Sechstes Kapitel.
Lehr- und Ehestand.

[142] Kunstunterricht und seine Folgen. Öttingens Zeit genügte bald nicht mehr, um den vielfachen Anforderungen zu genügen, die an ihn um genauere Kenntnisnahme seiner Lehre gestellt wurden. Er veranlaßte mich deshalb, einige Unterrichtsgänge zu übernehmen, die von ihm gewünscht wurden.

Die Wissensdurstigen waren meist Damen, sowohl ältere wie jüngere, die sich zu kleinen Kreisen zusammenschlossen und mit großer Hingabe die neuen Studien betrieben. Hierdurch wurde ich in einigen Häusern bekannt, in denen das rege geistige Leben sich nicht auf Musik beschränkte, wenn diese auch meist im Vordergrunde stand. Ich lernte den Reiz anmutiger und heiterer Geselligkeit schätzen und empfand diese zeitweilige Ablenkung von der immer intensiver werdenden wissenschaftlichen Arbeit als eine entschiedene Wohltat.

Am meisten verkehrte ich im Hause des Dr. Gustav Reyher. Er war zwar an der Universität habilitiert, übte aber im Hauptberuf eine ausgedehnte ärztliche Praxis aus, zu der er als gut aussehender Mann mit rosigem Gesicht, schwarzem Vollbart, lockigem Haupthaar und gewinnend freundlichem Wesen besonders geeignet war. Seine Frau sah im Gegensatz dazu grotesk häßlich aus; klein, kurzbeinig, mit einem Gesicht wie die weiland [143] Julia Pastrana (ohne die Behaarung) verblüffte sie jeden Fremden durch ihren Anblick. Jedoch verschwand dieser erste Eindruck schnell, denn sie war nicht nur unbegrenzt gutherzig und hilfsbereit, sondern vielseitig gebildet und stets willig, auf jedes Interesse einzugehen, auf das sie bei ihrem Gegenüber stieß. In Musik und Poesie war sie mit dem Vorhandenen weitgehend vertraut und verfolgte mit Eifer das Neue, wie es der Tag brachte. Von den zahlreichen durchreisenden Künstlern, die auf dem Wege nach Petersburg gern in der freundlichen und begeisterungsfähigen Musenstadt am Embach Halt machten und einige Konzerte gaben, wurden viele in diesem gastfreien Hause beherbergt und belebten die etwas eintönige provinziale Geselligkeit durch einen Luftzug aus der großen Welt draußen, mit der man sich übrigens geistig durchaus in Zusammenhang fühlte.

Da auf solche Weise im Reyherschen Hause die Musik vorherrschte, waren es auch stets musikalisch gebildete Studenten, welche den näheren Kreis der »Hauskinder« (die eigenen Kinder waren noch minderjährig) ausmachten. Es wurde demgemäß mancherlei Hausmusik getrieben, bei der ich mich mit der Bratsche als nutzbar erwies. Als ich aber einmal versuchte, an einem dazu umgeschriebenen Notturno von Chopin (op. 9 Nr. 2 in Es) meine eben erworbene Kunst auf dem Fagott mit Klavierbegleitung vorzuführen, kam ich nicht über die ersten Takte hinaus, so unwiderstehlich wirkte der ungewohnte Klang auf die leicht angeregten Lachmuskeln der Zuhörer.

Mir war diese Art der Gegenwirkung auf das, was ich sagte oder tat, ganz gewohnt. Denn ich fühlte mich meinem Kreise überlegen und es hatte mir von jeher ein besonderes Vergnügen gemacht, meine vielfachen Widersprüche gegen das »Selbstverständliche«, über welches man nicht erst nachdenkt, so auffallend wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Natürlich war Gelächter[144] die Form der Erwiderung auf meine Absurditäten, das ich als eine Bestätigung dafür entgegennahm, daß ich den Zweck erreicht hatte, meinen Widerspruch fühlbar zu machen.

In diesem Falle war ich empfindlich gegen das Gelächter. Es war nicht nur das Gefühl, daß ich zu dem gewohnten Überlegenheitsbewußtsein auf dem Gebiet der Musik nicht berechtigt war und die Ablehnung ohne Gegenwehr hinzunehmen hatte. Sondern der Hauptgrund war, daß jemand anwesend war, in dessen Augen ich durchaus nicht lächerlich erscheinen mochte.

Die Lebensgefährtin. Im Reyherschen Hause befand sich nämlich seit einigen Monaten eine Nichte gleichen Namens, Helene v. Reyher. Sie stammte aus Riga gleich mir und war die Schwester eines etwas älteren Landsmannes, Carl v. Reyher, der sich trotz seiner jungen Jahre bereits einen klingenden Namen als Chirurg erworben hatte. Er war ein Lieblingsschüler Ernst v. Bergmanns und ist später in Petersburg zu einer glänzenden Stellung als einer der Ersten in seinem Beruf aufgestiegen. Leider wurde seine so erfolgreich begonnene Laufbahn durch einen frühen Tod kurz abgeschnitten. Musikalische Interessen hatten uns näher zusammengeführt. Zu den Lernlustigen bezüglich der Öttingenschen Harmonielehre gehörte auch die Frau Dr. Reyher und sie brachte bald einen kleinen Kreis zusammen, dessen Unterricht mir übertragen wurde. So sah ich Tante und Nichte häufig gleichzeitig und konnte nicht umhin, den Kontrast in ihrer äußeren Erscheinung lebhaft zu empfinden. Zuweilen war die Tante durch eine ihrer zahllosen anderweiten Verpflichtungen verhindert, am Unterricht teilzunehmen. Das war mir eigentlich noch lieber und ich war dem Schicksal und der Tante dankbar, daß sich diese Zufälle im Lauf der Zeit vermehrten. Wie von allen Seiten vorausgesehen[145] wurde – von mir selbst vielleicht zuletzt – wurde Ende April 1879 eine Verlobung daraus und auch ich durfte jenen Frühlingssturm der Gefühle erleben, durch den der Menschheit ihr Dauerbestand gesichert ist.

Hausstandsorgen. Die Eltern meiner Braut – der Vater war Beamter bei der Ritterschaft – gaben auf den Bericht der Dorpater Vettern über mich gern ihre Zustimmung. Nun entstand aber die Frage nach der wirtschaftlichen Sicherung des künftigen Hausstandes. Mein Gehalt als Assistent reichte nur eben, um meine geringen Bedürfnisse zu bestreiten, aber nicht für eine Familie. Als nächste Möglichkeit besserer Einnahmen winkte die Hoffnung auf eine honorierte Dozentur. An der Universität bestand die Einrichtung, daß von der Regierung für etwa ein Dutzend Dozentenstellen die Gehälter ausgeworfen waren, mit der Maßgabe, daß sie nach Bedarf von Fall zu Fall durch das Conseil, die Gesamtheit der ordentlichen Professoren verliehen wurden. Es war nun vor kurzem eine derartige Stelle frei geworden, die ich zu bekommen hoffte. Doch mußte ich die Enttäuschung erleben, daß sie anderweit vergeben wurde. Ich hätte sie vielleicht erhalten, wenn sich Öttingen ebenso lebhaft wie Carl Schmidt für mich verwendet hätte. Er sah aber, wie er mich alsbald wissen ließ, meine Verlobung als einen argen Fehler an, durch den ich mutwillig meine ganze wissenschaftliche Zukunft zerstört habe und es war daher in meinem Interesse, wie er es auffaßte, daß er die Möglichkeit einer baldigen Heirat nicht seinerseits befördern wollte.

Auch nach einer anderen Richtung erlebte ich eine Enttäuschung. Es befand sich bei der Universität ein beträchtliches Kapital, die Heimbürger-Stiftung, aus deren Erträgnissen alljährlich Preise für hervorragende wissenschaftliche Leistungen und Reisestipendien für die weitere Ausbildung verliehen wurde.[146]

Da die Anzahl der Altersgenossen nicht groß war, die hierfür in Frage kamen, hegte ich insbesondere die Hoffnung, das Reisestipendium zu erhalten, um auf ein Jahr »nach Europa« gehen zu können, wie Karl Schmidt sich ausdrückte und dort eine andere wissenschaftliche Luft zu atmen als die des heimischen Dorpat. Der einzige, der neben mir in Frage kam, war der hochbegabte Physiologe Gustav Bunge. Er war zwar als der ältere der Nähere dazu. Da er aber bereits das Livländer-Stipendium erhalten und zu einem längeren Studium in Deutschland benutzt hatte, hoffte ich, für den keine derartige landsmännische Hilfe vorhanden war, zum Ausgleich das Heimbürger-Stipendium zu erhalten. Doch wurde auch dieses Bunge zugewendet.

Von meinen Freunden wurde dies als eine große Ungerechtigkeit empfunden, während es mir, wie ich bekennen muß, nicht besonders nahe ging. Hatte ich doch bei meinen Arbeiten so reichlich ungelöste Fragen angetroffen, die nur der Bearbeitung harrten, daß mir der Einstrom neuer und fremder Aufgaben, der zweifellos mit einer Arbeitsperiode in Deutschland – ein anderes Land kam überhaupt nicht in Frage – verbunden sein würde, mehr als Störung denn als Förderung erscheinen wollte.

Später habe ich noch milder über jene Entscheidung urteilen gelernt. Die physiologische Chemie hatte durch jene großartigen Jugendarbeiten Karl Schmidts und die späteren unabhängigen Forschungen seines Namensvetters Alexander, des »Blutschmidt« einen solchen örtlichen Glanz gewonnen, daß sie für die fernerstehenden Kollegen, unter denen nicht sehr viele selbständige Forschungen trieben, als eine Art Höhepunkt aller Naturwissenschaften empfunden wurde. Die physikalische Chemie, in der ich arbeitete, genoß aber weder in der Heimat noch im Auslande ein besonderes Ansehen. Die[147] einzige ordentliche Professur dafür, die es gab, war die von Gustav Wiedemann in Leipzig bekleidete, und der Ruf dieses tüchtigen Forschers lag ganz im Gebiete der Physik, zu der er auch später zurückkehrte. Und Lemberg, der zudem wesentlich Geologe war, stand wegen seiner bekannten radikalen Gesinnung in keinem besonders freundlichen Ansehen, so daß sein nahes Verhältnis zu mir meiner Einschätzung seitens des weiteren akademischen Kreises, der über diese Dinge zu entscheiden hatte, zum mindesten nicht zuträglich war. Auch wurde ich selbst nach dieser Richtung keineswegs als zuverlässig und stubenrein angesehen.

So sprach für die Professoren so viel dafür, sich dem irgendwoher aus dem Nichts hereingeschneiten Neuling gegenüber zunächst abwartend zu verhalten, daß ich ihnen die Entscheidung nicht ernstlich verübeln durfte.

Überlege ich nachträglich im Lichte der zwischenliegenden fünfzig Jahre Lebenserfahrung den Einfluß dieser Geschehnisse auf mein persönliches Schicksal und den Anteil, den ich an der Entwicklung der Wissenschaft habe nehmen dürfen, so glaube ich, sie nachträglich als einen besonderen Glücksfall ansehen zu müssen, so wenig ich auch damals einer solchen Auffassung zugänglich sein mochte. Bei der großen Eindrucksfähigkeit, die ich als absoluter Neuling im deutschen Wissensbetriebe mitgebracht hätte, wäre ich vermutlich ganz und gar unter den Einfluß einer der damaligen chemischen Größen, z. B. Baeyers geraten. Da diese ohne Ausnahme sich restlos der organischen Chemie ergeben hatten, die sich damals, am Anfange der achtziger Jahre, in blendender Entwicklung befand, wäre ich selbst auch unfehlbar ein Organiker geworden, der den jugendlichen Ausflug in das wilde Gebiet der Verwandtschaftslehre bald als eine Verirrung angesehen hätte, die so schnell als möglich der Vergessenheit zu überantworten war. War es doch[148] unter anderen Baeyer so gegangen, der als junger Bunsenschüler eine (nicht sehr gute) Arbeit über die idiochemische Induktion geschrieben hatte, um alsbald dies Gebiet für immer zu verlassen. Und dies obwohl er wie er mir selbst erzählt hat, zunächst viel mehr Interesse für mathematisch-physikalische Fragen gehabt hatte, als für chemische. Sein Fall war nicht der einzige dieser Art, so stark war damals die Anziehungskraft der organischen Chemie, und ich wäre ihr zweifellos verfallen, wenn ich damals nach Deutschland gelangt wäre. Zwar traue ich mir zu, daß ich auch in diesem Fache Arbeiten hervorgebracht hätte, die oberhalb des Durchschnittes geraten wären. Aber ich wäre doch nur einer unter vielen geworden, ohne meiner Wissenschaft zu einer neuen Arbeitsrichtung zu verhelfen. Nehme ich hierzu, daß die ausgezeichneten Mitarbeiter, welche ich später auf diesem Wege angetroffen habe, bei genialer wissenschaftlicher Begabung doch alle keine besondere Neigung zu organisatorischer Betätigung offenbart haben, so komme ich zu dem sonderbaren Schluß, daß jenes Versagen der Kuratoren des Reisestipendiums meinen Wünschen gegenüber für die Entwicklung der Wissenschaft bessere und weiterreichende Folgen gehabt hat, als sie und ich uns damals träumen ließen. Und auch persönlich glaube ich nachträglich ganz zufrieden sein zu können.

Wünsche und Hoffnungen. Doch diese Dinge lagen noch tief in den Nebeln der Zukunft verborgen. Für mich bestand als nächstliegende Aufgabe die Beschaffung genügender Einnahmen zur Begründung des Hausstandes, da ich weder mich noch meine Braut der Plage einer unbestimmt langen Verlobungszeit aussetzen mochte.

Privatunterricht hatte ich bereits mehrfach mit gutem Erfolge erteilt, doch war dies eine zu unsichere Einnahme. Die liebevollen Bemühungen meines Lehrers Karl Schmidt um ein hinreichend gut bezahltes Nebenamt[149] mit genügend freier Zeit schlugen fehl. Da bot mir der damalige Professor der Agrikulturchemie und Vorstand des öffentlichen chemischen Untersuchungslaboratoriums am Polytechnikum in Riga eine Assistentenstelle an seiner Anstalt an.

Das Gehalt war ausreichend, um damit einen bescheidenen Haushalt durchzuführen, aber meine Zeit wäre durch die ewig wiederholte Tagesarbeit, die Lohnanalysen der Untersuchungsanstalt, voll in Anspruch genommen worden. Dazu kam, daß der Vorstand sich wissenschaftliche Blößen gegeben hatte, die für ein Arbeiten unter seiner Leitung keine gute Aussicht boten. Um die Meinung zu kennzeichnen, welche man in Fachkreisen von ihm hatte, kann folgende Geschichte dienen, die nicht wahr zu sein braucht. Es war der Anstalt eine Flasche zur Untersuchung des Inhalts eingereicht worden, auf deren Zettel der Vorstand (er hatte damals eben keinen Assistenten) das Wort Wein las. Sein Gutachten lautete: »Spezifisches Gewicht: 1. 02, Weingeistgehalt: unter 1 Prozent, Zucker 0.5 Prozent, Säuregehalt: Spur, Geschmack: fade und unangenehm; es ist zu verwundern, daß ein solches Gebräu, das überhaupt nicht nach Wein schmeckt, als Wein angeboten werden kann.« Der erstaunte Einsender schrieb zurück, daß der geehrte Vorstand den Zettel auf der Flasche anscheinend nur flüchtig angesehen habe. Denn die beiden ersten Buchstaben, welche er als We gelesen hatte, hießen nicht so, sondern Ur.

Es fiel mir nicht schwer, meine Braut zu überzeugen, daß um diesen Preis das ersehnte Heim zu teuer erkauft sein würde, denn ihr war an meiner wissenschaftlichen Zukunft nicht weniger gelegen als mir. So hieß es, die Fahne der Hoffnung weiter tragen und auf das Eintreten besserer Möglichkeiten warten.

Auf solche Möglichkeiten zu hoffen, fühlte ich mich berechtigt. In dem kleinen Kreise der Forscher, welche[150] sich damals um solche Fragen kümmerten, hatten meine Arbeiten Aufmerksamkeit erregt. Dieser Kreis war international, denn da im eigenen Lande immer nur ganz wenige anzutreffen waren, welche Verständnis und Teilnahme für diese abseits liegenden Dinge zeigten, war man unwillkürlich darauf angewiesen, sich mit den Arbeitsgenossen in anderen Ländern in Verbindung zu setzen. Dies gilt insbesondere für England und Amerika. Da in Frankreich das Dogma von jeher gelehrt und geglaubt wurde, die Chemie sei eine französische Wissenschaft, so kümmerte man sich dort hergebrachter Weise überhaupt nicht darum, was außerhalb Frankreichs, oder was praktisch dasselbe ist, was außerhalb Paris gemacht wurde. So war es unter anderem geschehen, daß erst zehn Jahre nach der großen Entdeckung Julius Robert Mayers von der Erhaltung der Energie, nachdem längst in Deutschland und England die Sonderforschung durch Helmholtz, Clausius und W. Thomson eingesetzt hatte, dieser Gedanke in die französischen wissenschaftlichen Zeitschriften einzudringen begann. Und mit der Entwicklung der physikalischen Chemie ist es hernach ganz ebenso gegangen.

Ein Lichtstrahl. An der alten englischen Universität Cambridge wirkte als Fellow des Cajus und Gonville College M.M. Pattison Muir, einer jener einsamen Forscher, welche sich an das Problem der chemischen Verwandtschaft heranwagten, das nach dem mißglückten Anlauf zu seiner Eroberung durch Bergmann den Schweden und Berthollet den Franzosen um die Wende des 18. Jahrhunderts zum 19., in einen Dornröschenschlaf gesunken war.

Er las meine Arbeiten und die der Bahnbrecher Guldberg und Waage, schrieb über beide einen ausgezeichnet klaren Bericht und veröffentlichte diesen in der führenden wissenschaftlichen Zeitschrift Englands,[151] dem Philosophical Magazine (September 1879, S. 181 bis 203). In der Einleitung hob er hervor, daß seit 1803 (wo Berthollets Werk erschienen war) die genannten Arbeiten die ersten seien, die einen Fortschritt von Belang darüber hinaus brachten. Der letzte, zusammenfassende Satz des Berichtes lautet: »Ostwald hat der Chemie ein neues Verfahren geschenkt, einige ihrer schwierigsten Probleme zu lösen; und Guldberg und Waage sind führend in der Anwendung mathematischen Schließens auf die Tatsachen der chemischen Wissenschaft vorangegangen.«

Ich habe über diese Dinge so ausführlich berichtet, um einigermaßen den gewaltigen Eindruck wiederzugeben, den die Veröffentlichung und ein gleichzeitiger Brief P. Muirs auf mich machte. Der Sprung vom Laboranten des Chemischen Instituts der Dorpater Universität (ich hatte inzwischen die Assistentenstelle am physikalischen Institut mit einer gleichen Stelle am chemischen vertauscht), der außer diesem Laboratorium überhaupt kein anderes gesehen und seine Arbeiten stillvergnügt in diesem engen Kreise ausgeführt hatte, zu einem international anerkannten Forscher von Bedeutung war so groß, daß ich zunächst ganz außer Stande war, seine Weite zu ermessen. Meine Lehrer K. Schmidt, Öttingen und Lemberg waren besser dazu fähig und gönnten dem stets bevorzugten Schüler mit Freuden das Glück. Meine Alters- und Studiengenossen waren weit weniger einverstanden.

Der Schullehrer. Die Hoffnung auf Erlangung einer Anstellung mit soviel Gehalt, daß er die Begründung eines Hausstandes ermöglichte, erfüllte sich im Winter 1879/80. An der Dorpater Kreisschule war die Stelle eines Lehrers der Mathematik und Naturwissenschaften frei geworden und die maßgebenden Personen, insbesondere der Bürgermeister zeigten sich geneigt, mir das Amt zu übertragen. Zwar hätte die kleine Besoldung allein nicht[152] genügt; aber Professor Karl Schmidt hatte in seiner Güte nichts dawider, daß ich die Assistentenstelle bei ihm beibehielt, da ich sonst keine Möglichkeit gehabt hätte, meine wissenschaftlichen Arbeiten fortzusetzen, worauf er großes Gewicht legte. Meine Bewerbung wurde angenommen und daraufhin der Zeitpunkt der Hochzeit auf die nächsten Osterferien festgelegt.

Diese Wendung zum praktischen Lehrberuf muß ich als einen der vielen glücklichen Zufälle anerkennen, an denen sich mein Leben günstig hat entwickeln können. Sie hat mir die erste Gelegenheit gegeben, die besondere Lehrbegabung zu entfalten, welche für große Gebiete meiner späteren Betätigung von maßgebender Bedeutung geworden ist und welche bei ausschließlich akademischer Betätigung zweifellos erheblich enger und einseitiger geblieben wäre.

Denn die Unterrichtsarbeit, die ich nun unternahm, stellte höhere Anforderungen, als ein durchschnittlicher Schulunterricht. Das Unterrichtswesen meiner Heimat lag in zwei ganz verschiedenen Händen; eine Gruppe der Schulen wurde von der Staatsregierung unterhalten und verwaltet, die andere von den städtischen und provinzialen Körperschaften. Obwohl die Universität und die Gymnasien in den drei Landeshauptstädten Riga, Mitau und Reval »Kronsanstalten« waren, neben zahlreichen Mittel- und Volksschulen, galten doch diese letzteren als minderwertig gegenüber den städtischen und Landesschulen. Wohl mit Recht, denn der allgemeine Schlendrian der russischen Verwaltung machte sich auch hier geltend. Wenn nicht zufällig der Direktor aus eigenem Antrieb seine Anstalt auf eine höhere Stufe hob, nahm sie bald die Beschaffenheit der anderen Schulen im weiten Russischen Reich an.

In einem solchen Zustande befand sich auch die Dorpater Kreisschule, eine Mittelschule etwa von der Art[153] unserer Realschulen, mit der Aufgabe, die Schüler für die bürgerlichen Berufe heranzubilden. Sie stand in gar keiner Beziehung zu der Universität, war in einem alten, ziemlich baufälligen Hause untergebracht und verfügte nur über geringe Mittel. Der Direktor war ein älterer gutmütiger Mann mit einer großen Familie, der Mühe genug hatte, sich und die Seinen durchzubringen und sich begnügen mußte, die Verwaltung vorschriftsmäßig zu führen. Meine neuen Kollegen, die Anstaltslehrer, waren meist anspruchslose, im eintönigen Beruf ergraute Männer, die den fremdartigen Neuling mit einiger Verwunderung aber doch voll guten Willens empfingen. Sie haben mir, soviel sie konnten, meine Arbeit erleichtert und ich bin ihnen herzlichen Dank schuldig. Meine Aufgabe war, in den oberen Klassen Physik, Chemie und einige mathematische Sonderfächer, namentlich darstellende Geometrie zu lehren. Für die erstgenannten Fächer waren nur kümmerliche Reste eines altertümlichen Apparats vorhanden, den mein Vorgänger nie angerührt oder ergänzt hatte. Von der darstellenden Geometrie wußte ich noch nichts; da ich aber im Zusammenhange mit meinen Versuchen im Zeichnen und Malen mich eingehend mit Perspektive beschäftigt hatte, so getraute ich mir, die nötigen Kenntnisse rechtzeitig mir aus Büchern anzueignen, wie ich denn alsbald das Grundwerk von Monge mit Freude zu studieren begann. Die fehlenden Geräte für den Unterricht in Chemie und Physik waren auch kein unübersteigliches Hindernis zufolge meiner Beziehungen zu den Universitätsanstalten.

So begann ich denn mit dem Jahre 1880 meine Tätigkeit als Schullehrer. Die Schüler waren große Jungen von 14 bis 18 Jahren, ziemlich roh und ungeschlacht in ihrer persönlichen Beschaffenheit. Doch habe ich so gut wie keine Schwierigkeiten mit der Disziplin gehabt, denn bei der großen eigenen Begeisterung für den Inhalt[154] meines Unterrichts gelang es mir ohne Mühe, ja fast ohne Absicht auch die Schüler zu lebhafter innerer Anteilnahme anzuregen. Der Mangel an Unterrichtsgeräten zwang mich, um so anschaulicher in den mündlichen Darlegungen zu sein und die Erlaubnis, am Sonntag vormittag die beschriebenen Versuche im physikalischen Institut zu sehen, wo ich sie mit Öttingens Zustimmung vorführen konnte, wurde bereitwillig benutzt, obwohl sie die Freistunden verkürzte.

Durch diese Unterrichtstätigkeit habe ich viel gewonnen. Die sehr beschränkten Voraussetzungen, die ich bei den neuen Schülern machen mußte, zwangen mich zu einer viel einfacheren, ganz auf das Grundlegende gerichteten Darstellung, als ich sie bei den Universitätsvorlesungen einzuhalten hatte und wirkten dadurch auf diese vertiefend zurück. Wenn man meinen späteren Lehrbüchern Einfachheit und Klarheit freundlich zuerkannt hat, so hat meine Tätigkeit als Schullehrer sicherlich dazu erheblich beigetragen, daß ich auf diese Eigenschaften besondere Aufmerksamkeit verwendet habe.

Der neue Hausstand. Die experimentellen Forschungsarbeiten zur Lehre von der chemischen Verwandtschaft wurden inzwischen stetig fortgesetzt und erweitert; am Dozentenabend konnte ich darüber in kurzen Abständen berichten. Auch für eine andere, besonders wichtige Seite meines künftigen Berufes als akademischer Lehrer konnte ich durch Karl Schmidts Güte die ersten Erfahrungen sammeln. Er wies mir einen und den anderen seiner Schüler zu, die von mir gestellte wissenschaftliche Aufgaben unter meiner Anleitung zu bearbeiten hatten, um die Ergebnisse für ihre Abschlußleistungen zu verwerten. Auch diese Dinge ließen sich zur Befriedigung der Beteiligten erledigen. So fand ich mich in mannigfaltiger Tätigkeit, die überall von fruchtbringender Beschaffenheit war und nirgend das Gefühl eintöniger Wiederholung[155] aufkommen ließ. Schmidt und Öttingen machten mich wiederholt aufmerksam, daß das Leben, das ich führte, eigentlich ganz ideal für einen Menschen mit meinen Neigungen und Anlagen sei. »So gut werden Sie es nie wieder haben,« pflegte Öttingen mich zu versichern, »ich beneide Sie um Ihren Zustand, der so völlig frei ist von nebensächlichen Beanspruchungen.« Ich lächelte etwas ungläubig dazu, denn die Tätigkeit als ordentlicher Professor kam mir doch noch wirksamer und schwungvoller vor, namentlich wegen der Verbreiterung des Kreises, auf den man wirken konnte. Auch hat die Zukunft ihm nur halb Recht gegeben, denn auch meine spätere Tätigkeit als Professor und Laboratoriumsvorstand hat sich von unwillkommener und zerstreuender Nebenbeanspruchung bemerkenswert frei halten lassen.

Neben der neuen Arbeit an der Schule ging so die alte an der Universität ungestört ihren Gang. Daneben mußte aber noch die Wohnung für den neuen Haushalt eingerichtet werden. Entsprechend den geringen Mitteln, über die ich verfügte, war diese von bescheidenster Beschaffenheit; eine frühere Studentenwohnung in der Nähe der Kreisschule, bestehend aus zwei Wohnzimmern, Schlafzimmer und Küche wurde leidlich hergerichtet. Die Trauung fand während der Osterferien in Riga statt; eine dreißigstündige Postfahrt von Riga nach Dorpat auf vielfach sehr schlechten Wegen mußte die Hochzeitsreise ersetzen und so begann im Frühling 1880 unser gemeinschaftliches Leben, das nunmehr durch bald fünfzig Jahre unter mannigfaltigen Schicksalswendungen uns zusammengehalten hat.

In anderem Zusammenhange (in der Einleitung meines Buches: Die Forderung des Tages) habe ich den damaligen Zustand schon geschildert, und ich kann nichts besseres tun, als jene 1910 geschriebene Darstellung hier wiederholen.[156]

»Als wir jungen Leute, meine Frau und ich, unser gemeinsames Leben in der Dorpater Studentenbude, die notdürftig genug zur Familienwohnung eingerichtet worden war, in Gang gebracht hatten, erstaunte sie über die Summe von mannigfaltiger Arbeit, die ich im Laufe des Tages herunterzuspinnen hatte. Morgens einige Stunden Unterricht an einer Realschule, den ich übernommen hatte, um unser selbständiges Leben zu ermöglichen. Dann bis Mittag und am Nachmittag Assistententätigkeit bei meinem verehrten Lehrer Karl Schmidt, die nach seiner mir deutlich erteilten Anweisung darin zu bestehen hatte, daß ich ohne Rücksicht auf offizielle Anforderungen möglichst viele und gute Experimentalarbeiten ausführen sollte. Am Abend endlich Schreibarbeit an meinem ersten Buche, dem »Lehrbuch der Allgemeinen Chemie«, dessen erster Band allerdings erst einige Jahre später in Riga fertig werden sollte. Dazwischen noch gelegentlicher Privatunterricht und natürlich die Vorlesungen, die ich als Privatdozent an der Universität zu halten hatte, und die auch mancherlei Vorbereitungen, experimentelle wie theoretische erforderten. Dies stand in einigem Gegensatz zu der unbefangenen Weise, mit der man sich in unserer gemeinsamen Vaterstadt Riga damals mit der Tagesarbeit abzufinden wußte, um genügend Zeit für die in allen Formen geübte häusliche Geselligkeit übrig zu behalten. Wie es in der Stimmung des Ehefrühlings liegt, wünschte sie auch ihrerseits, sich meinem Stil anzupassen, und da sie zufolge guter mütterlicher Schulung sehr geschwind mit dem bischen Hauswesen fertig wurde, die unsere zweiundeinhalb Zimmer beanspruchten, so kränkte es sie, daß sie so wenig zu tun hatte. Insbesondere wünschte sie angesichts der sehr weit ausschauenden Pläne, die ich für die künftige Gestaltung meines wissenschaftlichen Arbeitslebens der teilnahmsvoll, ja begeistert lauschenden Zuhörerin entwickelte, auch ihrerseits etwas Großes zu unternehmen.[157] Nun begannen aber die ersten Vorzeichen ihrer künftigen sehr anspruchsvollen Pflichten (sie hat inzwischen fünf Kinder großgezogen) am Horizonte unseres Lebens zu erscheinen; somit hieß es für sie, auf anderweitige Arbeitspläne zu verzichten und sich auf das kommende Ereignis vorbereiten. In den wechselnden Stimmungen hierbei hat ihr nun nichts so lebendigen Trost, ja Erfrischung gebracht, als die Worte, die gleich am Anfang von Goethes Maximen und Reflexionen stehen. Sie lauten: »Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu tun, und du weißt sogleich, was an dir ist.«

»Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages«. Es war ein folgenreiches Erlebnis für mich, zu beobachten, wie durch dies Wort die unklar drängenden Wünsche und Bestrebungen alsbald in ein ruhiges Bett geleitet wurden, indem sie sich in ganz bestimmter Richtung betätigten und vielfältigen Segen gebracht haben. Auf mich selbst den Spruch anzuwenden, fühlte ich kaum ein Bedürfnis, denn die Forderung des Tages stimmte damals so weitgehend mit meinen innersten Neigungen und Wünschen überein, daß ich eigentlich nur vor mich hin zu leben brauchte, um beide zu befriedigen. Auch der Schulunterricht, den ich anfangs nur aus äußeren Gründen übernommen hatte, war mir interessant und befriedigend, da ich die Arbeit innerhalb eines ziemlich unbestimmten Rahmens weitgehend nach meinen eigenen Gedanken und Bedürfnissen gestalten konnte. Denn meine unmittelbaren Vorgesetzten ließen mich angesichts meines beginnenden wissenschaftlichen Ansehens (das in Dorpat einigermaßen eine Rarität und deshalb allen bekannt war) überall in dankenswerter Weise freie Hand. Aus den damals erworbenen Erfahrungen leite ich denn auch für mich ein Recht her, in den Fragen der Mittelschulreform als Fachmann und nicht als der bloße Dilettant mitzusprechen,[158] für den mich die sich angegriffen fühlenden Oberlehrer so gern ausgeben möchten.«

Das Lehrbuch der Allgemeinen Chemie. Das wichtigste Ereignis, welches ich aus diesen Jahren zu verzeichnen habe, ist der Beginn meiner Arbeit an dem Lehrbuch der Allgemeinen Chemie, der eben erwähnt worden ist. Das zum Zweck der Vorlesungen durchgearbeitete Material drängte unwiderstehlich auf eine geordnete Darstellung hin. Die sprachliche Gestaltung in den Vorlesungen machte mir keine Schwierigkeit und brachte mir gelegentliche Anerkennung seitens der Hörer, so daß trotz des übergroßen Respekts, der in meiner baltischen Umgebung vor der Druckerpresse bestand, mich der Gedanke, ein dickes Buch zu schreiben, nicht nur nicht schreckte, sondern anzog. Auf Karl Schmidts Rat wandte ich mich an Prof. H. Kolbe in Leipzig, den Herausgeber des Journal für praktische Chemie, in welchem meine erste Arbeit erschienen war, mit der Bitte um den Nachweis eines geeigneten und willigen Verlegers, und dieser machte den seinem Hause befreundeten Astronomen Dr. Rudolf Engelmann, den Besitzer des sehr angesehenen wissenschaftlichen Verlags Wilhelm Engelmann willig, den Druck des zu schreibenden Werks zu übernehmen. So begann ich 1880 die Vorarbeiten, aus denen sich in einigen Jahren das Lehrbuch entwickeln sollte.

Zunächst begnügte ich mich mit der Aussicht, einen Verleger zu haben, wenn ich das Werk schreiben würde. Wann ich mit der endgültigen Redaktion beginnen würde, konnte ich noch nicht absehen, da das Sammeln und namentlich das Ordnen des Materials noch sehr viele Arbeit erforderte, deren Dauer und Erfolg sich nicht beurteilen ließ. Tatsächlich verging noch eine geraume Zeit, bis ich die endgültige Redaktion begann.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 142-159.
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