner Muße wollte ich wissenschaftlichen Studien widmen, da ich aber im Sinne hatte, zu Ende des Sommers Nürnberg wieder zu besuchen, so wollte ich mich vorderhand nicht damit befassen, sondern benutzte die Zwischenzeit zum Lesen biographischer Schriften, und zwar zuerst der Lebensgeschichte des berühmten Heim in Berlin, die ich zwar gleich nach ihrer Erscheinung flüchtig durchgesehen hatte, jetzt aber erst eigentlich las. Interessierte mich die Biographie eines so originellen, als Mensch und als Arzt gleich[335] hochwürdigen Mannes schon an sich selbst, so interessierte sie mich noch besonders auch deswegen, weil einige meiner Freunde zwischen Heim und mir eine auffallende Ähnlichkeit gefunden haben wollten. Ich meinerseits habe diese Ähnlichkeit nicht gefunden, ich mochte mich mit ihm als Arzt oder als Mensch vergleichen. Als Arzt steht er nach meiner innigsten Überzeugung weit höher als ich, nicht allein wegen seines praktischen Talents, mit dem sich das meinige nicht messen darf, sondern auch wegen der stets gleichen Lust und Liebe, womit er seine Kunst bis in das höchste Alter ausübte. Wie in seinen jüngern Jahren trat er als ein achtzigjähriger Greis noch ebenso unverdrossen und heiter an das Krankenbette als ich kaum in meinem vierzigsten Jahr, und ob er schon die Mängel unsrer Kunst ohne Zweifel ebensogut einsah als ich, so erzeugte dies doch bei ihm keinen Widerwillen gegen sie wie bei mir. Er übte sie als eine Kunst, in welcher man immer weiterkommt, und das war ihm genug, um über ihre dermalige Unvollkommenheit wegzusehen und zufrieden mit dem zu sein, was sie auf ihrem jetzigen Standpunkt zu leisten vermöge. Ich hingegen übte sie als eine Kunst, in welcher Meister zu werden ich verzweifelte, und wenn Heim mit Lust und Liebe an das Krankenbette trat, so trat ich an dasselbe mit dem niederschlagenden Gefühl, daß ich den Anforderungen, die ich an mich machte, so wenig Genüge leiste. So wurde mir mit jedem Jahr die Praxis weniger erfreulich, es kamen Stunden, wo ich den ärztlichen Stand verwünschte und es bereute, mich demselben gewidmet zu haben, und mit Sehnsucht sah ich dem Zeitpunkt entgegen, wo ich die Praxis mit Ehre würde aufgeben können. Heim war Arzt mit ganzer Seele, ich war es nur aus Pflicht, weil ich mich einmal dem ärztlichen Stande gewidmet hatte, und wenn er sich nach vollbrachtem Tagwerk, in seinem Gott vergnügt, zu Bette legte und, mit neuem Mut ausgerüstet, dasselbe am folgenden Tag wieder ebenso heiter fortsetzte, als er es am Tag zuvor geendigt hatte, so fürchtete ich mich beim Schlafengehen schon wieder auf den folgenden Tag, ging, wenn ich gefährliche Kranke hatte, nie aus, ohne daß mich der niederschlagende Gedanke begleitete, ich möchte sie schlimmer antreffen, als ich sie am Tag zuvor[336] verlassen hatte, und so viele Kuren mir auch gelingen mochten, so erhob doch dieses Gelingen meinen Mut nie so, als ihn das Mißlingen anderer niederschlug, kurz, ich wurde meines praktischen Lebens nie so froh als Heim des seinigen.
Ebensowenig Ähnlichkeit zwischen Heim und mir als Arzt fand ich, wenn ich mich mit ihm als Mensch verglich. Wie er einer der vorzüglichsten Ärzte seiner Zeit war, so war er auch wegen seines Charakters ein nicht minder hochachtungswürdiger Mensch. Wohlgesinnt gegen alle Menschen, stets bereit, jedem zu dienen, nicht nur als Arzt, sondern auch als Mensch, kein Opfer scheuend, das ihm die Leistung seiner Dienste kostete, mehr bekümmert um das Wohl anderer als um sein eigenes, gleich uneigennützig, nachdem er einen bedeutenden Teil seines Vermögens verloren hatte, als da er noch im Besitz desselben war, immer sich darstellend als den, der er war, gegen Große und Geringe seine Gesinnungen gleich offen, ja selbst bis zur Derbheit aussprechend, war er ein Mann, dergleichen man selten in der Welt, zumal unter den Ärzten, antrifft. Aber es gehörte dazu auch ein Charakter wie der seinige, sein heiteres Temperament, seine von Natur fröhliche Gemütsstimmung, seine ihm eigene Jovialität, seine kindliche Religiosität, welche ihn bei allen Widerwärtigkeiten, die ihm begegneten, sich stets gleich erhielt, so daß er am Schlusse jedes Tages sagen konnte, er habe sich in seinem Gott vergnügt schlafen gelegt. Auch ich darf, ohne mir zu schmeicheln, von mir sagen, daß ich ein guter Mensch bin, der es wohl mit allen seinen Mitmenschen meint, der ihnen gern dient, wo sie seiner Hülfe bedürfen, daß ich vor Großen wie vor Geringen rede, wie ich denke, und mich nichts darum bekümmere, ob es ihnen angenehm oder unangenehm ist und ob es mir nütze oder schade. Allein um wie Heim für das, was ich bin, erkannt zu werden, fehlt mir seine immer gleiche Heiterkeit, seine frohe, durch keine Widerwärtigkeit zu trübende Laune und, ich darf wohl hinzusetzen, seine Religiosität, welche gewiß das meiste zu seiner stets heitern Gemütsstimmung beitrug. Ich kann zwar auch recht heiter sein, ja zuweilen bis zur Lustigkeit, aber was ich nur zuweilen bin, das war Heim immer. Er war, was ihm auch Unangenehmes begegnen[337] mochte, stets der gleich heitere Mann, ich bin es nur, solange mich nichts in üble Laune setzt, und wenn Heim nie übler Laune war, so lag der Grund davon in seinem minder reizbaren Temperament, in seiner von Natur heitern Gemütsstimmung, die mir mangelt, und in seiner Religiosität, die bei ihm mehr eine Sache des Herzens als ein Erzeugnis der Vernunft war wie bei mir.
Nebst der Lebensgeschichte Heims las ich noch einige andere, teils ältere, die ich aus Mangel an Zeit noch nicht gelesen hatte, teils neuere, die mir als besonders lesenswert empfohlen wurden; allein ich las sie mehr zur Unterhaltung in meinen müßigen Stunden als in der Absicht, sie für meine philosophischen und historischen Studien zu benutzen. Diese forderten eine ernstere Beschäftigung, und da indessen die Zeit zu meiner Reise nach Nürnberg herbeigekommen, so schob ich sie bis zu meiner Zurückkunft auf, und zu Anfang des Septembers trat ich die beschlossene Reise in Begleitung meiner Tochter an. Meine Absicht bei derselben war, teils meine daselbst zurückgelassenen Freunde wiederzusehen, teils zu hören, was seit meiner Entfernung mit den dortigen Krankenanstalten vorgegangen und wie weit es insbesondere mit dem neuen Krankenhaus gekommen, dessen Erbauung vor meinem Abgang nach Nördlingen bereits beschlossen war. Von den Krankenanstalten hatte ich seit der Zeit gar nichts mehr gehört, ich schloß daraus, daß wohl alles noch beim alten sei, und versprach mir daher nicht viel Erfreuliches. Um so mehr aber freute ich mich auf das Wiedersehen meiner Freunde, und ich gestehe, daß ich den Augenblick, mich wieder in ihrer Mitte zu befinden, kaum erwarten konnte. Dasselbe war auch der Fall mit meiner Tochter, meiner Begleiterin auf der Reise. Wir hatten in Ansbach übernachtet, wo wir die Mutter meines Schwiegersohns besuchten, und es war eben Mittag, als wir in Nürnberg ankamen. Wir stiegen im »Wittelsbacher Hof« ab, packten noch vor Tisch unsere Sachen aus, und es war kaum abgespeist, so begann ich meine Besuche. Ich fand mich wieder so einheimisch in der Stadt, als ob ich sie nicht verlassen hätte. Ich durchwandelte die Straßen, wie wenn ich noch praktischer Arzt in Nürnberg[338] wäre. Erst spät am Abend kam ich wieder in den Gasthof zurück. Am andern Morgen setzte ich gleich nach dem Frühstück meine Besuche fort, und schon in den ersten vier Tagen hatte ich beinahe alle meine Freunde wiedergesehen. Die Freude, mit welcher ich von allen, von den minder Vertrauten wie von den Vertrautesten, aufgenommen worden, übertraf alle meine Erwartungen. Ich wußte, wie lieb ich ihnen war, da ich mit ihnen zusammen lebte, aber es schien, als sei ich ihnen seit unserer Trennung noch lieber geworden, und nie hätte ich geglaubt, daß die Anhänglichkeit an einen Arzt, dem man sein Vertrauen geschenkt hat, von solcher Dauer sei. Mehrere Familien hatten seit meinem Abgang von Nürnberg noch keinen Hausarzt gewählt, sondern bei vorgekommenen Unpäßlichkeiten sich an die wohlaufbewahrten alten Rezepte von mir gehalten. Andere hatten zwar bereits ihre Hausärzte, aber ich mußte ihnen aufs neue versprechen, in allen wichtigen Fällen ihnen auch aus der Ferne mit meinem Rat beizustehen. Beinahe alle, die während meiner Anwesenheit krank lagen, verlangten meinen Rat und meine Hülfe, so daß es schien, als sollte ich aufs neue wieder in mein praktisches Leben in Nürnberg eintreten. Diese Beweise von Vertrauen haben mich mehr erfreut als alles andere Erfreuliche, was mir in den paar Wochen, die ich in Nürnberg verweilte, widerfahren ist; auch haben sie mich aufs neue in der Überzeugung bestärkt, daß das Vertrauen zu dem Arzt zum Gelingen seiner Kuren ebensoviel oder noch mehr tut als seine Kunst. Mehrere Kranke, die ich besuchte, glaubten sich bei meinem Anblick besser zu befinden, und sie wurden wirklich besser, ungeachtet ich ihnen nicht das mindeste verordnete und alles billigte, was ihnen ihre Hausärzte verschrieben hatten. Diese neuern Erfahrungen erinnerten mich an viele ältere, welche ich in meiner Praxis von diesem Einfluß des Vertrauens zu dem Arzt gemacht hatte, und ich hatte gewiß recht, wenn ich bei einer frühern Gelegenheit sagte, daß ich das Glück meiner Praxis vorzüglich dem Vertrauen danke, welches ich mir von meinen Kranken erworben hatte. Dieses Vertrauen gehört zu den psychischen Einflüssen, von denen jeder Arzt, der bei seinen Verordnungen nicht bloß den Magen und die Haut in Anspruch[339] nimmt, aus Erfahrung weiß, was er in so vielen Fällen, wo ihn die Arzneien aus der Apotheke im Stiche lassen, durch verständige Einwirkung auf die Psyche vermag.
Von den vielen Ehrenbezeigungen, welche mir während meiner Anwesenheit in Nürnberg zuteil wurden, erwähne ich nur einer, eines Festmahles, welches der Bürgermeister Binder und der Direktor Scharrer auf der alten Veste bei Zirndorf veranstalteten und an welchem auch beider Frauen und meine Tochter teilnahmen. Wir fuhren nachmittags von Nürnberg auf der Eisenbahn nach Fürth, wo uns die Wagen, welche uns nach der alten Veste führen sollten, erwarteten. Eine Stunde vor Tisch kamen wir auf derselben an, erfreuten uns, durch das schöne Wetter begünstigt, der weiten, nach allen Richtungen gleich schönen Aussicht, besahen den stattlichen, der Vollendung nahen, über neunzig Fuß hohen, den Blick noch weiter tragenden Turm, und so erheitert begaben wir uns nun in das Wirtshaus. Das Mahl war einfach, aber die Speisen alle sehr gut zubereitet, und die Weine, welche die beiden Herren, sowie das Dessert, welches die Frauen von Nürnberg mitgebracht hatten, köstlich. Wie vergnügt wir bei Tisch waren, kann man sich denken. Unsere Unterhaltung würzte das Mahl, der treffliche Champagner belebte unser Gespräch. So blieben wir zusammen bis gegen Abend, wo wir wieder zurück nach Fürth und von da nach Nürnberg wie am Morgen auf der Eisenbahn fuhren. Ich erinnere mich weniger Tage in meinem Leben, an welchen ich so vergnügt gewesen als an diesem. Schöne Natur, schönes Wetter, Zusammensein mit geistreichen Männern und vertrauten lieben Freunden und verständigen, gebildeten, wackern Frauen machten mir diesen Tag zu einem Festtag.
Gleich schöne Stunden brachte ich auch mit meiner teuern Freundin und Korrespondentin, Fräulein von Kretschmann, zu. Öfter als bei allen andern Freunden war ich bei ihr, und am Tage vor meiner Abreise war ich den ganzen Nachmittag mit ihr und ihrer Schwester, die eben auf Besuch bei ihr war, auf dem Lande, in Hummelstein, meinem ehemaligen Lieblingsort. Wie immer war auch diesmal meine Unterhaltung mit ihr ebenso lehrreich als angenehm. Eine Menge der interessantesten[340] Gegenstände kam zur Sprache, und von was die Rede sein mochte, sprach sich ihr Geist und ihr Herz gleich schön und herrlich aus. Ich war immer stolz auf ihre Freundschaft, aber je näher ich sie kennenlerne, desto mehr bilde ich mir auf dieselbe ein. Es scheint mir, als gewinne ich dadurch an eigenem Wert, und welcher Wahn kann wohl beglückender sein als dieser?
Was die Krankenanstalten betrifft, so fand ich sie noch ganz so, wie ich sie verlassen hatte. Die an denselben angestellten Ärzte und Chirurgen trieben insgesamt ihre Geschäfte auf die gewohnte Weise, und es war mir lieb, zu vernehmen, daß der Stadtgerichtsarzt, welchem nach meinem Abgang die Aufsicht über die Anstalten von der Kreisregierung übertragen worden, alles den bisherigen Gang darin gehen ließ. Ich hatte das nicht vermutet, denn ich glaubte, er würde darin manches zu reformieren finden, wenn es auch bloß um das Reformieren selbst gewesen wäre. Er unterließ es, und er tat wohl daran, weil jede Abänderung, die er getroffen haben würde, zu nichts Ersprießlichem geführt hätte. Was zur Verbesserung der Anstalten, solange sie unter meiner Direktion standen, möglich war, ist geschehen, denn es waren nur Palliativmittel anwendbar, und diese hatten geleistet, was sie konnten. Eine radikale Verbesserung war unmöglich, solange es an einem allgemeinen Krankenhaus fehlte, der Magistrat und die Gemeindebevollmächtigten hatten dies endlich erkannt, die Erbauung des Krankenhauses war vor meinem Abgang von Nürnberg beschlossen; allein ich fand leider, daß seitdem nichts weiter geschehen, als daß der Plan zu dem Gebäude dem Bauinspektor Schmidtner zur Revision zugestellt worden, um die seit dem ersten Entwurf nötig befundenen Abänderungen und Verbesserungen nachzutragen. Dies war allerdings notwendig, und ich hatte selbst dazu Veranlassung gegeben, da ich während meiner Anwesenheit in Stuttgart im Jahr 1836 bei meinen wiederholten Besuchen des allgemeinen Krankenhauses daselbst auf manches geführt worden, was in dem ersten Entwurf zu dem in Nürnberg zu erbauenden mangele. Leider war der neue Plan, solange ich in Nürnberg war, nicht fertig geworden, und ich mußte abreisen, ehe ich ihn gesehen hatte, ja ich hatte Grund[341] zu glauben, daß Schmidtner die Arbeit nicht einmal begonnen habe. Überhaupt schien es mir mit der Erbauung des neuen Krankenhauses kein echter Ernst zu sein. Man schien das Bedürfnis desselben noch nicht recht zu fühlen, und wenn vollends der Bau des Hauses und seine Einrichtungen nach dem neuen Plan mehr kosten sollte, als man anfangs berechnet hat, so ist es leicht möglich, daß selbst von denen, welche die Sache begünstigt hatten, manche wieder neue Bedenklichkeiten erheben und zum Aufschub des Unternehmens auf bessere Zeiten raten werden. Mir, der ich jetzt nichts mehr mit den Nürnberger Krankenanstalten zu tun hatte, kam es nicht zu, die Angelegenheiten mit dem vormaligen Eifer zu betreiben, ich mußte mich begnügen, sie den beiden Bürgermeistern bloß wieder zu empfehlen. Beide versicherten mich zwar, daß zur Ausführung des Werkes gewiß und bald werde geschritten werden; allein da so viele von denen, die nicht alle denken wie sie, dareinzureden haben, so gestehe ich, daß ich, ihrer Versicherung ungeachtet, Nürnberg mit dem niederschlagenden Gedanken verließ, daß ich vielleicht nicht einmal den Beginn eines Werkes, welches mir seit einer Reihe von Jahren so sehr am Herzen lag, mehr erleben werde.
Nach meiner Zurückkunft nach Nördlingen machte ich mich, wie ich mir vorgenommen hatte, wieder an meine philosophischen und historischen Studien. Geschichte und Philosophie waren von jeher der Lieblingsgegenstand meiner literarischen Beschäftigungen; allein solange ich als praktischer Arzt den größten Teil meiner Zeit meinen medizinischen Studien widmen mußte, betrieb ich jene nur als Nebensache, jetzt aber als den Hauptgegenstand meiner Studien, und zwar nicht bloß aus Liebhaberei, sondern mit ebendem Ernste, mit welchem ich vormals meine medizinischen betrieben hatte. Allein so wie bei den letzten mein Hauptaugenmerk immer auf das Praktische gerichtet war, so war dies auch der Fall bei den philosophischen und historischen. So habe ich, was zuerst die Philosophie betrifft, zwar die meisten Systeme, die von Zeit zu Zeit aufgestellt worden, studiert und auch ziemlich verstanden, ausgenommen das Hegelsche, dessen Urheber sich selbst nicht[342] verstanden zu haben scheint, am meisten aber hat mich das Kantsche angezogen, nicht weil ich Kant für den größten Philosophen der neuern Zeit halte, sondern weil er darauf ausgeht, vielmehr die Grundlosigkeit aller Metaphysik darzutun, als eine neue aufzustellen. Überzeugt, daß der Mensch von der übersinnlichen Welt unmöglich etwas Positives wissen kann, habe ich alles, was die Fichte, Schellinge, Hegel und alle andern spekulativen Philosophen darüber aussagen, für leere Träume gehalten, welche mitzuträumen zwar eine angenehme Unterhaltung gewährt, vorausgesetzt, daß es den Mitträumenden nicht an der dazu erforderlichen Phantasie fehlt, aber durchaus keine Resultate für das Leben geben, worauf es doch nach meiner Überzeugung bei allem Philosophieren hauptsächlich ankommt. Resultate für das Leben gibt bloß die praktische oder die Moralphilosophie, und darum habe ich auch diese zum Hauptgegenstand meiner philosophischen Studien gemacht. Der liebste unter den Moralphilosophen war mir immer Garve. Seine Schriften haben mich am meisten angezogen, ich habe sie am fleißigsten gelesen und lese sie noch jetzt mit dem gleichen Interesse. Höher als Garve steht zwar Kant, insofern er für die Moral ein höchstes Prinzip, sein dem Menschen eingeborenes Sittengesetz und zur Befolgung des Gesetzes als das alleinige Motiv die Achtung vor demselben aufstellt. Allein dieser höhere Rang gebührt Kant bloß als theoretischem Moralphilosophen. In der Praxis reicht sein kategorischer Imperativ, welcher unbedingten Gehorsam gegen das Sittengesetz gebietet, nicht aus, aus bloßer Achtung vor dem Gesetz, worauf sich derselbe gründet, könnte nur der rein-vernünftige Mensch demselben gemäß handeln. Allein der Mensch ist kein rein-vernünftiges, sondern er ist ein sinnlich-vernünftiges Wesen, bei welchem wie überall auch bei der Befolgung des Sittengesetzes neben der Achtung vor demselben immer zugleich sinnliche Motive mitwirken müssen. Die Erkenntnis des Gesetzes als solche ist eine bloß theoretische Erkenntnis, die tot im Kopf liegt; soll sie lebendig werden, so muß auch die sinnliche Natur ins Interesse gezogen werden, außerdem bleibt sie eine unfruchtbare Schulweisheit, wie die tägliche Erfahrung lehrt,[343] welche uns Beispiele genug aufstellt, daß es selbst unter den größten Philosophen schlechte Menschen gibt. Auch der verdorbenste Mensch weiß, daß er nicht tun darf, was er mag, sondern tun muß, was er soll, denn das Sittengesetz, das Gesetz, recht zu tun, ist ihm ins Herz geschrieben, und er hat darüber einen unbestechlichen Richter an seinem Gewissen. Aber warum befolgt er dessenungeachtet das Gesetz nicht? Offenbar deswegen, weil nicht seine Vernunft, sondern seine Begierden und Leidenschaften, welche die Oberherrschaft über die Vernunft bei ihm gewonnen haben, seinen Willen bestimmen. Wäre der Mensch ein rein-vernünftiges Wesen, so würde es seine Vernunft allein sein, was seinen Willen bestimmt; bei einem sinnlich-vernünftigen Wesen gibt die Vernunft bloß das Regulativ für den Willen, aber in Tätigkeit gesetzt wird er nur durch die Gefühle von Lust und Unlust, welche, wie bei dem Tier auch bei dem Menschen, die Triebfedern aller seiner Handlungen sind. Von allem, was er tut, will er auch einen Genuß, einen Vorteil, und wenn er moralisch handeln will, für die Verzichtung auf die sinnlichen Genüsse, die ihm das Sittengesetz gebietet, eine Entschädigung haben, die ihm ebenfalls nur durch sinnliche Genüsse zuteil werden kann. Nun gewährt allerdings auch das Handeln nach dem Gesetz der Vernunft ein angenehmes Gefühl, ja das angenehmste, dessen der Mensch fähig ist, die Zufriedenheit mit sich selbst, so wie das Gegenteil ein nicht minder unangenehmes, das peinigende Gefühl der Reue, des Mißmuts, der Selbstverachtung. Allein mit diesem Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst begnügen sich nur die im höchsten Grad moralisch ausgebildeten Menschen, und deren gab es von jeher sehr wenige und vielleicht gar keinen. Weit die meisten verlangen auch äußere Vorteile von ihrer moralischen Handlungsweise, Lob, Hochachtung, Vertrauen von andern, erfreuliche Erfolge ihrer Handlungen und, wenn sie religiöse Menschen sind, auch Ruhm vor Gott. Bei einem sinnlich-vernünftigen Wesen, wie der Mensch ist, kann dieses nicht anders sein, und selbst das Christentum, welches das Rechthandeln als das Gebot Gottes aufstellt, verschmäht die Mitwirkung sinnlicher Motive nicht, indem es für die Entsagungen, die es auflegt, die[344] reichste Entschädigung in einer künftigen Welt verheißt. Nur die rohe Sinnlichkeit hindert die Menschen an der Befolgung des Sittengesetzes, die ungebändigten sinnlichen Triebe, die Begierden und Leidenschaften, und jene edlen Triebe nur, wenn sie ihre gehörigen Schranken überschreiten, die Begierde nach Ehre in Ehrgeiz, die Begierde nach Achtung in Herrschsucht, die Begierde nach Erwerb in Habsucht und Geiz ausarten. In ihren gehörigen Schranken gehalten, fördern sie vielmehr das Handeln nach dem Sittengesetz, als daß sie ihm hinderlich sein sollten. Sie dürfen daher nur gebändigt, nicht unterdrückt oder gar vertilgt werden, wie es die Selbstpeiniger in Indien, die Klosterbewohner im Mittelalter versucht haben und die Pietisten und Mystiker unserer jetzigen Zeit auf ihre Weise es noch versuchen. Auch abgesehen von den schlimmen moralischen Folgen dieser vermeinten Selbstüberwindung darf der Mensch nie aufhören, ein sinnliches Wesen zu sein. Seine sinnliche Natur ist die Trägerin seiner geistigen, seine sinnlichen Triebe geben ihm den ersten Anstoß zur Entwickelung seiner Vernunft, ihre Befriedigung ist das Mittel zur Ausbildung derselben, sie sind die Haupttriebfedern, welche den Willen in Tätigkeit setzen, ihre Befriedigung ist die Bedingung der Erhaltung des Körpers, und ihre Nichtbefriedigung würde ein indirekter Selbstmord sein. Weit entfernt also, daß sie, um die Vernunft in ihrer Tätigkeit freier zu machen, unbefriedigt gelassen oder gar unterdrückt werden dürften, gebietet vielmehr die Vernunft selbst ihre Befriedigung und macht diese dem Menschen nicht minder zur Pflicht als die Befolgung ihrer höchsten Gebote. Sie fordert nur Maß in derselben, sie fordert nur Beschränkung der sinnlichen Triebe, damit sie nicht ihre gehörigen Grenzen überschreiten, ihre Anforderungen nicht taub gegen das Gebot der Vernunft machen und, statt ihr zu gehorchen, die Oberherrschaft dergestalt über sie gewinnen, daß auch die Stimme des Gewissens nicht mehr gehört wird. Daß der erste Schritt hiezu durch die Erziehung geschehen muß, ist einleuchtend, denn das Hauptgeschäft der Erziehung ist die Beschränkung der sinnlichen Triebe von der frühesten Jugend an und die gleichzeitige Stärkung des Willens durch stete Übung im Gehorsam, damit[345] er fähig werde, ihren übermäßigen Anforderungen zu widerstehen, noch ehe die Vernunft als die höchste Gesetzgeberin des Menschen und die Befolgung ihrer Gesetze als seine höchste Pflicht von ihm anerkannt wird. Das Rechthandeln muß dem Menschen erst angewöhnt werden, ehe es bei ihm zur klaren Erkenntnis und zum vollen Bewußtsein des Sittengesetzes kommt, er muß in der Befolgung desselben von Kindheit an geübt werden, und das Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst, das unzertrennlich mit seiner Befolgung verbunden ist, wird den Anforderungen der schon voraus beschränkten sinnlichen Triebe nicht nur das Gleichgewicht halten, sondern es wird auch, wie es selbst das höchste aller angenehmen Gefühle ist, das Übergewicht über sie gewinnen. Nur so kann der Mensch, als sinnlich-vernünftiges Wesen, seine sinnliche Natur mit seiner vernünftigen in Einklang bringen, und ist dieser Einklang zustande gebracht, so kostet es ihm keinen Kampf mit den sinnlichen Trieben mehr. Sein Gemüt, weniger empfänglich für den groben sinnlichen Reiz, ist um so empfänglicher für jenes, jede Art von Sinnenlust weit übertreffendes Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst, und je mehr er dasselbe kennenlernt, desto mehr gewinnt es Macht über seinen Willen. Jetzt darf er sich nur denken, daß etwas zu tun oder zu unterlassen Pflicht sei, und der Wille, den kein gemeiner Sinnenreiz mehr von seiner Richtung zum Guten abzulenken vermag, ist bereit zu gehorchen. Was dem sinnlichen Menschen die größte Mühe macht, was ihm zu tun oder zu unterlassen unmöglich scheint, was er, als ein zu großes Opfer, das er bringen soll, wirklich unterläßt, das kostet ihm keine Anstrengung, denn er hat keinen Widerstand zu überwinden. Ja er darf sogar seinen niedrigsten sinnlichen Trieben in ihren Bestrebungen ihren Lauf lassen, ohne fürchten zu müssen, daß sie ihr gehöriges Maß überschreiten, denn er hat sie der Oberherrschaft seiner Vernunft unterworfen, und ihre Befriedigung gehört nun selbst zu den sittlichen Handlungen.
Diese Übereinstimmung der Sinnlichkeit mit der Vernunft zu bewirken ist die große Aufgabe der Erziehung, und sie ist gelöst in dem sittlichen Charakter. Wo dieser Charakter sich[346] bei einem Menschen gebildet hat, da ist das sittliche Handeln kein Kampf mehr. Es ist ein freies, ohne alle Anstrengung erfolgendes Handeln, ja der Handelnde weiß nicht einmal, daß er sittlich handelt. Alle seine sittlichen Handlungen verrichtet er mit einer Leichtigkeit, als ob bloß der Instinkt in ihm wirkte, und die Erfüllung auch der schwersten Pflichten ist ihm ein Spiel, weil die mit der Vernunft versöhnte Sinnlichkeit ihr keinen Wider stand mehr leistet. Die Vernunft hat in ihm die ihr gebührende Oberherrschaft gewonnen, und was sie beschließt, das geschieht auch, weil nicht die Sinnlichkeit, sondern die Vernunft den Willen regiert. Ja ebendiese Unterordnung der Sinnlichkeit unter die Vernunft gestattet sogar dem Menschen, bei welchem der sittliche Charakter zu seiner vollständigen Ausbildung gekommen ist, sich in seiner Handlungsweise ganz von seinem Gefühl leiten zu lassen, weil er nicht Gefahr läuft, den Geboten seiner Vernunft entgegen zu handeln, wenn er die Bestimmung seines Willens ganz seinem Herzen überläßt. Daher gibt es aber auch nichts Schöneres und Liebenswürdigeres als einen solchen Charakter. Er ist das Größte, was der Mensch auf dieser Erde erreichen kann. Ihn zu bilden, muß daher das höchste Ziel der Erziehung, ihn immer mehr zu vervollkommnen, das unablässige Bestreben des Menschen in dem ganzen Lauf seines Lebens sein. – Dies sind die Grundsätze meiner Moralphilosophie, die ich in meiner im Jahr 1822 erschienenen Schrift »Ideen über sittliche Kultur und Erziehung« ausführlicher entwickelt habe und denen ich auch jetzt noch huldige, weil ich glaube, daß sie der Natur des Menschen die angemessensten seien.
Zu dem gleichen praktischen Zweck habe ich wie meine philosophischen auch meine historischen Studien getrieben, ob ich schon den hohen Wert der Geschichte auch von ihrer wissenschaftlichen Seite nie verkannt habe. Als Wissenschaft ist es der Geschichte bloß um die Ausmittelung der Tatsachen, die sie erzählt, zu tun. Der wissenschaftliche Geschichtsforscher sucht in dieser Absicht neue Quellen und Hülfsmittel der Geschichte auf, berichtigt jedes unrichtig beschriebene Faktum, jede falsch angegebene Jahreszahl, jeden unrichtig genannten Ort, jeden[347] unrichtig angegebenen Namen einer handelnden Person. Als Geschichtschreiber erzählt er die Begebenheiten nicht nur nach der Zeit und dem Ort, wo sie vorgefallen, sondern er bemüht sich auch, zu zeigen, wie jede Begebenheit entweder als Folge vorhergegangener Ereignisse oder als Wirkung absichtlich unternommener Handlungen wieder andere Begebenheiten zur Folge gehabt hat, um so den Faden der Geschichte vom Anfang an bis auf die jetzige Zeit fortzuführen. Der pragmatische Geschichtschreiber hingegen betrachtet die Geschichte als ein großes Drama, welches das Menschengeschlecht auf dem Welttheater im Lauf der Zeiten aufgeführt hat. Er sieht, wie der Knoten des Drama zwar langsam und oft unterbrochen seiner Entwickelung entgegenschreitet, und obschon nach dem Ausspruch des großen Dichters:
Das ist die Lehre aller Menschensagen
Und des Vergangnen ew'ge Wiederholung:
Erst Freiheit und dann Ruhm, dann üpp'ger Reichtum,
Verderbnis, Laster, Barbarei zuletzt.
So hat mit allen ihren großen Bänden
Die Weltgeschichte eine Seite nur;
die nämlichen Szenen immer wiederkehren, doch alles zur Verwirklichung des bisher bloß in der Idee der Weisen existierenden Zustandes der Menschheit hinstrebt, in welchem die Lüge der Wahrheit, die Willkür dem Recht, der Egoismus der Nächstenliebe, die Politik der Moral Platz machen wird. So hat vorzüglich Herder die Geschichte betrachtet, und sein unsterbliches Werk »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« muß jedem, der es liest, studiert und versteht, die tröstliche Hoffnung geben, daß das menschliche Geschlecht nicht bestimmt ist, sich in einem ewigen Kreis herumzudrehen, sondern daß eine Zeit kommen muß, wo es seine höhere Bestimmung erkennen und dieser Erkenntnis gemäß handeln wird. Unverkennbar ist die Menschheit im Lauf der Jahrhunderte zu diesem Ziel immer weiter fortgeschritten, und wie oft auch bald da, bald dort ein Stillstand, ja selbst ein Rückschritt stattgefunden hat, so war doch im ganzen des Fortschreitens mehr als des Stillstehens[348] und des Rückschreitens. In allen Epochen der Geschichte sind Männer aufgestanden, die jenes hohe Ziel deutlicher erkannt und die Menschheit derselben mehr oder weniger nähergebracht haben. So im grauen Altertum Zoroaster, Konfuzius, Moses. So in Griechenland Lykurg, Solon, Pythagoras. So zur Zeit der fürchterlichen römischen Weltherrschaft der Stifter des eine moralische Weltherrschaft begründenden Christentums, ein verachteter Jude und der Sohn eines Zimmermanns. So in unserer neuern Zeit Martin Luther, Friederich der Große, Washington und noch mehrere andere aus allen Ständen, Fürsten, Staatsmänner, Gelehrte, Künstler. Dies sind die Menschen, welche die Geschichte als Wohltäter der Menschheit preist, und wie tief eingreifend und auf alle Zeiten fortdauernd wirksam ihre Bemühungen gewesen, zeigt unser jetziges Zeitalter, welches die hohe Stufe der geistigen und sittlichen Kultur, auf der es steht, diesen Heroen unseres Geschlechts zu danken hat.
Unstreitig hat in unserm Zeitalter die Zivilisation eine Stufe erreicht, welche sie weder im Mittelalter noch im Altertum, selbst in den schönsten Zeiten Griechenlands und Roms, nie erreicht hat. Die Wissenschaften sind nicht mehr das ausschließende Eigentum der gelehrten Stände wie vormals, sie sind ein allgemeines Gut der Gesellschaft geworden, und selbst unter dem Landvolk ist die vormalige rohe Unwissenheit verschwunden. Fast jedes Dorf hat, wenigstens in Deutschland, jetzt seine eigene Schule, zur Bildung der Schullehrer sind eigene Seminarien er richtet, und der Schulunterricht selbst hat manche wesentliche Verbesserungen erhalten. In den Städten sind nicht nur die öffentlichen Unterrichtsanstalten, von den Trivialschulen bis zu den Gymnasien und Universitäten herauf, jetzt so aneinandergereiht, daß nirgendwo eine Lücke ist, sondern es kommen auch immer mehrere Privatanstalten auf, so daß schon jetzt kaum mehr etwas zu wünschen übrigbleibt. – Nicht anders verhält es sich auch mit dem Unterricht in den Künsten. Man lernt jetzt nicht mehr bloß Lesen, Schreiben und Rechnen, man lernt auch Zeichnen und Malen, und selbst das rohe Handwerk bildet sich, besonders seit der Errichtung polytechnischer Schulen, immer mehr zu einer Kunst aus. Um sich von diesen Fortschritten,[349] besonders in den mechanischen Künsten, zu überzeugen, darf man sich nur an die vielfachen Erzeugnisse der Industrie in den sich mit jedem Jahr vermehrenden Fabriken, an die Einführung der Dampfschiffe und der Eisenbahnen erinnern, wodurch jene Erzeugnisse mit Vogelschnelligkeit von einem Lande zum andern verführt werden, und wer mag zweifeln, daß man bald noch auf hundert andere Erfindungen kommen wird, die noch größere bewundernswürdige Beweise von diesen Fortschritten geben werden?
Nicht geringere Fortschritte als in den Wissenschaften und Künsten hat die Menschheit in unserm Zeitalter auch in der Gesittung gemacht, und den Beweis liefert unser ganzes geselliges Leben. Man sehe unsere jetzigen Fürsten, in dem ganzen christlichen Europa findet sich kaum noch einer unter ihnen, der in dem Wahn, als wären die Fürsten Wesen höherer Art, glaubt, daß seine Untertanen nur um seinetwillen da seien und daß er mit ihnen schalten und walten dürfe, wie es ihm beliebt. Man betrachte unsern jetzigen Adel, und man sieht, daß die Adeligen ganz andere Menschen geworden sind als ihre Vorfahren auf ihren Burgen, die Unwissenheit und Brutalität für Prärogativen ihres Standes hielten. Man betrachte unsere jetzigen Gelehrten, und man findet an ihnen selten mehr die vormaligen stolzen, ungeschliffenen und unbeholfenen Pedanten, sondern größtenteils bescheidene, umgängliche, lebenslustige Männer. Man sehe die Beamten unserer Zeit, von dem ersten Minister an bis zu dem letzten Kanzleischreiber trifft man selten mehr bei einem den vormaligen beleidigenden Amtsstolz an, sie sind durchaus höflicher, freundlicher, gefälliger geworden. Man sehe endlich den Bürger unserer Zeit in den Städten und die Bauern auf dem Lande. So wie dort nicht bloß der Handelstand, nicht bloß die Künstler und Fabrikanten, sondern auch die gemeinen Handwerker höflicher, bescheidener, gehorsamer gegen die Obrigkeit und selbst in ihren Gelagen, wo sich die Roheit am offensten ausspricht, verträglicher und friedsamer geworden sind, so ist hier an die Stelle der vormaligen Plumpheit mehr Beweglichkeit und Gewandtheit, an die Stelle des vormaligen groben Bauernstolzes mehr städtische Höflichkeit, an die Stelle[350] der oft bis zur Brutalität gegangenen Widerspenstigkeit mehr Gehorsam und Folgsamkeit getreten.
Nicht minder als bei dem männlichen hat auch bei dem weiblichen Geschlecht im ganzen die Gesittung in unserm Zeitalter zugenommen. Mögen auch die hohen Tugenden der römischen Matronen und die liebenswürdigen Eigenschaften der griechischen Hetären gegenwärtig seltener wahrgenommen werden, so sehen wir dagegen bei unserer jetzigen weiblichen Welt mehr allgemeine sittliche Bildung und eine weitere Verbreitung derselben in allen Ständen von den Höfen der Fürsten an bis zu den letzten Klassen der Stadtbewohnerinnen und den Bäuerinnen auf dem Lande. Kurz, in allen Ständen sind unter beiden Geschlechtern die Fortschritte der Gesittung unverkennbar; die Menschen sind gefälliger gegeneinander, verträglicher miteinander und, wenn auch nicht von Herzen, doch äußerlich wohlwollender gegeneinander, und das gesellige Leben überhaupt freier, schöner, an Freuden reicher geworden.
Aber so erfreulich diese Lichtseite der Zivilisation ist, so unerfreulich ist ihre Schattenseite. Offenbar hat mit der Zunahme der Zivilisation auch der Hang zum sinnlichen Wohlleben gleichen Schritt gehalten, und um sich davon zu überzeugen, darf man nur unsere jetzige Zeit mit den Zeiten vor der Französischen Revolution vergleichen. Damals waren nicht nur die Hofhaltungen der Fürsten – versteht sich mit Ausnahmen – weniger kostspielig als jetzt, sondern auch die Vornehmen und Reichen machten weniger Aufwand, und was die bürgerlichen Stände betrifft, so herrschte bei ihnen mehr oder weniger noch die vormalige altertümliche Frugalität, von einem Luxus, wie er jetzt auch in dem letztern herrscht, hatte man damals keinen Begriff. Nur die Fürsten hatten ihre Schlösser, nur die Vornehmsten und Reichsten wohnten in großen, wohlmöblierten Häusern. Nur die Vornehmsten und Reichsten kleideten sich in Gold und Seide, umgaben sich mit einer großen Dienerschaft und hielten eigene Equipagen; jetzt hat jeder Vornehme und Reiche eine Art von Palast mit schönen und kostbaren Möbeln ausgeschmückt, jeder kleidet sich in feines Tuch und kostbare Stoffe, jeder hat seine zahlreiche Dienerschaft, jeder seine eigenen, mit schönen Pferden[351] bespannten Wagen, und ihrem Beispiel folgen mehr oder weniger auch die übrigen bürgerlichen Stände, die Gelehrten, die Kaufleute, die Gewerbsmänner, die Handwerker. Jeder will ein geräumiges, schön und modern möbliertes Haus bewohnen, und er baut und schmückt es sich aus. Jeder will schön und reich gekleidet sein, und er kleidet sich schön und reich. Jeder will gut bedient sein und hält sich zwei, drei und mehrere Dienstboten. Jeder reiche Kaufmann fährt mit eigener Equipage und gibt seinen Bedienten eine eigene Livree, die Ärzte, die sonst ihre Visiten zu Fuß machten, machen sie jetzt fahrend, und selbst Schneider und andere Handwerker haben ihr eigenes Fuhrwerk oder wenigstens ihr Reitpferd. Wie ganz anders war dies in frühern Zeiten! Sonst machte sich der Bürger bloß an Neujahrstagen, an Sonn- und Feiertagen einen guten Tag, jetzt geschieht es fast täglich, und auch andere Wochentage sind jetzt blaue Montage. Jeder eilt, mit seinem Berufsgeschäft fertig zu werden, um sobald wie möglich zu seiner Kompanie im Wirtshaus zu kommen; in seinen Feierstunden mit seiner Familie zu leben ist ihm eine Pein, er fühlt sich nur wohl außer dem Haus, und dazu findet er bei der täglich zunehmenden Menge von Vergnügungsplätzen Gelegenheit genug. Der Hang, sich zu zerstreuen, der Widerwille gegen das Zuhausebleiben ist ein charakteristisches Merkmal unserer Zeit, und es scheint wirklich eine eigene Angelegenheit der Obrigkeit zu sein, diesen unseligen Hang vielmehr zu befördern, als zu verhindern, indem sie nicht nur beinahe einem jeden, der einen neuen Vergnügungsplatz eröffnen will, die Erlaubnis dazu geben, sondern auch öffentliche, wochenlang dauernde Volksfeste veranstalten, von denen man früher nichts wußte. Welche Nachteile diese Gelegenheitsmachereien zum sinnlichen Wohlleben für die bürgerlichen Stände haben, ist leicht einzusehen. Die Lust zu arbeiten geht verloren, die Arbeiten selbst werden weniger gut verfertigt, die Lieferung der Arbeit geschieht nicht mehr zur versprochnen Zeit, der schlechte und lügnerische Arbeiter verliert seine Kundschaft, der Wohlhabende kommt in seinem Vermögen herunter, und der verarmte Bürger wird sehr oft zugleich ein schlechter Bürger.[352]
Aber wie auf der einen Seite Verarmung, so ist auf der andern übermäßiger Reichtum die Frucht der Zivilisation. Um dem Hang zum sinnlichen Wohlleben zu genügen, muß man die Mittel dazu haben, man muß reich zu werden suchen, und das Geld wird der Gott der Welt. Diesem Gott huldigen nicht nur die Kaufleute, die eigentlichen Priester desselben, sondern auch alle übrige Stände, von den Fürsten und Großen an bis hinunter zu dem Landvolk und dem Taglöhner. Denn wornach trachten die Fürsten, wenn sie Krieg führen, Handelsverträge schließen, die Anlegung so vieler Fabriken begünstigen und zur Förderung des Handels Eisenbahnen und Flüsse verbindende Kanäle anlegen lassen, als nach Vermehrung der Staatseinkünfte? Wozu studiert und schreibt der Gelehrte, wozu arbeitet der Künstler und Handwerker, wozu baut der Bauer im Schweiß seines Angesichts sein Feld, als um Geld zu erwerben? Also überall derselbe Zweck, den der Kaufmann verfolgt, wenn er seine Güter dem ungetreuen Meere anvertraut. So ist der Gelderwerb das allgemeine Losungswort in der zivilisierten Welt. Aber je mehr Geld und je mehr Mittel zum sinnlichen Wohlleben, desto größer der Hang zu demselben, desto größer die Begierde, es immer höher und höher zu steigern. Wie wenig bei diesem stets tiefern Versinken in das sinnliche Leben das Höhere im Menschen geachtet, wie vorzüglich nur der Verstand, nicht auch die Vernunft ausgebildet wird, wie die Religiosität immer mehr aus der Welt verschwindet und, was die Folge davon ist, bei so vielen, die diesen Mangel tiefer fühlen, die wahre Religiosität in Pietisterei und Mystizismus ausartet, während daß andere zu Religionsverrätern oder Religionsspöttern werden, wie man keinen Unterschied mehr zwischen Sittlichkeit und Gesittung macht, wie man die Scheinglückseligkeit, nach welcher man jagt, für wahre Glückseligkeit hält, die doch der höchste Zweck der Zivilisation sein soll, fällt jedem, der sich nur ein wenig in der zivilisierten Welt umsieht, klar in die Augen. Aber die große Frage ist: wie ist zu helfen? Daß die Zivilisation in ihrem Fortschreiten nicht aufgehalten werden kann, ist einleuchtend, denn dies vermag keine menschliche Macht. Allein vielleicht liegt in ihren Fortschritten selbst das[353] Mittel, daß sie zu jenem höhern Ziele führt. Schon der immer größere Verkehr der Völker mittelst des sich stets verbreitenden Handels, ihr Näherrücken aneinander mittelst der Dampfschiffahrt und der Eisenbahnen, die Verbrüderung derselben mittelst der erkannten Gleichheit ihrer Interessen, alles dieses muß sie notwendig zu der Überzeugung führen, daß sie Freunde sein müssen, und wenn es einmal so weit gekommen ist, daß die Völker sich als Freunde und Brüder ansehen und behandeln, wie wollte es wohl ein Fürst anfangen, sein Volk zu einem Kriege mit einem andern zu vermögen? Das Interesse des einen Volkes ist auch das Interesse des andern, alle Völker würden ihr gemeinsames Interesse wahren, und ein Krieg des einen gegen das andere wäre ein unsinniges Beginnen ihrer Fürsten. So realisierte sich die Idee eines ewigen Friedens von selbst, und welche unabsehbare Folgen würden sich nicht an die Realisierung dieser Idee knüpfen, nicht allein in Hinsicht der materiellen Interessen, sondern auch der moralischen?
Aber das Fortschreiten der Zivilisation bahnt sich noch in einer andern Hinsicht den Weg zu ihrem höhern Ziel. Je höher nämlich die Zivilisation steigt, je weiter sie sich in allen Klassen des Volks verbreitet, desto mehr verliert sich auch der Unterschied der Stände. Jeder Stand wird aufgeklärter, jeder gesitteter, jeder fühlt seinen Wert im Staat immer mehr, und wenn sich einmal der Handwerker in seiner Profession ebensoviel dünkt als der Gelehrte in der seinigen, der subalterne Beamte im Bewußtsein seiner Tüchtigkeit sich dem höher stehenden kühner gegenüberstellt und dieser, unverblendet von seiner Würde, einsieht, daß er ohne jenen keine sonderliche Rolle spielt, wenn auch schon der aufgeklärtere Landbauer erkennt, daß sein Stand ein ebenso ehrenwerter Stand ist als jeder andere, kurz, wenn es einmal so weit gekommen ist, daß die Vernunft über den Wert der menschlichen Dinge entscheidet, so kann es nicht fehlen, die Höhergestellten müssen von ihrer usurpierten Höhe heruntersteigen, sie müssen ihre eingebildeten Vorzüge gegen reellere zu vertauschen suchen, und welche könnten diese wohl sein als die moralischen? Freilich können, bis es dahin kommt, noch Jahrhunderte hingehen, aber ich bin überzeugt,[354] daß es einmal so weit kommen wird. Die Zivilisation muß dem Reich der Vernunft den Weg bahnen, denn das Reich der Vernunft ist das Reich Gottes, und die Menschheit hat entweder keine Bestimmung, oder die Menschen müssen früher oder später Bürger in dem Reich Gottes werden, welches schon auf dieser Welt beginnen muß, nicht erst in einer künftigen.
Dies bewirkt nach meiner Ansicht schon der Gang der Zivilisation selbst. Aber auch die Regierungen können das ihrige dazu beitragen, und dies geschieht vorzüglich durch Anordnung besserer Erziehungsanstalten und durch Einführung eines bessern Unterrichts überhaupt, und insbesondere in der Religion. Die Jugend lernt in den Schulen im ganzen weit mehr, als sie braucht, aber gerade das, was sie am nötigsten braucht, lernt sie am wenigsten. Der Mensch ist nicht zum Alleswissen, sondern zum Rechthandeln bestimmt, und recht handeln kann nur der Vernünftige oder, was dasselbe ist, der religiöse Mensch, denn die Vernunft ist das Göttliche im Menschen. Bisher war es vorzüglich der Verstand, auf dessen Ausbildung man ausging, und es ist unleugbar, daß der Zweck bereits in hohem Grade erreicht worden. Aber auch die Vernunft hat nicht minder große, ja noch größere Ansprüche auf ihre Ausbildung, und zur Befriedigung dieser Ansprüche ist die bloße Dressur zur Gesittung (denn die moralische Erziehung ist heutzutage selten etwas mehr) nicht genug. Die Jugend muß auch früh genug zum Bewußtsein des Sittengesetzes und zu einer innigen Achtung für dasselbe gebracht werden, und dazu kann bloß ein besserer Unterricht überhaupt und insbesondere in der Religion führen, das heißt in dem ursprünglich reinen Christentum, nicht in der darauf erbauten sogenannten christlichen Glaubenslehre, in welche es unter den Händen der Priester aus geartet ist. Freilich können die Regierungen zu dieser Verbesserung des Religionsunterrichts nur indirekt wirken, und auch dazu werden sie sich schwerlich verstehen, solange ihnen die christliche Glaubenslehre ebenso zu einem Werkzeug der Politik dient wie dem Klerus zur Behauptung seines Ansehens und seiner Macht über die Gemüter der Menschen. Allein in dem Christentum liegt eine höhere Macht als die Macht der Fürsten und Priester, und[355] so gewiß einst eine Zeit kommen wird, wo es als das, was es seinem Wesen nach ist, als eine Vernunftreligion erkannt und als solche allgemeine Weltreligion werden wird, so gewiß werden auch die Regierungen und selbst die Priester tätige Beförderer dieser heilbringenden Umwandlung werden. Die Fürsten nennen sich die Stellvertreter Gottes auf Erden; soll dieser Ausdruck einen Sinn haben, so müssen sie Gehülfen der Gottheit bei der Ausführung ihres Plans mit dem Menschengeschlecht sein, welcher kein anderer ist, als das Reich der Vernunft in die Welt einzuführen. Die Aufgabe der Fürsten kann daher keine andere sein, als aus dem zivilisierten Staat einen sittlichen zu machen, dessen Genossen nicht bloß Bürger, sondern auch Menschen sind. Freilich ist ein solcher sittlicher Staat eine Idee, welche dem ersten Ansehen nach ebenso unausführbar zu sein scheint als die Idee eines ewigen Friedens. Allein wenn es wahr ist, was Fichte sagt, daß das Streben aller Regierung dahin gehen muß, alle Regierung überflüssig zu machen, so ist die Zivilisierung der Staatsgenossen bloß Mittel zum Zweck, der Zweck selbst ist die Sittlichkeit derselben. Der Mensch, wenn er das werden und sein soll, was er allein im Staat werden kann, ein Mensch im vollen Sinne des Worts, muß sich zu einem sittlichen, d.h. sich nach dem Vernunftgesetz frei bestimmenden Wesen ausbilden. Ist er das nicht, und solange er es nicht ist, ist er ein Kunstmensch, ein menschliches Tier, das ebenso dem Zwang des Gesetzes wie das vernunftlose Tier seinem Instinkt folgt. Nur als ein sittliches Wesen kann der Mensch ein echter Staatsbürger sein. Denn nun ist es nicht mehr der äußere Zwang des Gesetzes, es ist der aufgeschlossene innere Sinn für den Zweck des Staates, der innere freie Antrieb, was ihn zum Gehorsam gegen das Gesetz bestimmt. Es dahin zu bringen ist allerdings eine schwere Aufgabe, und bis sie gelöst wird, können noch Jahrhunderte, ja Jahrtausende hingehen. Aber es ist genug, wenn die Menschheit diesem Ziel nur immer näher rückt, und daß dies wirklich der Fall ist, daran kann nur der zweifeln, der keinen Begriff von der Menschheit und ihrer höhern Bestimmung hat.
Ich bin weit entfernt, den Regierungen einen Vorwurf zu machen,[356] daß sie für das Wohl der Staatsbürger durch eine immer höhergetriebene Zivilisierung derselben sorgen, denn nur in einem zivilisierten Staat ist wahre sittliche Bildung möglich. Ich tadle nur, daß sie darüber vergessen, sie befördern bloß Scheinglückseligkeit, nicht wahre Glückseligkeit. Wahre Glückseligkeit kann nur die Frucht der sittlichen Ausbildung der Vernunft sein. Fehlt es an dieser, so mag die Zivilisation eine Höhe erreichen, welche sie will, solange die Haupttendenz derselben wie bisher Vervielfältigung und Erhöhung der Mittel zum sinnlichen Wohlbefinden bleibt, kann von wahrer Glückseligkeit nicht die Rede sein. Es ist bloß Scheinglückseligkeit, die dadurch befördert wird und die den Namen wahrer Glückseligkeit um so weniger verdient, da sie kein Gemeingut der zivilisierten Welt werden kann. Nur die Kinder des Glücks können sich in den Besitz der durch die Zivilisation herbeigeführten Mittel zum sinnlichen Wohlleben setzen. Aber auch die vom Glück minder begünstigten Menschen wollen genießen wie jene; sie können es nicht, weil ihnen die Mittel dazu fehlen, sie fühlen sich daher unglücklich und um so unglücklicher, je mehr sie Genüsse kennenlernen, welche sie sich aus Mangel an den Mitteln dazu versagen müssen. Nur der vernünftige Mensch begnügt sich mit dem Notwendigen, und auch im vollen Besitz aller Mittel zum sinnlichen Wohlleben weiß er sich zu mäßigen. Dafür aber genießt er um so mehr sich selbst, sein Wohlbefinden hängt nicht von seiner äußern Lage ab, die Quelle, aus der es entspringt, hat er in sich selbst, in dem Bewußtsein seines moralischen Werts, und diese innere Quelle fließt immer gleich reichlich, seine äußern Verhältnisse mögen sein, welche sie wollen. Daher genießt er auch eines Wohlbefindens, das kein äußerer Zufall trüben, das keine unbefriedigte Leidenschaft stören kann, das an keinen Stand gebunden ist, das auch dem Taglöhner zuteil wird, wenn er hat, was er zu seiner Leibesnahrung und Notdurft bedarf, und selbst dem Bettler, der von den Brosamen lebt, die von den Tischen der Herren fallen. Welch eine andere Welt würde die zivilisierte Welt sein, wenn nicht die Sinnlichkeit, sondern die Vernunft in ihr herrschte! Die Vernunft verbietet die sinnlichen Genüsse nicht, sie gebietet sie vielmehr,[357] weil der Mensch kein rein-vernünftiges, sondern ein sinnlich-vernünftiges Wesen ist. Sie verlangt nicht, daß die Menschen wieder in den Naturzustand zurückkehren und den Früchten der Zivilisation entsagen sollen, sie verlangt bloß, daß sie im Genuß derselben maßhalten, denn das Gesetz der Vernunft ist Maß. Sie verlangt nicht, daß der Fürst leben soll wie seine Untertanen, der Vornehme und Reiche wie der Geringe und Arme, der Stadtbewohner wie der Landbewohner, sie erkennt vielmehr den Unterschied der Stände als notwendig und nützlich an, aber sie verlangt, daß alle Stände auf gleiche Weise geachtet, keiner dem andern vorgezogen, keiner auf Kosten des andern begünstigt werde. Sie verlangt nicht, daß eine Gleichheit des Vermögens eingeführt werde, denn das ist unmöglich, aber sie verlangt, daß es keinem Staatsgenossen an dem Notwendigen zu seinem Lebensunterhalt fehle, denn darauf hat jeder Staatsgenosse gerechten Anspruch als Mensch, und es ist eine der heiligsten Pflichten der Regierungen, dafür zu sorgen, nicht durch Anweisung der Armen an die Mildtätigkeit der Wohlhabenden, sondern durch Anstalten zur Verminderung der Armut selbst. Sie verlangt nicht, daß der Fürst keinen glänzenden Hof um sich habe, keinen großen prächtigen Palast bewohne, keine köstliche Tafel halte und nicht auch in seinen Belustigungen und in den Festen, die er gibt, seine Würde behaupte; sie verlangt nicht, daß der hohe, den Thron umgebende Adel es dem Fürsten nicht nachtue, daß der Reiche in seinem Aufwand sich dem Adel nicht gleichstelle, aber sie verlangt, daß der Fürst die Staatseinkünfte nicht zu seinen Liebhabereien verschwende und nicht vergesse, daß er bloß der Verwalter derselben ist, und daß der Adelige und Reiche in seinem Aufwand nicht die gehörigen Grenzen überschreite; sie verlangt, daß sie von ihrem Überfluß die Dürftigen unterstützen, zur Errichtung und Unterhaltung der öffentlichen Armenanstalten beitragen und, was eine Hauptsache ist, in ihrer freiwilligen Frugalität den Geringen und Armen das Beispiel geben, daß man auch bei großem Reichtum mäßig sein könne, damit sie ihre erzwungene Frugalität desto leichter ertragen lernen. Denn was macht eigentlich die Armen unglücklich? Nicht die Armut an sich, in die man[358] sich findet, wenn man nur nicht an dem schlechterdings unentbehrlichen Mangel leidet, sondern der Neid auf die Vornehmen und Reichen, deren Aufwand ihnen hohnspricht, sie gegen sie erbittert und geneigt macht, wo es dazu Gelegenheit gibt, ihren Haß gegen sie auszulassen, jedem Aufwiegler, der ihnen ein besseres Schicksal verspricht, anzuhängen und ihnen zur Ausführung ihrer Plane die Hände zu bieten. Dies zeigt die Geschichte aller Revolutionen, und es ist ein großer Irrtum der Regierungen, wenn sie glauben, daß, um Revolutionen zu verhindern, alles getan sei, wenn sie der Urheber derselben habhaft geworden, und während sie diese einsperren und bestrafen, andere von ähnlichen Versuchen abzuschrecken hoffen, indem sie die Presse beschränken, alle verdächtige Bücher verbieten, die Zeitungen und Journale einer immer strengern Zensur unterwerfen und ihre Spione ausschicken, um jeden, der irgendeinen Verdacht böslicher Gesinnungen gegen die Regierung erregt, beim Kopf zu nehmen. Diese Maßregeln sind bloß Palliativmittel. Sie unterdrücken zwar den Ausbruch des Übels, aber sie helfen ihm nicht ab, sie beschleunigen vielmehr seinen Ausbruch, weil sie gegen die Regierung erbittern. Nur Zufriedenheit mit der Regierung, Zufriedenheit des ganzen Volks, beugt dem Übel gründlich vor, und es bedarf jener Palliativmittel nicht. Aber wodurch erwerben sich die Regierungen diese allgemeine Zufriedenheit? Nicht durch Konstitutionen, welche die Fürsten ihren Völkern aus Gnaden geben, nicht durch Abhaltung von Landtagen, auf welchen die Majorität nach dem Willen der Regierung stimmt, nicht durch eine immer weitere Verbreitung einer schimmernden, Licht lügenden Aufklärung unter dem Volk, welche dasselbe nur anmaßend und übermütig macht, nicht durch unbegrenzte Beförderung der Industrie und des Handels, wobei nur die Fabrikanten und Kaufleute reich werden, das Volk aber, zu immer größerem Luxus dadurch verleitet, verarmt und mit der Verarmung zugleich demoralisiert wird, sondern durch ein gutes Regiment, an dessen Spitze ein weiser, wohlgesinnter und willenskräftiger Fürst steht. Sei die Konstitution eines Staates so gut als sie will, die Organisation desselben von oben bis unten so trefflich als sie will, die[359] Hauptperson ist und bleibt immer der Regent. Er ist die Seele des Staates, die ihn trägt und regt, aber nicht dadurch, daß er, worein so viele Fürsten ihren höchsten Ruhm setzen, selbst regiert, sondern dadurch, daß er die Männer, durch welche er regiert, gehörig zu wählen und jeden an seinen rechten Platz zu stellen weiß, daß er die Würdigkeit zur Anstellung im Staatsdienst nicht nach den heuchlerischen Huldigungen, die seiner Person dargebracht werden, sondern nach dem Wert der Individuen bemißt, die sich darum bewerben, daß er sich nicht den Aristokraten, die ihm das Volk als den Feind der Fürsten darstellen, und der Priesterschaft, die es als für durchaus verdorben ausschreit, hingibt, sondern sich mehr auf die Treue desselben als auf die Treue der Aristokraten und auf die Redlichkeit der Priester verläßt, daß er überhaupt keinen Stand dem andern vorzieht, daß er sich nicht mit Günstlingen umgibt, die nicht seinen, sondern ihren Vorteil suchen, daß er keinem ihn zum Gott erhebenden Schmeichler Zutritt zu sich gestattet, keinem phantastischen, von Volksbeglückung und Glanzerhöhung der Krone faselnden Projektenmacher Gehör gibt, sondern überall selbst sieht, jeden seiner Untertanen mit ebender Aufmerksamkeit wie seine höchsten Staatsbeamten anhört und nicht verschmäht, auch aus gemeinem Mund Wahrheit zu vernehmen, kurz, wenn er ein ebenso gütiger als weiser und gerechter Fürst ist. So gedeiht nicht nur der Staat freudig unter seinem Zepter, und unter allen Klassen des Volks herrscht vollkommene Zufriedenheit, sondern er stellt sich auch als Muster für alle Klassen des Volks auf, vom Hofmann und Minister an bis hinunter zum Landbauer und Taglöhner. Durch Erfahrung belehrt, daß nur Rechtschaffenheit und wahres Verdienst vor ihm gilt, wird nicht leicht jemand Scheinverdienst vor ihm geltend machen wollen, nicht leicht jemand, ohne sich seiner Würdigkeit bewußt zu sein, sich um ein Amt oder eine Ehrenstelle bewerben, nicht leicht jemand über andere herrschen wollen, die sich nicht, seine Überlegenheit anerkennend, seiner Herrschaft freiwillig unterwerfen. Der Staat, von einem solchen Fürsten regiert, ist kein bloß so genannter, sondern ein wahrer Organismus, gleich dem gesunden menschlichen, in welchem jeder einzelne Teil seine[360] gehörige Stelle einnimmt, jeder wirkt, wie er seiner Bestimmung gemäß soll, und die Seele, die ihn belebt, durch keine krankhafte Verstimmung weder des Ganzen noch eines einzelnen Teiles in ihrer freien kräftigen Tätigkeit gehemmt wird. Schon jetzt gibt es solche Fürsten, und wenn in der Folge, was leider bisher selten der Fall war, auch die Fürstenkinder besser erzogen und vorzüglich in dem, was zu ihrer hohen Bestimmung gehört, unterrichtet werden, wird es ihrer noch mehr geben. Machen dann solche Fürsten die Mehrzahl aus, so wird wie in das Volksleben auch in die Politik mehr Moralität kommen. Wie der Egoismus der Völker wird auch der Egoismus der Fürsten verschwinden. Die Völker werden gleich Brüdern nebeneinander wohnen, die Fürsten werden Kosmopoliten werden, die Kriege werden aufhören, der ewige Friede wird kommen, das Goldene Zeitalter wird auch in der zivilisierten Welt wiederkehren.
Freilich können, wie schon gesagt, noch Jahrhunderte hingehen, bis es so weit kommt, aber daß diese Aussicht kein leerer Traum ist, zeigen die Fortschritte, welche die geistige und sittliche Kultur bereits gemacht hat, unwidersprechlich, und was so weit vorgeschritten ist, kann nicht mehr zurückschreiten. Es werden keine wilden Barbaren mehr in Europa eindringen, oder wenn sie es versuchen sollten, wird es ihnen nicht gelingen, sich festzusetzen, unsere tapfern Armeen würden sie alsbald in ihre heimatlichen Steppen zurückschlagen. Es wird nie in Europa ein asiatischer Despotismus aufkommen, und wenn, wie wir es noch in unsern Zeiten gesehen haben, auch in der Folge Eroberer auftreten sollten, die, ungewitzigt durch das Schicksal ihrer Vorgänger, auf Gründung von Universalmonarchien ausgehen, so werden sie doch keine Attilas und Dschengis-Khane sein. Wie jetzt schon die meisten europäischen Staaten konstitutionelle Monarchien sind, so werden es früher oder später alle werden, weil die Einführung konstitutioneller Verfassungen die unausbleibliche Folge der Zivilisation ist. Es werden zwar auch in den konstitutionellen Monarchien nicht immer weise und gute Fürsten den Thron zieren, es werden ihn auch selbstsüchtige und despotisch gesinnte besteigen, welchen die Konstitution[361] eine verhaßte Fessel ist, aber schwerlich wird es einer wagen, die Konstitution aufzuheben, er wird sie bloß zu untergraben versuchen, und auch diese Versuche werden um so weniger gelingen, je mehr die Konstitutionen selbst sich mit der fortschreitenden Zivilisation immer weiter ausbilden und befestigen werden. Was solche Fürsten nicht sind, das müssen sie wenigstens scheinen, und wie sie, diesen Schein zu behaupten, gezwungen sind, der Konstitution gemäß zu regieren, so werden auch ihre Gehülfen in der Regierung, ihre Minister und Räte, sich wohl hüten, ihnen die Hände zu Schritten zu bieten, welche für sie ebenso gewagt und gefährlich sind als für die Fürsten. – Auf den Gerichtsbänken werden zwar wie bisher nicht lauter gerechte Richter sitzen, aber mit der Verbesserung der Gesetzgebung, indem sie der Schikane und der Mißdeutung und Verdrehung der Gesetze weniger Raum gestatten wird, werden auch die Richter selbst besser und ihre Erkenntnisse gerechter werden. – Die Theologen werden zwar zur Aufrechterhaltung ihres priesterlichen Ansehens und ihrer Macht über die Gemüter der Menschen an ihrem Dogmensystem festhalten wie immer, aber seit man die Heiden nicht mehr mit dem Schwert bekehrt und die Ketzer nicht mehr auf Scheiterhaufen verbrennt, werden je länger, je mehr Bekämpfer desselben auftreten, bis es endlich dem ursprünglichen reinen Christentum, an dessen Stelle es getreten, Platz macht. – Unter den Ärzten wird es zwar auch in der Folge nicht an Homöopathen, Geistersehern und Teufelaustreibern und andern dergleichen Narren fehlen, aber die Mehrzahl wird sich am Krankenbette bilden und, keinem am Schreibtisch ausgeheckten System huldigend, das Heil der Medizin allein in den an demselben gemachten und zu sicher leitenden Grundsätzen und Maximen des Handelns benutzten Erfahrungen suchen und finden. – Unter den Philosophen endlich werden zwar noch manche auftreten, welche die übersinnliche Welt zum Gegenstand ihres Philosophierens machen und ihre metaphysischen Hirngespinste für die tiefste Erkenntnis, für das höchste Wissen halten und ausgeben, aber dieser spekulativen Philosophen werden immer weniger werden, je mehr man lernen wird, die Vernunft beim Philosophieren vernünftiger[362] zu gebrauchen, und je mehr zu hoffen ist, daß das Schicksal aller bisher aufgestellten spekulativen Systeme, der Untergang des einen nach dem andern, von ähnlichen Versuchen abschrecken und zu der Erkenntnis führen wird, daß die Philosophie vom Himmel, zu welchem sie sich verstiegen, wieder zur Erde zurückkehren muß, wenn sie fruchtbar für das Leben und ihr Einfluß auf Staatenregierung, Gesetzgebung, Erziehung und wahre Volksaufklärung heilbringend sein soll. So werden sich überall die Früchte unserer bereits so schön begonnenen und immer weiter fortschreitenden Zivilisation immer deutlicher zeigen; es wird kein finsteres Mittelalter, so sehr es auch blinde Verehrer desselben zurückwünschen und manche es zurückzubringen trachten, wiederkehren, es wird keine Zeit der Barbarei wiederkommen, die Menschen werden immer vernünftiger werden, und Licht und Recht wird früher oder später die allgemeine Losung in der zivilisierten Welt sein.
Dies sind die Resultate meiner philosophischen und historischen Studien, und wer, der Achtung vor der Würde der Menschheit hat und sie liebt, möchte sie wohl für leere Träume halten? Der Zustand der Menschheit unter der Herrschaft der Vernunft ist ihr natürlicher Zustand, ebenso natürlich als der Zustand der Tierwelt unter der Herrschaft des Instinkts. Daß die Menschheit diesem Zustand entgegenschreitet, zeigt die Geschichte unwidersprechlich, und wenn irgendetwas den Geist des Menschen erheben und sein Herz erfreuen kann, so ist es diese Aussicht auf die Zukunft. Daher war das Studium der Geschichte, welche diese Aussicht eröffnet, nebst dem Studium der menschlichen Natur, dessen Resultat mit dem Resultat des Studiums der Geschichte dasselbe ist, von jeher mein Lieblingsstudium. Ihm widmete ich, solange ich praktischer Arzt war, meine meisten müßigen Stunden, und seitdem ich es nicht mehr bin, ist das Lesen der die Geschichte in jenem Geist bearbeitenden Historiker, wie Gibbon, Rotteck, Schneller, Raumer und vor allen Herder, der Hauptgegenstand meiner literarischen Beschäftigung. Beinahe den ganzen Winter hindurch trieb ich nichts anders, und erst im Frühjahr fand ich nötig, eine Pause zu machen.[363]
Ich befand mich nämlich während des ganzen Winters geistig und körperlich wohl, doch fühlte ich, daß ich, früher an ein bewegteres Leben gewöhnt, zu viel gesessen hatte, und um den weiteren übeln Folgen einer sitzenden Lebensart zu begegnen, nahm ich mir vor, gleich nach dem Eintritt der bessern Witterung mir mehr Bewegung zu machen und wenigstens alle ernstere Studien eine Zeitlang aufzugeben. Ich ging daher täglich spazieren, oft stundenlang, benutzte diese Spaziergänge von Zeit zu Zeit zu Besuchen bei den Geistlichen in der Umgegend, die ich in Nördlingen, wo ich mit ihnen und ihren Frauen öfter in Gesellschaft zusammenkam, als gebildete und wackere Männer hatte kennenlernen, und zu Hause wandte ich mich wieder zu meinen alten Lieblingsdichtern, die ich nun mit ebendem Interesse als Greis las, mit welchem ich sie in meinen jüngern Jahren gelesen hatte. Sie unterhielten mich, sie erheiterten mich, ja sie machten mich wieder jünger, indem sie mich in die Zeiten versetzten, wo sie mir waren, was andern die Musik ist, und eine Zuflucht, wenn mich amtliche Verdrüßlichkeiten oder Unannehmlichkeiten anderer Art in üble Laune versetzen wollten. Vorzüglich war es Ariost, an den ich mich bei solchen Fällen wandte, ich durfte nur ein paar Gesänge in seinem »Rasenden Roland« lesen, und sogleich war alles wieder gut. Jetzt las ich vorzüglich die historischen Dramen Shakespeares, und wenn ich ihn in meinen frühern Jahren als den größten Dramatiker aller Zeiten bewunderte, so bewunderte ich jetzt, da ich selbst die Menschen besser kennengelernt hatte, an ihm den großen Kenner des menschlichen Herzens, in dessen Innerstes vielleicht keiner so tief geblickt hat wie er.
Ich habe nun mein neunundsiebzigstes Lebensjahr angetreten, und ich glaube nicht, daß mir in diesem hohen Alter noch etwas begegnen werde, was zu erzählen der Mühe wert wäre. Ich schließe daher meine Selbstbiographie und füge dem bisher Erzählten noch einige Bemerkungen über mich bei, die zur nähern Kenntnis meiner Individualität dienen mögen. Der Mensch mag in der Welt sein, was er will, ein Landbauer, ein Handwerker, ein Gelehrter, ein Staatsmann, ein Regent, die Hauptfrage ist immer: Was ist er, was war er als Mensch? Die[364] Beantwortung dieser Frage ist die Hauptaufgabe, welche der Selbstbiograph zu lösen hat, und so will ich denn mich dieser Obliegenheit nicht entziehen, ob ich schon weiß, daß die Beantwortung der Frage nicht ganz zu meinem Vorteil ausfallen wird.
Als der Sohn in beschränktem Wohlstand lebender und an eine einfache Lebensart gewöhnter Eltern wurde ich auch von ihnen zu der gleichen Lebensart erzogen, was um so leichter war, da ich meine frühern Kinderjahre in dem großelterlichen Haus auf dem Lande zubrachte, wo die Lebensweise noch einfacher war als in dem elterlichen. So wurde ich schon in meiner zartesten Kindheit zur Mäßigung in allen Arten sinnlicher Genüsse gewöhnt, und nachdem ich schon als ein zwölfjähriger Knabe als Zögling in die vormalige militärische Pflanzschule auf der Solitude eingetreten war, so wurde ich bei der in derselben eingeführten Lebensweise nicht nur bei der gewohnten Mäßigung erhalten, sondern die Angewohnheit an dieselbe wurzelte noch fester, da es in dem Institute durchaus an Versuchungen zur Unmäßigkeit fehlte. Dieselbe einfache Lebensweise setzte ich auch nach Verlegung der Pflanzschule nach Stuttgart, wo sie zur Militärakademie geworden, auf gleiche Weise fort, und als ich die Akademie in meinem einundzwanzigsten Jahr verließ, war sie mir so zur Gewohnheit geworden, daß mich nur sehr starke Anreizungen zu Exzessen verleiten konnten. Freilich fehlte es nach meinem Eintritt in das öffentliche Leben an solchen Anreizungen nicht, und ich kann nicht leugnen, daß ich ihnen öfters nicht zu widerstehen vermochte. Allein weil mir beinahe jeder Exzeß, den ich beging, eben weil ich nicht daran gewöhnt war, übel bekam, so fürchtete ich mich vor neuen und ließ mich deswegen seltner dazu verleiten. Der Hauptexzeß, den ich beging, war, daß ich zuweilen einige Gläser Wein zuviel trank; allein daß das Trinken bei mir nicht wie bei so vielen jungen Männern der damaligen Zeit zur Leidenschaft wurde, hatte ich eben meiner von der frühesten Jugend an gewohnten Mäßigkeit zu danken, die Mäßigkeit war Regel, der Exzeß Ausnahme, und wenn ich auch zuweilen einige Gläser zuviel trank, so geschah es immer in Gesellschaft mit Freunden, für mich allein trank ich nie, denn nur unter Freunden fühlte[365] ich, daß der Wein das Herz erfreut. – Noch weniger als der Wein verleitete mich ein wohlbesetzter guter Tisch, von meiner gewohnten Mäßigung abzuweichen. Ich war zwar gern zu Gast in Häusern, wo man gut aß und trank, aber immer freute mich die Gesellschaft mehr als das gute Essen und Trinken, und ich erinnere mich nur weniger Fälle, wo ich mir bei einem Gastmahl eine Indigestion zugezogen hätte. Diese Mäßigung war die Folge meiner Erziehung, und ich bilde mir darauf ebensowenig ein als auf meine Enthaltsamkeit in Rücksicht auf die Freuden der Liebe, welche ich vor meiner Verheiratung nie genossen hatte. Es ist nicht meine moralische Kraft, welcher ich beides zu danken habe, es sind meine Eltern und Großeltern und mein eilfjähriger Aufenthalt in der Karls-Akademie, denen ich dafür Dank schuldig bin.
Gleichen Dank bin ich auch meinen Eltern und Großeltern und der Karls-Akademie, und letzterer vorzüglich, für die Gewöhnung an Ordnung schuldig, welche mir ebenfalls zur andern Natur geworden und besonders als praktischem Arzt zustatten gekommen ist. Von meiner frühesten Jugend an gewohnt, immer früh aufzustehen und früh zu Bett zu gehen, blieb ich auch bis in mein hohes Alter dieser Gewohnheit getreu. So kam ich jeden Tag zur gehörigen Zeit an meine Geschäfte, so konnte ich in der Nacht von denselben gehörig ausruhen, um sie am folgenden Tag mit erneuter Kraft fortzusetzen; dadurch gewann ich nicht nur Zeit genug dazu, sondern ich konnte sie auch, eben weil ich weniger Eile hatte, desto besser besorgen. Wie ich als Zögling der Karls-Akademie im Sommer immer früh um sieben, im Winter um acht Uhr meine Hörsäle besuchte, so fing ich auch als praktischer Arzt um dieselbe Zeit meine Krankenbesuche an, und ich erinnere mich keines Tages, an dem ich nicht mit denselben fertig geworden wäre oder, um fertig zu werden, einen Kranken hätte versäumen müssen. Darüber kann ich mich auf das Zeugnis aller Familien berufen, deren Hausarzt ich war, in Ludwigsburg, in Würzburg und in Nürnberg. – Aber ein anderes ist es, die Kranken gehörig besuchen und keine versäumen, ein anderes, sie mit Lust und Liebe behandeln, und hier muß ich nun gestehen, daß ich nicht immer das Lob verdient[366] habe, welches mir meine Kranken gaben. Ich gab mir zwar alle Mühe bei ihrer Behandlung, ich besuchte sie auch in leichtern Krankheitsfällen fleißig und in bedeutendern täglich zwei-, auch dreimal, und mit Vergnügen sah ich, daß sie die Mühe, die ich mir mit ihnen gab, dankbar erkannten. Aber um so weniger war ich mit mir selbst zufrieden. Die meisten Kuren gelangen mir zwar, aber gewöhnlich waren die Krankheiten, die ich glücklich heilte, Krankheiten leichterer Art, welche, auch sich selbst überlassen, ebenso glücklich vorübergegangen wären. Dagegen spotteten schwerere Krankheiten desto öfter meiner Kunst, und weil ich glaubte, meine Aufgabe sei, auch von diesen, die nicht entschieden unheilbar sind, zu heilen, so setzte mich jeder Todesfall in die peinlichste Stimmung, die ich nicht wieder loswerden konnte, bis mir eine bedeutende Kur gelungen war. So faßte ich zwar wieder neuen Mut, zumal wenn, wie es öfter geschah, auf eine mißlungene Kur mehrere glückliche folgten; aber sooft diese glücklichen Kuren durch eine oder ein paar unglückliche unterbrochen wurden, erneuerte sich auch jene peinliche Stimmung wieder, und so konnte ich denn meines ärztlichen Lebens nie ganz froh werden. Ich sagte mir zwar immer, daß auch den geschicktesten und erfahrensten Ärzten Kranke genug sterben, daß der Arzt, wenn ihm ein Kranker stirbt, sich mit dem Bewußtsein trösten kann, nichts bei demselben versäumt zu haben, daß an dem Mißlingen vieler Kuren nicht der Arzt, sondern die Kranken, indem sie seine Verordnungen nicht genau befolgen, schuld seien, daß endlich die Heilkunst selbst noch viel zu unvollkommen sei, als daß der Arzt am Krankenbette seiner Sache überall gewiß sein und mit Sicherheit handeln könne. Allein diese Unvollkommenheit der Heilkunst war es eben, was mir die ärztliche Praxis verdrüßlich machte. Ich sah, daß ich mich einer Kunst gewidmet hatte, in welcher ich nie vollkommener Meister zu werden hoffen könne. Sooft ich einen Kranken verlor, bereute ich es, mich ihr gewidmet zu haben, und obschon meine gelungenen Kuren mich immer wieder ermutigten, so blieb mir doch stets der Zweifel, ob ich sie nicht vielmehr meinem guten Glück als meiner Kunst zu danken gehabt, ein Zweifel, dessen ich um so weniger Meister[367] werden konnte, da ich sah, daß so viele Ärzte von geringerem Talent, von weniger Kenntnissen und von beschränkterer Erfahrung, ja sogar Quacksalber nicht selten desselben Glücks sich zu erfreuen haben. Indessen war ich einmal praktischer Arzt, ich konnte nichts andres mehr ergreifen. Ich praktizierte daher fort, aber ich tat es nicht aus Lust und Liebe, sondern aus Pflicht, und was mir die Erfüllung dieser Pflicht erleichterte, war das Vertrauen, welches die Kranken in mich setzten und welches ich um so höher anschlug, da ich mich für überzeugt hielt, daß ich das Gelingen vieler meiner Kuren diesem Vertrauen zu danken habe. Denn das Vertrauen zu dem Arzt macht Mut, und der Mut ist eine Universalarzenei, wenn es irgend eine gibt.
Es ist leicht zu erachten, daß die Mißstimmung, in welche mich mein ärztliches Leben so oft versetzte, mich auch im geselligen Leben nie ganz verließ. Ich konnte zwar in Gesellschaften sehr heiter sein, und man sah mich gern in ihnen, weil ich reich an Anekdoten war, die ich zum besten gab, und auch manches andere teils aus meiner Lektüre, teils aus meiner Welterfahrung wußte, dessen Mitteilung der Gesellschaft Vergnügen machte. Allein ich durfte nur einen oder ein paar schwere Kranke in der Behandlung haben, so brachte ich eine verdrüßliche Stimmung in die Gesellschaft mit, und weil dieses öfters geschah und ich überhaupt von Natur still, in mich gekehrt, mehr in meinem Innern als nach außen beschäftigt und von meiner frühern Erziehung her etwas schüchtern war, so war ich im ganzen kein angenehmer Gesellschafter, ja viele, die mich nicht näher kannten, hielten mich für einen unfreundlichen, unteilnehmenden, stolzen Menschen. Freilich konnte ich den Leuten nicht so schmeicheln, wie es ihre Eitelkeit verlangt und wie man es besonders an den Ärzten gewohnt ist, denn das war mir weder von der Natur gegeben, noch achtete ich auch, mir meiner eigenen Mängel bewußt, die Menschen so hoch, daß ich ihnen hätte sonderlich schöntun können. So schöntun können ihnen nur diejenigen, die sie gewöhnlich nur im Sonntagshabit sehen, der Arzt hingegen, der sie auch im Schlafrock sieht, weiß besser, was an ihnen ist, und wenn ihnen die meisten Ärzte gleichwohl mehr Achtung und Verehrung bezeigen, als sie verdienen,[368] so sind sie entweder Heuchler, oder sie tun ihnen schön in der Hoffnung, desto reichlicher von ihnen bezahlt zu werden. Aber Begierde nach Reichtum war nie meine Sache, und deswegen beneidete ich nie einen meiner Mitärzte um ihre ausgebreitete und einträgliche Praxis. Ich rivalisierte mit keinem, und wenn ich nur mit einigen auf einem freundschaftlichen Fuß stand, so war es nicht Neid auf die andern, sondern die Verschiedenheit unserer Denkungsart, unserer Ansichten und unseres Betragens, was uns auseinanderhielt. Von Jugend auf an Mäßigung gewöhnt, war ich zufrieden, wenn ich erwarb, was ich bedurfte, um meiner Familie eine sorgenfreie, behagliche und anständige Existenz zu verschaffen, und weil es mir nie an etwas hiezu fehlte, so hatte ich nie nötig, Leuten Komplimente zu machen, die ich nicht ihrer Persönlichkeit wegen achtete. So erschien ich freilich vielen als ein unfreundlicher, unteilnehmender und stolzer Mensch. Allein ich war es nicht. Ich war wohlgesinnt gegen alle meine Mitmenschen, ob ich schon mit wenigen auf einem eigentlich freundschaftlichen Fuß stand. Ich war teilnehmend an den Leiden meiner Kranken, obschon ich es zuweilen weniger schien, weil ich, sooft es not tat, ernst und streng gegen sie war; ich suchte mir ihr Vertrauen nicht durch unzeitiges Mitleid, sondern durch die Mühe, welche ich mir mit ihnen gab, zu erwerben, und wenn man mich für stolz hielt, so gab ich dazu bloß dadurch Anlaß, daß ich öfters an Personen, welche ich nicht näher kannte, gleichgültig vorüberging, und andere, welche ich ihrer Persönlichkeit wegen nicht lieben und achten konnte, nicht so komplimentierte, wie es die Konvenienz forderte. Ich kannte mich selbst zu gut, um irgendeinen Menschen zu verachten, ich bedauerte vielmehr die Verächtlichen, weil ich fühlte, wie weit ich selbst hinter dem Ideal zurückstand, welches ich mir von einem Menschen, wie er seiner Bestimmung nach sein soll, gebildet hatte. Daher ging auch mein Bestreben stets auf meine weitere Ausbildung, wie für die Kunst, der ich mich gewidmet hatte, auch für das gesellige Leben, in welchem ich mich als Arzt bewegte. Freilich waren die Fortschritte, welche ich in beiden machte, nicht groß; aber ich fühlte doch, daß ich immer etwas vorwärtskam – in meiner Kunst, indem ich sie[369] zwar nie in dem großen Vertrauen auf sie wie die meisten ältern praktischen Ärzte, aber doch, an Erfahrung reicher geworden, mit mehr Sicherheit und Dreistigkeit übte – in dem geselligen Leben, indem ich in den Gesellschaften, die ich besuchte, mich jederzeit, wenn auch nicht immer freundlich, heiter und unterhaltend, doch anständig und würdig und als einen Mann betrug, der die Wahrheit liebt, das Böse haßt und das Gute schätzt und zu befördern sucht, soviel er es in seiner Lage vermag.
Mehr als im geselligen Leben zeigt sich der Mann, wie er ist, in dem häuslichen, als Gatte und Familienvater. Ich war, als ich heuratete, siebenundzwanzig und meine Frau siebenzehn Jahre alt. Unseren Ehebund hatte die Liebe gestiftet, und wie glücklich meine Wahl war, brauche ich nicht zu sagen, da ich in dem zweiten Buch dieser Geschichte die Vorzüge meiner Frau zur Genüge geschildert zu haben glaube. So jung sie war, so besaß sie doch alle Eigenschaften, welche zur Führung auch eines größern Hauswesens als das unserige erfordert werden. Ich konnte ihr dasselbe ganz überlassen, und ich tat es auch. Was ich einnahm, gab ich in ihre Hände, sie konnte darüber schalten und walten, wie sie wollte, und ich hatte nie Ursache, es zu bereuen, da sie bis zu ihrem Tod eine ebenso verständige als treue Verwalterin desselben war. Beiderseits an Sparsamkeit gewöhnt, kamen wir mit unserem Einkommen, so gering es auch im Anfang war, doch ganz gut aus, und wenn die kluge Ökonomie meiner Frau schon an sich selbst mir höchst schätzbar war, so ward sie mir es noch mehr dadurch, daß ich, frei von allen häuslichen Sorgen, desto heiterer und mutiger meine Berufsgeschäfte betreiben konnte. So war es, da wir noch keine Kinder hatten, und so blieb es auch, nachdem uns eine Tochter und zwei Jahre darauf ein Sohn geboren worden und nun ein neues Geschäft auf meine Frau wartete, die Erziehung unserer Kinder. Auch dieses Geschäft besorgte sie ebenso verständig und gewissenhaft als ihre Haushaltung. Sie erkannte, daß bei Kindern beiderlei Geschlechts die erste. Erziehung vorzüglich der Mutter obliege, und wenn meine Tochter eine tüchtige Hausfrau, eine treue Gattin und eine sorgsame Mutter ihrer Kinder geworden[370] und mein Sohn bei seinem Austritt aus dem elterlichen Hause ein durchaus unverdorbener Jüngling war, so ist dies vorzüglich das Verdienst ihrer Mutter. Was sie selbst war, sollte auch ihre Tochter werden, eine tüchtige bürgerliche Hausfrau, und wenn mein Sohn nicht geblieben ist, was er bei seinem Austritt aus dem elterlichen Haus war, so ist es weniger ihre Schuld als die meinige. Ich hatte ihm zuviel zugetraut, ich hatte nicht gefürchtet, daß ein so verständiger, so gut gearteter und so fleißiger Mensch, auch wenn er die schlechtesten Beispiele vor sich haben würde, ausarten könne, und wie er die Universität Erlangen bezog, dachte ich um so weniger daran, ihn unter Aufsicht zu stellen, da er sich während seines Aufenthalts auf der Universität Altdorf stets als einen ebenso gesitteten als fleißigen Studenten betragen hatte. Hätte ich von der traurigen Verwandlung, welche in Erlangen mit ihm vorging, früher etwas erfahren, so wäre es mir vielleicht gelungen, ihn auf den Pfad des Guten wieder zurückzubringen. Allein wie es leider in solchen Fällen oft geschieht, daß die Freunde uns mit bösen Nachrichten von den Unserigen verschonen wollen, so geschah dies auch hier, und als ich erfuhr, was mehrere meiner Freunde längst wußten, war es bereits zu seiner Rettung zu spät. Als ein von Natur guter Mensch sah er zwar die mit ihm vorgegangene Veränderung sehr wohl ein, und die Vorwürfe und Ermahnungen, die er von mir erhielt, bewirkten jedesmal die tiefste Reue wegen des Vergangenen und die besten Vorsätze für die Zukunft bei ihm, allein es erfolgte immer nur eine vorübergehende Besserung. Das Übel war bereits zu tief gewurzelt, als daß er seine guten Vorsätze hätte zur Ausführung bringen können, und so starb er als ein trauriges Opfer desselben in einem Alter von fünfunddreißig Jahren.
So hatten wir nun nur noch ein einziges Kind, unsere an den nunmehrigen königlichen Postverwalter in Nördlingen verheuratete Tochter, und da ich bald nach dem Tode meines Sohnes auch meine Frau verlor und entschlossen war, nicht wieder zu heuraten, so blieb ich nicht nur bei ihr wohnen, sondern begab mich auch bei ihr in die Kost. So lebten wir in Nürnberg neun Jahre zusammen, und nachdem mein Schwiegersohn zum Postverwalter[371] in Nördlingen befördert und ich in den Ruhestand versetzt worden, wählte auch ich Nördlingen zu meinem Aufenthaltsort. Gleich meiner Frau besorgte mich auch meine Tochter wie in Nürnberg auch in Nördlingen zu meiner vollkommenen Zufriedenheit. Auch war ich im ganzen mit der Art, wie sie ihre Kinder, drei Mädchen, erzog, wohl zufrieden, nur bedurfte sie dabei der Mitwirkung einer Gehülfin, weil man gegenwärtig weit mehr von einem gebildeten Frauenzimmer verlangt als ehedem. Die Kinder erhielten daher eine Gouvernantin, und wir waren so glücklich, eine Person zu finden, wie wir sie wünschten, ein Mädchen von zwanzig Jahren, welches in allem, was die Kinder von ihr lernen sollten, wohl unterrichtet war und, was besonders mir sehr am Herzen lag, nicht zu den Gouvernantinnen gehörte, welche das Höchste zu leisten glauben, wenn sie ihre Zöglinge, wie man sagt, für die Welt erziehen, eine Erziehung, bei welcher, wie die Erfahrung lehrt, so häufig das Wesentliche dem Unwesentlichen, das Nützliche dem Angenehmen, die Bildung für das Haus der Bildung für die Welt aufgeopfert wird. Schon die Knaben, die doch einer vielseitigen Ausbildung bedürfen, lernen heutzutage viel und mancherlei, was sie zu ihrem künftigen Beruf nicht brauchen; um so mehr ist es bei Mädchen gefehlt, wenn sie Dinge lernen sollen, die ihnen zur Ausbildung für ihre wahre Bestimmung nicht nur nicht förderlich, sondern vielmehr hinderlich sind. Dem weiblichen Geschlecht ist sein Wirkungskreis in dem Hause angewiesen, eine sorgsame, fleißige Hausfrau, eine liebevolle, treue Gattin, eine wachsame, liebende Mutter, eine verständige, gewissenhafte Erzieherin ihrer Kinder zu werden ist des Mädchens Bestimmung, und der Hauptzweck der weiblichen Erziehung ist verfehlt, wenn dabei mehr auf äußere Auszeichnung als auf echte weibliche Ausbildung hingearbeitet wird. Denn auch abgesehen, daß für letztre gewöhnlich um so weniger getan wird als zu viel für die erstere, so verlieren auch die so erzogenen Mädchen gar leicht den Sinn für das Wesentliche, so daß sie, wenn sie sofort Frauen und Mutter werden, nicht mehr das Versäumte nachzuholen vermögend, sich um so unglücklicher fühlen, je mehr sie gewahr werden, daß zur Erfüllung[372] der Pflichten, die ihnen dieser neue Stand auflegt, etwas mehr erfordert wird, als eine Virtuosin auf dem Klavier, eine Künstlerin an der Strickrahme zu sein, französisch, italienisch und englisch sprechen zu können und in Gesellschaften als modisch fein gebildete oder gar als gelehrte Damen sich produzieren zu können. Diese Bemerkungen wiederholte ich, sooft ich dazu Gelegenheit fand, gegen meinen Schwiegersohn, und ich freue mich, sagen zu können, daß sie bei ihm nicht ohne Wirkung geblieben, ob er schon auf die Erziehung für die Welt mehr Wert legte als ich. Besonders aber widerriet ich, die Kinder in ein öffentliches Mädcheninstitut zu geben, nicht nur weil ich überhaupt wenig auf diese Institute halte, da die Mädchen, so wie sie für das häusliche Leben bestimmt sind, auch zu Hause erzogen werden müssen, sondern auch weil ich kein solches Institut kenne, ja keines für möglich halte, wo die Mädchen zu dem, was sie ihrer Bestimmung nach werden sollen, erzogen werden können. Auch darüber war mein Schwiegersohn mit mir einverstanden, und ich zweifle nicht, daß er seiner Ansicht getreu bleiben werde, auch dann, wenn ich nicht mehr am Leben bin. Meine drei Enkelinnen sind alle von der Natur so ausgestattet, daß ich hoffen darf, sie werden einst werden, was ihre Großmutter war, und ich glaube, daß dies auch für die jetzige Zeit, ungeachtet der größern Anforderungen, welche man jetzt an das weibliche Geschlecht macht, genug wäre, denn alles hat sein Maß, und wie wenig auch hier das rechte Maß überschritten werden darf, ersieht man daraus, daß, was man bei dem weiblichen Geschlecht höhere Bildung nennt, genau betrachtet, sehr oft Verbildung ist.
Bei einem so lebhaften und reizbaren Temperament wie das meinige und bei der häufigen Verstimmung, in welche mich meine Berufsgeschäfte setzten, konnte es nicht fehlen, wie in die Gesellschaften, die ich besuchte, mußte ich diese Verstimmung auch in den Kreis meiner Familie mitbringen, und da man sich zu Hause weniger zusammennimmt als in öffentlicher Gesellschaft, so war in solchen Stunden übler Laune auch die unbedeutendste Kleinigkeit imstande, mich auf eine Art aufzuregen, daß ich mich oft im eigentlichen Verstand ungebärdig benahm.[373] Indessen war meine Frau verständig und ruhig genug, den Pulvermüller, wie mich ihre Freundin Paulus nannte, ausbrausen zu lassen, und sie konnte es um so mehr tun, da sie wußte, daß nichts als ihr ruhiges Betragen nötig war, um den bösen Dämon alsbald von dem guten besiegt zu sehen. War der kurze Sturm vorüber, so war ich der gutmütigste Mensch von der Welt, denn es gibt wohl wenig gutmütigere Menschen, als ich von Natur bin, ja ich möchte sagen, daß meine Gutmütigkeit zuweilen zu weit ging, und besonders habe ich mir diesen Vorwurf in betreff meines Sohnes zu machen, dem ich immer wieder verzieh, wenn er Reue wegen seiner Vergehungen bezeigt hatte. – Überhaupt war ich, wenn ich bei guter Laune war, in welche mich auch die unbedeutendsten erfreulichen Ereignisse setzen konnten, heiter, lustig, oft bis zur Ausgelassenheit, freundlich gegen jedermann, dienstfertig, wohltätig, kurz alles, wodurch ein guter Mensch sich zu erkennen gibt. Dies wußte niemand besser als meine Frau, und daher war auch unsere Ehe, ungeachtet der öftern, durch meine nach Hause mitgebrachte Verstimmung veranlaßten Mißhelligkeiten, eine glückliche Ehe. Wie mich meine Frau, so liebte ich auch sie herzlich, und den sprechendsten Beweis, wie gewiß sie meiner Liebe war, gab sie mir dadurch, daß sie sich nie etwas daraus machte, wenn sie sah oder hörte, daß mir auch andere schöne und liebenswürdige Frauen und Mädchen wohlgefielen, ja selbst nicht, wenn dieses Wohlgefallen bis zum Courmachen ging. Sie hielt es für das, was es war, für etwas Vorübergehendes, das meiner nicht auf Wohlgefallen an ihrer schönen Gestalt, sondern auf Anerkennung ihres innern Werts gegründeten Liebe zu ihr keinen Eintrag tun konnte und das sie mir um so lieber verzieh, da sie dabei immer mehr gewann als verlor. – So herzlich wie meine Frau liebten mich auch meine Tochter und mein Schwiegersohn und, seit ich Großvater bin, auch meine Enkel, und wie lieb auch sie mir waren und sind, gab ich ihnen nicht nur dadurch zu erkennen, daß ich nach dem Tod meiner Frau, wo ich wohl hätte wieder heuraten können, Witwer blieb und mit ihnen nach Nördlingen zog, sondern auch dadurch, daß ich selbst der Lehrer meiner Enkel wurde, indem ich sie in allem, wozu es in Nördlingen an Lehrern fehlte und[374] was ich zu ihrer geistigen und sittlichen Bildung für notwendig hielt, unterrichtete.
Aber zur vollständigen Schilderung meiner Individualität gehört auch noch eine nähere Darstellung meines medizinischen und religiösen Glaubensbekenntnisses, und über beide werde ich mich wie über alles andere aussprechen, wie ich denke. Zuerst also mein medizinisches Glaubensbekenntnis. Ich habe dasselbe schon früher in der Schrift »Rhapsodien aus den hinterlassenen Papieren eines praktischen Arztes«, herausgegeben von Ernst Friederich Wahrhold, abgelegt, und da es noch dasselbe ist, so brauche ich es hier bloß zu wiederholen. Es lautet, wie folgt.
Ich würde gegen meine Überzeugung sprechen, wenn ich behaupten wollte, wir seien in der Heilkunst nicht weitergekommen als die Alten. Allein ich glaube, daß man dies nur in wissenschaftlicher Beziehung mit Grund sagen kann. In der Praxis sind wir nur in der Chirurgie bedeutend weitergekommen, in der Medizin hingegen nur um einige Schritte. Wir sind wohl im Besitz mehrerer Heilmittel als die Alten, wir handeln rationeller als sie, wir sind tätiger als sie. Aber wir heilen deswegen nicht glücklicher, es genesen und sterben uns im ganzen ebenso viele Kranke als ihnen. Wären wir bessere praktische Ärzte als sie, so müßte die Zahl der Genesenden notwendig größer sein, die Sterblichkeit müßte sich im ganzen vermindert haben, was doch keineswegs der Fall ist. Wollte man sagen, die Menschen seien im Altertum gesünder gewesen, es seien weniger Krankheiten vorgekommen, die Krankheiten seien einfacher, mehr akuter als chronischer Art und wegen der einfachen Lebensweise und der kräftigern Konstitution der damaligen Menschen leichter zu heilen gewesen als jetzt, so gebe ich dieses alles gern zu. Allein die Frage ist hier nicht von der Zahl der Genesenden und Sterbenden überhaupt, sondern von der Zahl der Kranken, die geheilt oder nicht geheilt werden, und in dieser Rücksicht ist der Unterschied wahrlich nur sehr unbedeutend. Sowohl an akuten als an chronischen Krankheiten sterben jetzt noch ohngefähr[375] ebenso viele Menschen als zu den Zeiten des Hippokrates. Die Natur beider Krankheitsklassen hat sich nicht geändert, ihre Ursachen sind noch ebendieselben, sie selbst sind nicht bösartiger geworden, unsere veränderte Lebensart hat sie nicht verschlimmert, sie ist bloß schuld, daß die chronischen Krankheiten im Verhältnis zu den akuten häufiger geworden und daß einige Krankheiten, welche die Alten nicht kannten, entstanden sind. Man kann also bloß sagen, daß jetzt mehr Kranke an chronischen Krankheiten sterben als zu den Zeiten des Hippokrates, und wenn wir, was ich keineswegs leugne, in der Behandlung dieser Krankheiten glücklicher sind als die Alten, so kommt dies bloß daher, daß wir im Besitz wirksamerer Mittel gegen sie sind. Allein warum leisten wir mit so wirksamen Mitteln nicht noch mehr? Warum sterben uns beinahe noch ebenso viele Kranke? Offenbar, weil wir von unsern Mitteln noch nicht den rechten Gebrauch zu machen verstehen. Denn was tun wir? Wir erklären ihre Wirkungsart nach den Prinzipien des herrschenden Systems, wir richten uns nach diesen Prinzipien bei ihrer Verordnung, wir achten aus allzu großem Vertrauen auf ihre Kräfte zu wenig auf die Heilkraft der Natur. Die Folge davon ist, wir wählen nicht überall die passenden Mittel, wir laufen mit den gewählten gleichsam Sturm auf die Krankheit. Durch dieses zu tätige Verfahren stören wir die Natur, die doch von der Kunst bloß unterstützt werden soll in ihren Heilbestrebungen, und anstatt die Krankheit schneller zu heben, verzögern wir vielmehr ihre Heilung, und anstatt sie zu heilen, machen wir sie unheilbar. So kann freilich unsere neuere rationelle Heilkunst wenig mehr leisten als die alte empirische, und der Unterschied besteht bloß darin: den Alten fehlte es an dem erforderlichen Vorrat wirksamer Mittel, sie mußten daher die Heilung der Krankheiten größtenteils der Natur überlassen; wir neuern Ärzte haben vielmehr Überfluß als Mangel an wirksamen Mitteln, aber wir sind mit diesen Mittel zu freigebig, statt die Natur bloß zu unterstützen, wollen wir sie meistern, und doch ist nichts gewisser als der sich zu allen Zeiten bewährte Ausspruch der Erfahrung, daß nicht der Arzt, sondern die Natur die Krankheiten heilt, daß der Arzt nur der Diener[376] der Natur, nicht ihr Herr und Meister ist. Freilich bedarf die Natur sehr oft der Unterstützung der Kunst, und es ist bekannt, wieviel wir durch rechtzeitige Aderlässen, durch Brechmittel und Laxanzen, durch unsere sogenannten auflösenden Mittel, durch das Opium und andere Narkotika, durch die Chinarinde, das Quecksilber und andere Metallpräparate, kurz, durch eine Menge unserer Arzneimittel, zur rechten Zeit und auf die rechte Art angewendet, selbst in den bedenklichsten Fällen vermögen. Aber es ist nicht minder bekannt, daß wir mit allen diesen Mitteln wenig oder nichts leisten, wenn die Natur nicht das meiste dabei tut. Die Heilkraft der Natur ist das größte aller Heilmittel, das hat man in der neuesten Zeit am auffallendsten an den homöopathischen Kuren gesehen, die offenbar ohne alle Arzeneien (denn die homöopathischen sind keine) erfolgen; nächst dem Glauben an das Wunderbare und Unbegreifliche tut die Heilkraft der Natur dabei alles. Aber auch bei unsern wissenschaftlichen Kuren tut sie wenigstens das meiste, und wieviel wir auch mit unsern künstlichen Mitteln leisten mögen, so unterstützen wir bloß damit die Heilkraft der Natur, die Heilung selbst ist lediglich ihr Werk. Das haben von jeher alle erfahrene und denkende Ärzte eingesehen, und auch ich selbst habe mich davon in meiner vieljährigen Praxis zur Genüge überzeugt. Ich habe bei Epidemien, sowohl in der Stadt als auf dem Lande, deren ich sehr viele zu behandeln hatte, gesehen, daß viele sehr schwer Erkrankte, welche, wie das bei dem gemeinen Volk gewöhnlich der Fall ist, gar keine Arzeneien nahmen, ebenso bald und ebenso vollständig genasen als andere, welche alles nahmen, was ich ihnen verordnete. Ebenso habe ich bei chronischen Krankheiten sehr oft die Erfahrung gemacht, daß ich bei ihnen weit mehr mit einer angemessenen, streng gehaltenen Diät ausrichtete als mit den Arzeneien, die ich aus der Apotheke verschrieb. Ohne Zweifel haben auch andere Ärzte diese Erfahrungen nicht minder häufig gemacht und gleich mir, durch diese vielfältigen Erfahrungen belehrt, die Maxime befolgt, nur da tätig einzuschreiten, wo die Heilung der Natur nicht allein überlassen werden kann. Allerdings kommen solche Fälle oft vor, aber ebenso oft kommen auch die entgegengesetzten[377] vor, und hier ist es offenbar, daß die Kunst mehr schadet als nützt, ja wo sie oft noch weit mehr schaden würde, wenn die Natur nicht wieder gutmachte, was die Kunst verdarb. Wie wahr dieses ist, ersieht man schon daraus, daß bei allem Wechsel der Heilmethoden, welche die von Zeit zu Zeit aufkommenden Systeme zur Folge gehabt, dennoch die Zahl der Genesenen und Gestorbenen im ganzen immer dieselbe gewesen. Geschadet hat dieser Wechsel der Heilmethode allerdings, und er mußte schaden, weil die Theorien, worauf sie sich gründeten, einseitig waren, denn alles Einseitige schadet und muß schaden. Aber was war's, was ist's, und was wird's immer sein, was da macht, daß auch die einseitigste verderblichste Methode nicht soviel schadet, als man mit Recht fürchten sollte? Die Heilkraft der Natur ist's, die, wie sie überhaupt nur zu oft unsere Ehrenretterin ist, zum Glück auch unsere größern gegen sie begangenen Unbilden wieder gutmacht. Siegreich über alle Methoden, die bisher aufgekommen, stand sie da, siegreich über alle, die künftig aufkommen werden, wird sie dastehen, und nur die Methode, die ihr abgelernt ist, die auf Erfahrung gegründete und auf dem Weg der Erfahrung immer mehr vervollkommnete, die empirisch-rationelle, vermag sie in ihrem Sieg zu unterstützen. Daher ist das Krankenbette die wahre Schule für den praktischen Arzt, und nur in dieser Schule kann er sich zu einem solchen bilden.
Ich bin weit entfernt, die Fortschritte zu verkennen, welche die Medizin als Wissenschaft in neuern Zeiten gemacht hat. Ich weiß und schätze es sehr hoch, was in der Anatomie, Physiologie, Pathologie, Pharmazie usw. teils auf dem Weg der Beobachtung, teils auf dem Weg der Spekulation getan worden. Aber ich glaube, daß noch sehr viel fehlt, um auf die bereits gewonnenen halben Begriffe von dem Wesen des Organismus und seinem gesunden und kranken Leben ein auch für die Praxis brauchbares System bauen zu können, ja ich zweifle, ob wir überhaupt jemals zu einem solchen System gelangen werden.[378] Wie viele Systeme der Heilkunde sind nicht bereits aufgestellt worden, aber können wir wohl von irgendeinem sagen, daß es uns am Krankenbette nicht im Stiche gelassen hätte? So viel sie bei ihrer Erscheinung versprachen, so viele Anhänger sie fanden, so hoch sie im Anfang gepriesen wurden, sie haben alle ihren Tag erlebt, das Brownsche so gut als das Boerhaavsche, das näturphilosophische so gut als das Brownsche, und so viele auch in der Folge aufstehen mögen, sie werden alle das gleiche Schicksal haben, denn opinionum commenta delet dies. Ein für die Praxis brauchbares System kann nur auf lautere, durch keine spekulative Ansicht getrübte Erfahrung gebaut werden, und ein solches ist allein das empirisch-rationelle, zu welchem die Alten, und vorzüglich Hippokrates, den Grund gelegt haben. Die spekulativen Systeme mögen wohl die Fortschritte der Wissenschaft beurkunden und dem Scharfsinn ihrer Urheber Ehre machen; am Krankenbett macht nur Erfahrung den Meister, und um als Meister zu handeln, sind nur praktische Grundsätze, h.h. unmittelbar aus der Erfahrung abgeleitete Regeln und Maximen des Handelns nötig und nützlich.
Ich bin weit entfernt zu behaupten, unsere bisher aufgekommenen spekulativen Systeme hätten für die Praxis gar keinen Nutzen gehabt; die schärfere Beobachtung der Erscheinungen der Krankheiten, wozu ihre Prüfung am Krankenbette führte, müßte auch zu einem schärfern Studium der Gesetze des kranken Lebens anregen und zu nützlichen Resultaten für die Praxis führen, auf welche man vielleicht ohne sie nicht gekommen wäre. Allein ich glaube, daß sie auf der andern Seite wohl ebensoviel geschadet haben, indem sie, selbst auf einseitige Ansichten gegründet, auch dem Beobachtungsgeist eine einseitige Richtung gaben, wodurch er statt mit der gehörigen Freiheit und Unbefangenheit, vielmehr im Geist des Systems zu wirken bestimmt wurde – eine Richtung, vor welcher auch der Unbefangenste nicht sicher ist und welche zu nehmen er um so leichter versucht wird, je mehr ihm einerseits das System selbst[379] wegen seiner Neuheit, der scheinbaren Richtigkeit seiner Prinzipien und der Konsequenz, mit welcher es durchgeführt ist, einleuchtet und je mehr ihm anderseits um des Gewinns willen, welchen er für die Praxis von ihm erwartet, daran gelegen ist, es durch seine eigenen Beobachtungen und Erfahrungen zu bestätigen. So hat von jeher jedes neu aufgestellte System wie seine Anhänger und Verfolger auch seine Beförderer unter den praktischen Ärzten gefunden. Getäuscht von allen vorhergegangenen Systemen, aber eben deswegen das Bedürfnis eines bessern um so stärker fühlend, greifen sie mit beiden Händen nach dem neuen. Sie glauben, weil es noch mehr verspreche, leiste es auch mehr. Sie fangen an, nach demselben zu handeln, und die gemachten Kuren scheinen es zu bestätigen, weil sie dieselben den Grundsätzen des Systemes gemäß deuten. Allein sie bedenken nicht, daß die Grundsätze des Systems selbst von einseitigen Beobachtungen und Erfahrungen abstrahiert sind und daher unmöglich allgemeingültige Grundsätze sein können, wie doch ein jedes System, das haltbar sein soll, fordert, und wenn früher oder später das System fällt, werden sie mit Schrecken gewahr, daß sie abermals getäuscht worden. Um nur ein Beispiel anzuführen, welche Sensation hat nicht das Brownsche System bei seiner Erscheinung gemacht! Haben ihm nicht alle erfahrenen Ärzte so gut wie die jüngern gehuldigt? Haben sie nicht ihr früheres Wissen als eiteln unnützen Quark gegen die Brownsche Lehre vertauscht? Haben sie nicht von dem Augenblick an, da sie zu ihm übergingen und nach Brownschen Grundsätzen zu handeln anfingen, ihre Erfahrungen diesem Grundsatze gemäß erklärt? Haben sie nicht diese Erfahrungen als ebenso viele Beweise für die Richtigkeit jener Grundsätze angesehen und auf alle Weise geltend zu machen gesucht? Aber das Brownsche System, von unbefangenern, der wahren Erfahrung treuer gebliebenen Ärzten näher geprüft und gestürzt, fiel wie alle seine Vorgänger. Seine Anhänger kamen zur Besinnung, schämten sich, Brownianer gewesen zu sein, dankten Gott für die der Natur verliehene Heilkraft; und also bekehrt gingen sie wieder zu ihrem verlassenen rationellen Empirismus über. Diese temporären Verirrungen schaden zwar durch die Mißgriffe,[380] zu denen sie in der Praxis verleiten, sehr viel, und sie würden ohne Zweifel noch mehr schaden, wenn die Natur nicht wieder gutmachte, was jene Mißgriffe verderben. Aber ich glaube, daß der Schaden noch größer ist, welchen sie in der Heilkunst selbst verursachen. Sie machen die frühern Erfahrungen zweifelhaft, sie bereichern die Heilkunst mit keinen sichern neuen Erfahrungen, der allgemeine Gewinn an wahrer Erfahrung wird geschmälert, und die Ausbildung das einzig wahre, für die Praxis brauchbarere System, des empirisch-rationellen, wird in ihren Fortschritten aufgehalten.
Ich bin überzeugt, daß unser Heilmittelapparat, sosehr er auch mit entbehrlichen und mit Recht auszumerzenden Mitteln überladen ist, doch einen ungleich größern Schatz von wirksamen Mitteln aller Art hat. Allein ich bin ebensosehr überzeugt, daß wir von einem schon großen Teil derselben noch nicht den rechten Gebrauch zu machen verstehen. Was uns hieran hindert, ist erstlich der häufige Wechsel unserer Theorie und Systeme. Jedes neue System bewirkt eine andere Ansicht der Krankheiten, die veränderte Ansicht der Krankheiten hat auch eine andere Ansicht der Wirkungsart der Heilmittel zur Folge, und nichts ist natürlicher, als daß bei diesen immer veränderten Ansichten ihrer Wirkungsart die Indikationen zu ihrem Gebrauch auf gleiche Weise unbestimmter und unsicher werden. So wurden z.B. der Moschus und das Opium, die früher allgemein für antispasmedische Mittel gehalten wurden, durch das Brownsche System zu reizenden, durch das naturphilosophische zu antiphlogistischen. Wie können wir wohl unter diesen Umständen unsere Heilmittel ihren Kräften gemäß anwenden lernen? Woraus sollen wir die Indikationen zu ihrem Gebrauch schöpfen, da die einzig lautere Quelle so getrübt ist? Wer sieht hier nicht die schlimme Wirkung unserer theoretischen Systeme?
Ein anderes, ebenso großes Hindernis des richtigen Gebrauchs unserer Heilmittel, und insbesondere der Arzneien aus den Apotheken, ist, daß wir sie so selten einzeln, sondern gewöhnlich[381] in Verbindung mit andern anwenden. Ich spreche nicht von Zusammensetzungen, wie wir sie in den Rezepten solcher Ärzte finden, die für jedes einzelne Symptom ein eigenes Mittel verschreiben; auch die einfachen. Rezepte, die von richtigen Indikationen diktiert und in denen den Hauptingredienzen keine adjuventia, corrigentia usw, beigemischt sind, sind nicht immer einfach genug. Es sind dem Hauptmittel immer noch mehr oder weniger Nebenmittel, oft von nicht minderer Wirksamkeit, beigemischt, und ebendiese Beimischung macht, daß wir die eigentliche Wirkung des Hauptmittels unmöglich ganz genau kennenlernen können. Zwar gibt es manche Kompositionen, von denen die einstimmige Erfahrung aller guten Praktiker lehrt, daß sie nur als solche die beabsichtigte Wirkung hervorbringen, wie z.B. das Dowersche Pulver. Allein um die Kräfte eines Arzneimittels ganz genau kennenzulernen, ist es schlechterdings notwendig, daß wir es für sich allein anwenden. So haben wir den Gebrauch der Chinarinde in den Wechselfiebern, des Opiums und Moschus im Typhus, des Quecksilbers in entzündlichen Krankheiten, des Eisens in der Bleichsucht kennengelernt, und so werden wir sicher auch zur genauen Kenntnis der Kräfte anderer Arzneimittel gelangen. Arzneimittel, deren Wirksamkeit durch sichere Erfahrungen erprobt ist, bleiben immer wirksame Mittel, es kommt nur darauf an, daß wir sie jederzeit da anwenden, wo sie wirklich passen. Dies geschieht offenbar noch weit nicht bei allen; wir werden es aber lernen, wenn wir sie, soviel möglich, allein, ohne Verbindung mit andern, anwenden und genau auf die Umstände achten, unter welchen sie die ihnen zukommenden Kräfte äußern. Vermischen wir sie mit andern, und zumal von ähnlicher Wirkung, so können wir nie genau beurteilen, welches eigentlich gewirkt hat. Verordern wir hingegen jedes für sich und geben wir genau auf die Umstände acht, unter welchen es seine Kraft äußert, so kann es nicht fehlen, wir werden bald wie seine Kräfte selbst auch die Indikationen zu seiner Anwendung genauer kennenlernen.
[382]
Ich bin überzeugt, daß unter den täglich neu aufkommenden Heilmitteln viele sehr wirksam sind. Allein ich bin ebensosehr überzeugt, daß nur eine Reihe auf das sorgfältigste angestellter Beobachtungen über ihren Wert entscheiden kann. Wir glauben dem, was ihre Erfinder von ihnen rühmen, zu sehr, wir sind sogleich bereit, Versuche mit ihnen zu machen, und wenn uns diese Versuche einigemal gelingen, so glauben wir, wunder was für einen Gewinn wir an dem neuen Mittel gemacht haben. So geht es uns mit den meisten dieser neu aufkommenden Mittel, und zum Beweis will ich nur die Angusturarinde, die Blausäure, die Jodine, die Rathania anführen. Kaum hatte man die Angusturarinde kennengelernt, so glaubte man schon, an ihr ein ebenso wirksames Mittel als an der Chinarinde zu haben. Nicht weniger Lobeserhebungen machte man auch von der Jodine, der Rathania, der Blausäure usw. Allein je mehr man die Lobpreisungen dieser neuen Arzneimittel übertrieb, desto mehr vernachlässigte man die alten, und selbst die wirksamsten fingen an, außer Gebrauch zu kommen. So verdrang die Jodine den sonst so bewährten Kropfschwamm. So sollte die Blausäure als beruhigendes Mittel mit dem Opium gleichen Rang einnehmen. So fand man an der Rathania ein alle andere übertreffendes Adstringens. – Aber was waren die Folgen dieser voreiligen Lobpreisungen? Wie wenige dieser Mittel haben den Glauben an sie gerechtfertiget? Wie viele haben schon jetzt wieder ihren Kredit verloren, und wie viele von denen, die ihn noch behaupten, werden ihn behalten? Wie sie die alten, längst bewährten zu verdrängen drohten und zum Teil wirklich verdrangen, so werden auch sie wieder von neuen verdrungen werden, und nur diejenigen werden diesem Schicksal entgehen, welche die Probe fortgesetzter unbefangener Beobachtungen ausgehalten haben. In der Heilkunst kann nur die Erfahrung entscheiden, und nur der Stempel ist der echte, welchen die Erfahrung aufdrückt.
[383] Ich bin überzeugt, daß mittelst der mit den Fortschritten in den Naturwissenschaften gleichen Schritt haltenden Ausbildung des empirisch-rationellen Systems am Krankenbette die praktische Heilkunde allmählich sich zu einer Kunst erheben wird, welche den Spottnamen einer Ars conjecturalis nicht mehr verdient. Aber ich bin ebensosehr überzeugt, daß auch dann zum Glück in ihrer Ausübung ebensowenig als bisher das Savoir faire fehlen darf, und es wird immer wahr bleiben, was Richter sagt, daß, um ein gesuchter Arzt zu werden, ein Drittel Wissenschaft und zwei Drittel Savoir faire die rechte Proportion sei. Wie immer werden auch die größten Ärzte, wenn sie sich bloß auf ihre Kunst verlassen, ungesucht zu Hause sitzen; um sich bei dem Publikum geltend zu machen, müssen sie auch seine Gunst zu gewinnen wissen, und diese läßt sich nur durch persönliche Eigenschaften gewinnen, durch zuvorkommende Dienstfertigkeit, schmeichlerische Gefälligkeit, mitleidige Teilnahme an den Leiden der Kranken, geduldiges Anhören ihrer Klagen, kluge Nachgiebigkeit gegen ihre Launen und, was insbesondere das weibliche Geschlecht betrifft, durch ein ihrer Eitelkeit schmeichelndes galantes Betragen. Das ist nun freilich nicht die Sache eines jeden sich seiner Tüchtigkeit bewußten und auf seine Würde haltenden Arztes; allein dafür werden ihnen auch die geschmeidigen, gefälligen, schmeichelnden und bei dem weiblichen Geschlecht den Rat des Mephistopheles1 befolgenden Ärzte in der Regel den Rang ablaufen. Hierzu kommt, daß die wissenschaftlichen Ärzte allerweits bald mehr, bald weniger Scharlatans neben sich haben, welche bekanntlich unter dem leichtgläubigen, wundersüchtigen Volk einen um so größern Anhang finden, je mehr sie wie die Gaßner und Hohenlohe seinen Glauben an Wunder, die Cagliostros und Mesmer an verborgene Naturkräfte, durch welche zu wirken nur wenigen auserwählten Menschen gegeben sei, und wie Hahnemann und seine Jünger an den homöopathischen Unsinn zu ihren Zwecken zu benutzen verstehen.[384]
Ich komme nun zu meinem religiösen Glaubensbekenntnis, und ich scheue mich nicht, dieses mit ebender Offenheit abzulegen wie mein medizinisches. Auch abgesehen, daß jeder Mensch das Recht hat, auch in religiösen Angelegenheiten seiner Überzeugung zu folgen, ein Recht, welches ihm weder der Staat noch die Kirche nehmen kann, so ist es bloß meine individuelle Überzeugung, die ich ausspreche, und da ich weit entfernt bin, einen andern in der seinigen zu stören, so darf ich hoffen, daß weder die Kirche das Anathema über mich aussprechen noch irgendein christlicher Staat, in welchem die drei verschiedenen christlichen Konfessionen friedlich nebeneinander bestehen und neben den Christen auch die Juden geduldet werden, so inkonsequent sein werde, mein Glaubensbekenntnis zu einem Attentat gegen den Staat zu qualifizieren.
Von christlichen Eltern gezeugt und in einem christlichen Lande geboren, von meiner frühesten Jugend an in den Lehren des Christentums unterrichtet und als Staatsbürger gehalten, mich zu demselben zu bekennen, nenne ich mich nicht nur einen Christen, sondern ich bekenne mich auch von ganzem Herzen zu dem Christentum, aber nur zu dem ursprünglichen reinen Christentum, nicht zu dem, welches die christlichen Priester aus demselben gemacht haben. Nach seinem ursprünglichen reinen Sinn ist das Christentum nichts weiter als eine Sittenlehre, welche die Menschen besser machen sollte und schon ihrer innern Vortrefflichkeit wegen diesen Zweck nicht verfehlen kann. Aber an dieser Sittenlehre allein genügt es den christlichen Priestern nicht, die Hauptsache ist ihnen der Glaube, der Glaube an Jesum, den Sohn Gottes, d.h. der Glaube an das System von Dogmen, zu welchem zwar Jesus, indem er als ein geborener und erzogener Jude über den Zweck seiner Sendung und seinen Versöhnungstod auf jüdische Weise sprach, Veranlassung gab, welches aber in der großen Gestalt, in welcher es vor uns liegt, nicht sein Werk, sondern das Werk der christlichen Priester ist. Dieses System von Dogmen nun aufrecht zu erhalten, es immer mehr zu befestigen, es immer weiter auf der Erde zu verbreiten, war von jeher das unablässige Bestreben der christlichen Priester, es ist es noch und wird es bleiben, solange es christliche[385] Priester gibt. Ich bin weit entfernt, dem Priesterstand auf irgendeine Art zu nahezutreten; ich bin überzeugt, daß es Priester von allen Konfessionen gibt, die von Herzen glauben, was sie lehren, und ich ehre den Eifer, mit welchem sie jedem Zweifel an der Wahrheit ihrer Lehren zu begegnen und die Ungläubigen auf den Weg einer bessern Erkenntnis, wie sie sagen, zu bringen suchen. Aber ich bin ebensosehr überzeugt, daß einem großen Teil mehr daran liegt, daß die Lehren geglaubt werden, als daß sie wirklich wahr seien. Hörten die Menschen auf, an die Gottheit Jesu zu glauben, so wäre es um das ganze geistliche Ansehen der christlichen Priesterschaft geschehen. Die Priester wären nicht mehr die Nachfolger der mit dem Heiligen Geist erfüllten Apostel, und der Papst in Rom wäre nicht mehr der Statthalter Christi. Das christliche Dogmensystem würde für ein Machwerk der Priester angesehen werden, und sie selbst würden aufhören, die Organe zu sein, durch welche ihrem Vorgeben nach Gott noch jetzt zu den Menschen spricht. Aber welcher Priester, der sich in seiner Priesterwürde gefällt und weiß, was für ein mächtiges Mittel, auf die Menschen zu wirken, in seinen Händen liegt, wird wohl so unklug sein, sie nicht an einem Glauben festzuhalten, auf dessen Fortdauer das hohe Ansehen und die große Macht beruht, welche der Priesterstand von jeher behauptet und so wohl zu benutzen gewußt hat? Nur als ein von Gott eingesetzter Stand konnte es die Priesterschaft wagen, einen Staat im Staat zu bilden und dem geistlichen Staat die Macht zu verschaffen, den weltlichen zu beherrschen. Wohl ist diese Priestermacht nicht mehr so groß wie in dem Mittelalter, wo der römische Papst sich wirklich als einen Gott auf der Erde benehmen durfte. Aber sie ist nur als weltliche Macht geringer geworden, als Herrscherin über die Gemüter ist sie noch immer wirksam genug, und was ihre Fortdauer bisher vorzüglich gesichert hat und auch noch lange genug in der Folge sichern wird, ist ohne Zweifel der frühzeitige Unterricht der christlichen Jugend in dem Priesterchristentum. Schon die kleinsten Kinder werden mit den christlichen Glaubenslehren bekannt gemacht, die Unterweisung in denselben wird von Jahr zu Jahr fortgesetzt, und den Erwachsenen gibt der christliche[386] Kultus Gelegenheit genug, sich jenes Jugendunterrichts zu erinnern. Diese frühzeitige Unterweisung in den Lehren des Priesterchristentums macht, daß man sie auch im reifern Alter so fortglaubt, wie man in der Jugend davon belehrt worden. Der blinde Glaube, durch die Gewohnheit je länger, je fester wurzelnd, verwandelt sich, wie dies immer der Fall ist, wenn man über einen Gegenstand lange auf dieselbe Art gedacht hat, in scheinbare Überzeugung. Die gedankenlose Beobachtung der kirchlichen Gebräuche bestärkt in dieser Überzeugung und macht sie fester und fester, je gedankenloser sie ist. Die vermeinte Heiligkeit der Lehre macht sie zu einem Noli me tangere, und die Furcht, sie zu profanieren, schreckt sie von jeder Prüfung derselben ab. – So ist es freilich kein Wunder, daß sich der Glaube an das christliche Dogmensystem so viele Jahrhunderte lang erhalten hat, und ich gestehe, daß auch ich in meinen jüngern Jahren ihm, wie so viele tausend andere, gehuldigt habe. Allein sobald ich anfing, mehr selbst zu denken, verminderte sich bei mir die Scheu, auch über religiöse Gegenstände nachzudenken, und das erste, nachdem ich diese Scheu überwunden hatte, war, daß ich die Bibel las wie jedes andere Buch. So fand ich in derselben zwar die interessantesten Erzählungen, die trefflichsten Charakterschilderungen, die größten Wahrheiten, die weisesten Sittensprüche, die erhabensten und rührendsten Dichtungen, aber auch daneben die scheußlichsten Taten, selbst von den Lieblingen Gottes begangen, die größten Irrtümer neben den größten Wahrheiten, die abgeschmacktesten Vorschriften neben den weisesten Sittensprüchen. Bei diesem Ergebnis meines Bibellesens und meines Studiums der biblischen Schriften konnte ich natürlicherweise nicht mehr an die Bibel als an eine von Gott eingegebene Schrift glauben; ich sah sie an als eine Sammlung von Schriften, deren Verfasser schrieben, wie es ihr Zeitalter, der Grad ihrer geistigen Bildung, das Maß ihrer Kenntnisse und ihrer individuellen Ansichten mit sich brachten, und so betrachtete ich nicht nur das Alte, sondern auch das Neue Testament. Die Evangelisten und Apostel hielt ich nicht mehr für von Gott inspirierte Männer, sondern für Menschen wie alle andern und so auch ihren Herrn und Meister,[387] Christus selbst. Ich ließ das Wunderbare in seinem Leben auf sich beruhen, das Unverständliche in seinen Aussprüchen maß ich seinen Aposteln, die über den Sinn derselben offenbar selbst nicht immer im klaren waren, bei, und in Hinsicht auf das, was er über seine eigene Person, den Zweck seiner Sendung, seinen Versöhnungstod, seine dereinstige Wiederkunft usw. sprach, war es mir klar, daß er sich seinen Jüngern nicht anders verständlich machen konnte, als daß er sich ihrer jüdischen Vorstellungsart gemäß ausdrückte. Wie er selbst bis zu seinem Tode ein Jude blieb, so hatte er auch nicht die Absicht, das Judentum zu stürzen, er wollte bloß der Reformator desselben sein, und wenn er sein Leben am Kreuz endigte, so starb er nicht als Sühnopfer für die Menschen, sondern als Märtyrer seiner Lehre – ein Opfer des Priesterhasses.
So blieb mir denn als reine Ausbeute meines Bibellesens in Beziehung auf Christus bloß seine Sittenlehre übrig – aber eine Sittenlehre, zu welcher sich jeder bekennen muß, der sie von jenen unwesentlichen Beiwerken zu trennen weiß und mit Freuden bekennt, weil sie nicht nur auf die tiefste Kenntnis der menschlichen Natur gegründet, sondern auch mehr als jede andere dem Bedürfnis des Menschen angemessen ist. Sie leistet alles, was der Mensch zur Führung eines seiner Natur und seiner Bestimmung gemäßen Lebens bedarf. Sie gibt ihm nicht bloß trockene Lehren, zu deren Befolgung er keinen innern Antrieb hat, sie wirkt auch auf sein Gemüt, sie erwärmt auch sein Herz, indem sie nicht bloß seine vernünftige, sondern auch seine sinnliche Natur in Anspruch nimmt. Kein Religionslehrer, soviel ihrer auch in der Welt aufgetreten sind, hat wohltätiger auf die Menschheit, keiner so fortdauernd wohltätig gewirkt wie er. Keiner hat die Menschen der Gottheit nähergebracht, keiner sie mehr zu ihr erhoben wie er. Denn welches Verhältnis der Gottheit zu den Menschen kann näher und inniger sein als das Verhältnis eines liebevollen Vaters zu seinen Kindern? Der Gott Jesu ist kein Wesen außerhalb der Welt, welches der Mensch nur von fern anbeten, welches er nur fürchten, nicht lieben kann, sondern er ist ein Wesen innerhalb der Welt, welches zwar unsichtbar, aber überall gegenwärtig ist, welches auch[388] die geheimsten Gedanken der Menschen kennt, welchem aber auch jeder Mensch seine geheimsten Gedanken vertrauen darf, weil es die reinste Liebe und Güte ist. Nur eine solche Vorstellung von Gott kann die Menschen Gott näherbringen, kann eine wahre Liebe zu ihm, ein wahres Vertrauen zu ihm, eine wahre Scheu vor ihm, eine wahre Furcht vor dem Bösen und ein aufrichtiges und ernstliches Bestreben nach dem Guten erzeugen, und ein solches Wesen ist der Gott Jesu, er ist der liebevolle Vater der Menschen. Dieser Vater will, daß seine Kinder glücklich sein sollen, und die Bedingung ihrer Glückseligkeit ist der Gehorsam gegen seine Gebote. Die Erkenntnis dieser Gebote ist die höchste Erkenntnis, nach welcher sie zu streben haben, und welches Verdienst um die Menschheit könnte wohl größer sein als das Verdienst des Mannes, der sie zur Erkenntnis jener Gebote geführt und in Befolgung derselben sich ihnen als das vollkommenste Muster aufgestellt hat? Dieser Mann ist Christus, und wenn je ein Mensch ein Gesandter Gottes genannt werden kann, so war er es. Er ist der Repräsentant der reinen menschlichen Natur, der wahre Gottmensch, denn sein ganzes Leben auf Erden war Ausdruck des Göttlichen im Menschen. Wie hätte wohl dieser Gottmensch, dessen ganzes Geschäft auf Erden die Verkündigung und Verbreitung seiner Sittenlehre und dessen ganzes Leben ein Tun nach den Vorschriften derselben war, der Urheber eines Dogmensystems sein wollen oder können, welches so viel Unheil in der Welt angerichtet, so viele Kriege veranlaßt hat und auch jetzt noch, ungeachtet der minder großen Gestalt, die es seit der Reformation erhalten, Spaltungen unter den Bekennern des Christentums unterhält, die wie in dem Mittelalter in die grimmigsten Verfolgungen ausarten würden, wenn es nicht der Talisman verhinderte, den man Toleranz nennt. Christus war kein Theolog wie unsere christlichen, der gleich einem Professor auf dem Katheder seinen Zuhörern sein dogmatisches System vortrug. Er hielt ihnen keine Vorlesungen über das Wesen Gottes, seine Eigenschaften und seine Geheimnisse. Er suchte nicht ihnen begreiflich zu machen, wie Gott einen Sohn haben könne und wie er selbst dieser Sohn sei. Er sagte ihnen nicht, was die[389] dritte Person in der Gottheit, der Heilige Geist, sei, von wem er ausgehe, von dem Vater allein oder von dem Vater und Sohn zugleich, und wie es mit den Wirkungen dieses Geistes auf den Menschen zugehe. Was er sie lehrte, waren die richtigen Begriffe, welche er ihnen über ihr Verhältnis zur Gottheit beibrachte, war die Bezeichnung des Weges, auf welchem allein sie in dieses Verhältnis kommen können, waren die praktischen Lehren, welche er ihnen gab, Lehren zur Erzeugung gottseliger Gesinnungen, Maximen zur Führung eines Gott wohlgefälligen Lebens. Liebet Gott über alles und euren Nächsten wie euch selbst, vertraget euch untereinander wie Brüder, liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, segnet die, die euch fluchen usw. Dies sind die Lehren, die er immer im Munde führt, die er in seinen Parabeln bald unter diesem, bald unter einem andern Bilde anschaulich macht und, was die Hauptsache ist, in deren Befolgung er ihnen als das vollkommenste Muster vorleuchtet. Diese Lehren sind der ganze Inbegriff des Christentums, sein Anfang und Ende. Sie kann auch der gemeine Menschenverstand fassen, und schon dem Kinde können sie beigebracht werden, sobald es Gehorsam gegen seine Eltern gelernt hat. Aber was haben die Priester aus diesen so einfachen, so leicht faßlichen Lehren gemacht? Eine geheimnisvolle, unbegreifliche, unfruchtbare Glaubenslehre, welche, indem sie Jesum, den Sittenlehrer, zu einem Sohn Gottes und seinen Tod zu einem Sühnopfer für die Sünden der Menschen macht, das Wesen des Christentums ganz verkennt und die Ursache ist, daß das Christentum zu einer Religion an ihn, d.h. zu einer neuen Art von Götzendienst, geworden, nicht viel besser als der alte heidnische, den es verdrängen sollte. Man lese die Kirchengeschichte, und man wird davon keinen weitern Beweis verlangen. Nun liegt freilich nichts daran, ob jemand vor einem hölzernen Christus anbetend niederfällt und von einer heiligen Reliquie Wunderkräfte erwartet, wenn er nur dadurch zum Guten geleitet wird, und es ist unvernünftig und unrecht, über solchen Aberglauben zu spotten. Allein nicht minder unvernünftig und unrecht ist es, einer solchen Religion das Wort in Zeiten zu reden, wo der aufgeklärtere Teil des Volks das Abgeschmackte[390] und Widersinnige derselben einsieht. Der Aufgeklärte ver langt eine vernünftigere Religion, und wenn er gleichwohl an jene zu glauben gehalten wird, so widerstrebt er nicht nur diesem Gebot, sondern er wird auch dadurch veranlaßt, die Religion überhaupt für etwas anzusehen, das nur für das gemeine Volk als Zügel seiner Begierden und Leidenschaften gehört. Darin liegt die wahre Ursache des so sehr beklagten Mangels an Religiosität in unserer Zeit unter den gebildetern Volksklassen, und die christlichen Priester mögen sich bemühen, wie sie wollen, das Ansehen ihres Dogmensystems aufrechtzuerhalten, so werden ihre Bemühungen je länger, je weniger von Erfolg sein. Das Heil der christlichen Kirche beruht allein auf der Wiederherstellung des Christentums in seiner ursprünglichen Reinheit; dahin sollten die Priester arbeiten und nicht warten, bis entweder ein neuer Luther das Christentum von der Pfaffenschmiere, wie Lichtenberg das Priesterchristentum nennt2, reinigt oder die Regierungen, einsehend, daß für aufgeklärte Völker keine abergläubische Religion mehr taugt, ihnen in der Reform, die von ihnen selbst ausgehen sollte, zuvorkommen.
Das Wesen des Christentums – ich kann es nicht genug wiederholen – besteht in seiner Sittenlehre, deren Befolgung freilich nicht so bequem ist als der blinde Glaube an gewisse Lehrmeinungen und weit mehr fordert als die Beobachtung unwesentlicher Zeremonien. Besserung des Herzens, Umschaffung des sinnlichen Menschen in einen moralischen ist sein hohes Ziel, und der Weg zu diesem Ziel ist der von Christus, als dem größten aller Sittenlehrer, eröffnete. Seine Sittenlehre soll den Menschen von der Knechtschaft der Sinnlichkeit befreien, sie soll dem Erzfeind der Moralität, dem Egoismus, steuern, sie soll die Menschen zu Brüdern machen, sie soll die Furcht vor der Gottheit in Liebe zu ihr verwandeln, sie soll sie verehren und anbeten lehren nicht durch äußern Dienst (Gottesdienst), sondern, wie die Schrift sagt, im Geist und in der Wahrheit, d.h. als das höchste moralische Wesen, welches der Mensch nur dadurch auf eine ihrer und seiner würdige Art verehren kann,[391] daß er als ihr Nachbild in seiner beschränkten Sphäre handelt wie sie in ihrer unendlichen, nämlich als vernünftiges Wesen, dessen Aufgabe ist, in allen Verhältnissen seines Lebens seine Handlungsweise nach den Gesetzen der Vernunft zu bestimmen.
Dies war der hohe Sinn des Stifters des Christentums, und wenn auch er gleich allen andern Religionsstiftern zur Befolgung seiner Lehren die Sinnlichkeit in Anspruch nahm, so geschah es, weil er ihnen dadurch auch bei den rohen, sinnlichen Menschen Eingang verschaffen wollte. Nur der gebildete Mensch, und, wie die Erfahrung lehrt, auch dieser nicht immer, vermag die einfache moralische Lehre aus reiner Achtung vor derselben zu befolgen; der rohe, ungebildete Mensch bedarf dazu schlechterdings auch sinnlicher Motive. Er bedarf des Glaubens an einen Gott, an welchem der Mensch einen steten Zeugen seiner Handlungen, einen steten Behorcher auch seiner geheimsten Gedanken habe. Er bedarf des Glaubens an den Schutz dieses Gottes, welchen er im Gebet anrufen müsse, damit er ihn auf den betretenen guten Weg fortleite, ihn aufrechterhalte, wenn er strauchle, und wieder aufrichte, wenn er falle. Er bedarf des Glaubens an einen Versöhner mit Gott, der sich für die Sünden der Menschen geopfert habe und zur würdigen Vollbringung dieses Werks selbst Gott (der Sohn Gottes) sein müsse. Er bedarf endlich des Glaubens an ein künftiges Leben, wo das gesamte Menschengeschlecht vor den Richterstuhl dieses Gottes und seines Sohnes gefordert und die Guten die ihnen verheißenen Belohnungen, die Bösen die ihnen angedrohten Bestrafungen erhalten werden. Diese und andere dergleichen Glaubensartikel sind die Grundlage aller positiven Religionen, und sie müssen es sein, weil das Wesen jeder positiven Religion in dem Glauben an eine Macht besteht, welcher der Mensch unbedingt und blindlings gehorchen muß, wenn er ihrer Rache entfliehen will. Auch Christus hat dieses wohl erkannt, und obschon bei der Religion, die er stiftete, sein Zweck die moralische Besserung der Menschen war, die schlechterdings des Menschen eigenes freies Werk sein muß, so kannte er doch die Menschen zu gut, um eine höhere Sanktion seiner Sittenlehre[392] für entbehrlich zu halten, und so ist er allerdings auch dadurch ein Wohltäter der Menschheit geworden, daß er dieselbe als eine von Gott kommende aufgestellt und die Befolgung ihrer Vorschriften als den Befehl Gottes ausgesprochen hat. Allein so wenig es überhaupt eine geoffenbarte Religion gibt, so wenig ist auch das Christentum eine solche. Es ist eine Vernunftreligion, und es ist kein Zweifel, daß sie wie jetzt schon von dem Weisen im Volk einst auch allgemein dafür erkannt werden wird. Aber solange das gemeine Volk, zu welchem, was die Religion betrifft, unstreitig auch der größte Teil der Aufgeklärten und Gebildeten gehört, noch unter der Herrschaft der Sinnlichkeit steht, kann von einer Vernunftreligion weder überhaupt die Rede sein, noch darf auch das Christentum als eine solche aufgestellt werden. Wie zu der Zeit, da Christus als Stifter derselben auftrat und seine Apostel die neue Lehre aller Welt verkündigten, wie zu der Zeit, da die christlichen Priester die nordischen Barbaren, welche das Römische Reich in Besitz genommen, zu Christen machten, bedürfen auch die jetzigen christlichen Völker nicht minder als die heidnischen, zu deren Bekehrung die christlichen Staaten allenthalben hin Missionäre aussenden, des Glaubens an den göttlichen Ursprung des Christentums und an eine mit göttlicher Autorität bekleidete Kirche, welche kraft dieser Autorität lehrt, was der Mensch, um ein würdiges Glied der christlichen Gemeinde zu sein, glauben und tun soll und was er in einem künftigen Leben zu gewärtigen hat, wenn er in dem gegenwärtigen ihren Vorschriften nicht folgt. Es verhält sich nämlich mit den Vorschriften der Kirche wie mit den Gesetzen, welche die Staatsregierungen geben. Beide sind Gesetze für den sinnlichen Menschen, der, solange er nicht aus eigener Überzeugung und aus innerem Antrieb das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen vermag, durch äußern Zwang dazu angehalten werden muß. So lange es daher mit der Menschheit nicht so weit gekommen ist, daß die Menschen ihre eigene Vernunft als die höchste Gesetzgeberin anerkennen und die Befolgung ihrer Gesetze für ihre höchste Pflicht halten, so lange müssen wie im Staat auch in der Kirche positive Gesetze walten, und es würde bei dem jetzigen Stand der geistigen und sittlichen[393] Kultur ebenso voreilig und töricht sein, den Menschen den Glauben an den göttlichen Ursprung des Christentums zu nehmen und sie vom Gehorsam gegen die Kirchengesetze zu entbinden, als wenn man verlangen wollte, die Staatsregierungen sollten die Menschen sich selbst regieren lassen. – Aber eben weil das Christentum sich dereinst zu einer Vernunftreligion erheben soll, sollte auch bei dem Unterricht in demselben vorzüglich darauf hingearbeitet werden. Die Geistlichen, denen dieser Unterricht anvertraut ist, sollten nicht wie bisher die meisten die Schale für den Kern geben, keinen höhern Wert auf das Geheimnis als auf die Lehre legen, ihre Schüler überall auf die Vernunftmäßigkeit des Christentums aufmerksam machen und den Stifter desselben vielmehr als das nachahmungswürdigste Muster eines Christen darstellen, als von ihm immer als von dem Sohn Gottes sprechen und, als bestände das Wesen des Christentums in dem Glauben an seine Gottheit, ihn zum Gegenstand einer noch höhern Verehrung und Anbetung machen als den Vater.
Wie wenig die christliche Priesterschaft auf die Ausbildung des Christentums zu dem, was es seinem Wesen nach ist, ausgeht, beweist der Aufruhr, welchen die kürzlich erschienene Schrift »Das Leben Jesu« von Strauß in der orthodoxen theologischen Welt erregt hat. Seine Widersacher haben in ihren Gegenschriften klar gezeigt, um was es ihnen eigentlich zu tun ist. Sie wollten beweisen, daß der Christus, dessen Leben und Taten die Evangelisten erzählen, nicht, wie Strauß nachzuweisen sich erdreistet, eine mythische Person, ein jüdischer Rabbiner, auf welchen er selbst und seine Anhänger und Nachfolger die Weissagungen im Alten Testament von dem künftigen Messias bezogen, sondern wirklich der verheißene Messias, der Sohn Gottes in menschlicher Gestalt, gewesen sei. Allein warum kann man denn dieses alles nicht dahingestellt sein lassen? Ist es nicht genug, daß das, was die Jünger Christi ihren Meister sprechen lassen, geschrieben dasteht? Wer es gesprochen hat, mag gewesen sein, wer er will, und geheißen haben, wie er will, es steht einmal da, und es ist das Vortrefflichste, was je von einem Menschen ausgesprochen worden, ein wahrhaft[394] göttliches Wort, welches bestehen wird, solange die Welt besteht, und mit der Kraft, welche in ihm liegt, fortwirken wird, mit welcher es schon seit beinahe zwei Jahrtausenden gewirkt hat.
Man hört häufig den Ärzten nachsagen, daß sie größtenteils Materialisten, Freidenker, ja manche von ihnen entschiedene Atheisten seien. Dieser Vorwurf ist ungerecht. Durch ihren Beruf auf das Studium der Natur hingewiesen und dadurch aufgefordert, die in ihr wirkenden Kräfte genauer kennenzulernen, erklären sie freilich manches als Wirkungen der Naturkräfte, was andere Leute als Wirkungen übersinnlicher Kräfte ansehen. Aber eben ihre genauere Kenntnis der Kräfte der materiellen Natur und der Gesetze, nach welchen sie wirken, macht auch, daß sie über das, was nicht Natur ist, ohne dessen Dasein aber weder eine materielle Natur möglich ist noch bestehen kann, richtiger urteilen lernen. Weit entfernt also, daß die Ärzte Atheisten sein sollten, können sie es nicht einmal sein, ja es gibt vielleicht in keinem Stand mehr wahrhaft religiöse Menschen als in dem ärztlichen, wenn man unter Religiosität das versteht, was diesen Namen wirklich verdient. Wahre Religiosität besteht nämlich weder darin, daß man fleißig in die Kirche geht und die religiösen Zeremonien pünktlich der Vorschrift gemäß mitmacht, noch ebensowenig darin, daß man sich zu gewissen Lehrmeinungen bekennt, welche die Kirche als Religionsgrundsätze aufgestellt hat, sondern sie ist ein innerer Zustand des Menschen, sie ist die religiöse Gesinnung, die ihn geneigt macht, in allen Verhältnissen seines Lebens das ihm eingeborene Sittengesetz als ein von einem höchsten moralischen Gesetzgeber stammendes Gesetz anzuerkennen und die Verbindlichkeit zu seiner Befolgung in der Stimme des Gewissens, als der Stimme jenes höchsten Gesetzgebers, zu vernehmen. Dieser Stimme unbedingt zu gehorchen, fühlt sich jeder aufgefordert, dessen inneres Ohr nicht taub gegen sie geworden; aber diese Aufforderung ist um so häufiger und stärker, je ernster und wichtiger der Beruf ist, dem er sich im Leben gewidmet hat. Der Beruf des Arztes ist unstreitig einer der schwierigsten und mühsamsten. Keiner fordert mehr Fleiß und Anstrengung, keiner mehr[395] Aufopferungen, keiner mehr Gewissenhaftigkeit. Aber wie oft ermüdet sein Fleiß! Wie oft glaubt er, unter der Last seiner Geschäfte erliegen zu müssen! Wie oft verläßt ihn seine Geduld! Wie oft erwacht der Gedanke in ihm, sich seinen Beruf durch seltenere Besuchung der Kranken, durch minder angestrengten Fleiß bei ihrer Behandlung, durch weniger Sorgen um sie leichter zu machen! Allein wodurch entgeht er allen diesen Versuchungen am gewissesten? Nicht dadurch, daß er bedenkt, von seinem Beruf leben zu müssen. Nicht dadurch, daß er sich schämt, nachdem er so viele Jahre lang tätig gewesen, jetzt auf einmal in seiner Tätigkeit nachzulassen. Nicht dadurch, daß er fürchtet, von dem Publikum weniger geehrt zu sein, nachdem er ihm als praktischer Arzt zu dienen aufgehört hat. Sondern dadurch, daß er, eingedenk seiner höhern Bestimmung, die immer gleiche Fortsetzung seiner Tätigkeit für Pflicht erkennt und in der Erfüllung derselben das Mittel findet, seine ermattende Kraft wieder zu stärken, seinen sinkenden Mut wieder zu heben, das erlöschende Feuer seiner Tätigkeit wieder anzufachen. Dies ist die große Wirksamkeit der Religiosität, wie bei allen Menschen so auch bei dem Arzt. Nur der religiöse Arzt vermag seinen Beruf stets mit dem gleichen Fleiß, der gleichen Treue und Gewissenhaftigkeit zu erfüllen. Nur er vermag, wenn er ein reicher Mann geworden, der Versuchung zu widerstehen, sein Geschäft aufzugeben und auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Nur er vermag, ohne Wider willen an die Lagerstätte der ekelhaftesten und mit frohem Mut an das Bette der mit den gefährlichsten ansteckenden Krankheiten behafteten Kranken zu treten. Nur er vermag, wenn er sich selbst nicht wohl befindet, sein eigenes Leiden zu vergessen und einen Kranken persönlich zu besuchen, der vielleicht weniger krank ist als er selbst. Alle wahrhaft große Ärzte, alle, die ihr ganzes Leben hindurch stets mit gleicher Tätigkeit gewirkt haben, alle, denen jedes Menschenleben gleich heilig war, alle, die dem Armen wie dem Reichen, dem Geringen wie dem Vornehmen stets mit gleichem Eifer gedient haben, alle, die getrost und freudig gestorben sind, sind auch religiöse Ärzte gewesen, und mir wenigstens ist keine Ausnahme bekannt.[396]
Auch ich darf von mir sagen, daß ich in dem Sinn, in welchem ich das Wort Religiosität nehme, zu den religiösen Ärzten gehöre. Ich habe an mehreren Stellen meiner Lebensgeschichte geäußert, mit wie wenig Lust und Liebe ich im ganzen die Arzneikunst ausgeübt habe, der Gedanke, daß ich nie zur Meisterschaft in meiner Kunst gelangen, werde, und der Zweifel, ob ich nicht die gelungensten meiner Kuren vielmehr meinem guten Glück als meiner Kunst zu danken hatte, machten mir dieselbe verdrüßlich. Dessenungeachtet habe ich bis in mein hohes Alter die Praxis nicht nur nicht aufgegeben, sondern ich habe sie auch jederzeit so gut besorgt, als mir mein Alter gestattete. Nicht schnödes Interesse, nicht Furcht vor dem Tadel des Publikums, noch ein anderer äußerer Beweggrund hat mich dazu vermocht, sondern die Überzeugung, daß es meine Pflicht sei, meinen einmal gewählten Beruf abzuwarten, bis ich fühlte, daß mir die Kraft dazu gebrach, und diese Überzeugung habe ich gewonnen, indem ich die Erfüllung meines Berufs für eine heilige Pflicht hielt.
So war ich, so denke ich, so handelte ich, und wenn ich nun als ein Greis von beinahe achtzig Jahren auf mein langes Leben zurücksehe, so muß ich sagen, daß es im ganzen ein glückliches Leben war. Ich bin von meiner Kindheit an, wenige Unterbrechungen abgerechnet, stets gesund gewesen. Mich geistig auszubilden, hat es mir an keiner Gelegenheit gefehlt. Nicht lange nach meinem Abgang von der Akademie wurde ich als Gerichtsarzt angestellt, und als ausübender Arzt war ich in meiner Praxis weit öfter glücklich als unglücklich. Im Staatsdienst ist mir in allen Stellen, die ich bekleidete, die Zufriedenheit und Achtung meiner Vorgesetzten zuteil geworden. In meinem Privatleben hat es mir nirgends an wahren Freunden gefehlt, und unter den noch lebenden ist keiner, der mir nicht treu geblieben wäre. Ich habe wohl Neider und Widersacher, aber nie einen eigentlichen Feind gehabt. Ich habe in einer ununterbrochen glücklichen Ehe gelebt, und was ich an Vaterfreuden verlor, das ersetzen mir meine Enkel, deren Heranwachsen und Gedeihen die schönste Freude meines Alters ist. Was mich[397] betrübt, ist, daß ich nicht alles geleistet habe, was ich hätte leisten sollen und können, und letzteres besonders in Nürnberg, welches ich verlassen mußte, ohne zur Verbesserung der dortigen öffentlichen Krankenanstalten etwas Bedeutendes getan zu haben. Allein ich kann mich darüber trösten, weil es nicht meine Schuld war. Ebenso kann ich mich auch trösten, wenn ich als Staatsbürger und Mensch meinen Obliegenheiten nicht überall nachgekommen bin, wie ich hätte sollen, da ich mir bewußt bin, daß nicht Mangel an gutem Willen, sondern Unvermögen und Mißtrauen in mich selbst daran schuld war. Als Staatsbürger habe ich mich stets bestrebt, ein treuer Untertan meines Fürsten, ein gehorsamer Untergebener meiner Vorgesetzten und ein wohlwollender Freund meiner Mitbürger zu sein. Als Mensch habe ich freilich manches unterlassen, was ich hätte tun, und manches getan, was ich hätte unterlassen sollen; allein auch darüber glaube ich mich beruhigen zu können, weil ich es mit aufrichtiger Reue bekenne. – Ich stehe nun nahe am Rand des Grabes, aber ich fürchte den Tod nicht. Was nach dem Tod aus mir werden wird, weiß ich nicht, das aber weiß ich, daß ich in jeder Form der Existenz dem großen Ganzen angehöre, welches das Werk der höchsten Macht, Weisheit und Güte ist.[398]
1 Siehe Goethes »Faust«.
2 Siehe »Vermischte Schriften«, 1. Teil, S. 144.
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