Kandern

[281] Ein Jahr war gerade verflossen, seit ich mich in dem Städtchen Kandern von dem Bataillon Holtz, mit dem ich innig verbunden gewesen, verabschiedet hatte, um nach den nordischen Marken aufzubrechen. Inzwischen war einer der beiden Ärzte, die in Kandern praktiziert hatten, weggezogen, man gedachte meiner und forderte mich auf, die Stelle des Abgegangenen einzunehmen. In den ersten Tagen des März folgte ich dem willkommenen Rufe. Es gelang mir rasch, Vertrauen und Praxis zu erwerben. Mit rührender Geduld hatte meine Braut des Bräutigams, des fahrenden Doktors, geharrt, jetzt war der feste Boden gefunden, worauf ich den eigenen Herd errichten konnte. Im August wollte ich mein geliebtes Weib heimführen, da starb plötzlich mein Vater, wir mußten die Hochzeit verschieben, bis der Herbst ins Land zog.

Auf das brausende Epos der Revolution mit dem tragischen Abschluß hinter den Mauern Rastatts folgte ein friedliches Idyll häuslichen Glücks. Meine ärztliche Tätigkeit gewährte mir volle Befriedigung und ein mehr als ausreichendes Einkommen. Ein erstgeborenes Töchterchen, natürlich ein Wunderkind, lachte den glückseligen Eltern im zweiten Jahre des Kanderer Aufenthalts aus der Wiege entgegen. Kein Wunder ist größer, kein Schauspiel entzückender als die Entwicklung einer Menschenseele.[281]

Eine Sache war freilich schlimm bestellt in Kandern. Die gesellschaftlichen Verhältnisse waren greulich zerrüttet, die Bürgerschaft tief gespalten, selbst in dem Schoße der Familien hauste die Zwietracht. In den kleinen Gemeinden des Großherzogtums hatte die Revolution den bürgerlichen und häuslichen Frieden noch tiefer untergraben als in den großen. In den Landstädten wohnten die Leute zu nahe beisammen, die steten Berührungen wurden zur dauernden Reibung, die politische Gegnerschaft zur Todfeindschaft. Die nächsten Verwandten haßten sich oft am grimmigsten. Seit der Aufstand niedergeschlagen war, hatte sich die Stellung der Parteien von Grund aus verändert. Die oben gewesen, lagen jetzt unten, besiegt, schwer getroffen, unzählige Hochverratsprozesse gingen den unbarmherzigen Gang des Gesetzes.

Ein furchtbarer Abend ist mir unvergeßlich. Einer der angesehensten Männer, das Haupt der unterlegenen Partei, der Bürgermeister der Stadt, war, des Hochverrats angeklagt, in die Schweiz entflohen. Die mit den Kindern zurückgebliebene Gattin, eine treffliche Frau, hatte mich zum Arzte genommen. Der Entflohene, schwer leidend, kehrte zurück. Nach einigen Tagen kamen die Gendarmen, das Hofgericht hatte sein Urteil gesprochen, er sollte aus den Armen von Frau und Kindern in das Zuchthaus abgeholt werden. Ich wurde hinzugerufen und mußte die bittere Verzweiflung der Familie mit durchmachen: der Mann, der das höchste Ehrenamt der Gemeinde bekleidet hatte, wurde jetzt schimpflich in das Zuchthaus abgeführt!

Die ersten Jahre nach der Revolution waren im ganzen Lande schrecklich. Allmählich glätteten sich die Wogen. Unter dem milden Zepter des Fürsten, dem später ganz Deutschland Liebe und Verehrung zollte, kamen wieder bessere Tage, es wurde vergeben und vergessen. Auch dem Hochverräter von 1849 ist noch ein schöner Lebensabend geworden, seinen Mitbürgern ward es vergönnt, ihn nochmals an die Spitze ihres Gemeinwesens zu stellen.

Ungefähr zu derselben Zeit wie ich, war ein junger Geistlicher, Hermann Strübe aus Schopfheim, als Vikar nach Kandern gekommen, ein kluger, klarer Kopf, ein warmes, heiteres[282] Herz, ohne die Voreingenommenheit vieler seiner Amtsbrüder, ein ausgezeichneter Kanzelredner und trefflicher Prediger christlicher Liebe und Versöhnung. Seiner Jugend ungeachtet schenkten ihm bald beide Parteien Vertrauen. Die düstere Stimmung im Städtchen hellte sich auf, das gesellschaftliche Leben gestaltete sich freundlicher. Mir wurde der gleichalterige Mann ein treuer Freund und ist einer der wenigen aus der Jugend, die mir der Schnitter, der uns alle mäht, übriggelassen hat.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 281-283.
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