Achtes Kapitel.
Die Energetik.

[148] Die Anfänge der Energetik. Mit dem Begriff der Energie hatte Öttingen mich schon während meiner Assistentenzeit bekannt gemacht. Die erste, erregende Entwicklung der Thermodynamik war erfolgt, als er in Berlin die empfänglichen Zeiten der wissenschaftlichen Wanderjahre erlebte, und er hatte lebhaft an ihr teilgenommen. Seine Vorlesungen, die ich als Assistent anzuhören hatte, waren vielfach auf die Herausarbeitung des ersten Hauptsatzes, des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, gerichtet und die gedanklichen Schwierigkeiten des zweiten beschäftigten ihn auf das lebhafteste. Ich hatte diese Anregungen mit empfänglichem Gemüt aufgenommen und habe schon erzählt, wie lebhaft ihre Entwicklung mich aus Anlaß meiner erweiterten Lehrtätigkeit als Professor in Riga beschäftigt hatte.

Als ich nach Leipzig kam, war diese Gedankenarbeit schon so stark in den Vordergrund getreten, daß ich zum Thema meiner Antrittsvorlesung, die vor versammelter Fakultät und Studentenschaft in der Universitätsaula gehalten wurde, gewählt hatte: Die Energie und ihre Wandlungen.

Der Vortrag begann mit wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtungen in optimistischem Sinne, indem auf die zunehmende Annäherung der bisher vereinzelten[149] Wissenschaften hingewiesen wurde. Die physikalische Chemie gibt hierfür ein gutes Beispiel. Einige Bewegung verursachte der folgende Vergleich. »Man kann sich die Ausbildung des menschlichen Wissens ganz anschaulich unter dem Bilde vergegenwärtigen, welches wir uns von der Entstehung eines Kontinents aus dem Weltmeer durch allmähliche Erhebung des Meeresgrundes oder allmähliches Zurücktreten des Wassers machen. Zuerst ragen nur hier und da einzelne höchste Gipfel als Inseln hervor, die miteinander keinen Zusammenhang zu haben scheinen: hier die Geisteswissenschaften (die ich lieber Willenswissenschaften nennen möchte), dort die Naturwissenschaften und dazwischen das tiefe Meer der Unwissenheit, auf welchem sich jugendmutig die Segel philosophischer Systeme tummeln. Meist entfliehen sie in das Unbegrenzte oder scheitern am harten Fels der gesicherten Erkenntnis; nur wenige haben Neigung und Fähigkeit, daselbst zuverlässigen Ankergrund zu suchen und zu finden.«

»Allmählich gesellen sich zu den wenigen Hauptgipfeln die Nebeninseln, die sich später zum Teil vereinigen in dem Maße, als die Wasser sich verlaufen, während immer neue erscheinen. Wenn noch so zahlreiche Inseln und Inselchen nebeneinander auftauchen: wir wissen doch, daß alle unterhalb zusammenhängen, daß alle Punkte eines und desselben Gebiets sind, wenn auch zurzeit ihr Zusammenhang noch nicht sichtbar ist. Und gerade wenn recht viele einzelne Inseln erscheinen, sind wir sicher, daß auch der unterste Grund, der sie alle zusammenhält, dem Erscheinen näher und näher kommt.«

Später pflegte mich Wilhelm Wundt mit dem Ausdruck »Meer der Unwissenheit« zu necken und mir den scherzhaften Vorwurf zu machen, daß ich auch seine und seiner Schüler wissenschaftliche Arbeiten, die er unter dem Gesamttitel »Philosophische Studien« herausgab,[150] zu den Seglern auf diesem Meer rechne. Er wußte wohl, daß sie auch nach meiner Überzeugung zu denen gehörten, welche zuverlässigen Ankergrund gefunden hatten.

Bezüglich der Energie wurde folgende Beziehung zur Materie festgestellt. Die Elemente waren ursprünglich nicht Stoffe, sondern Eigenschaften. Die des Aristoteles, nämlich Erde, Wasser, Luft und Feuer stellen die Eigenschaften fest, flüssig und gasförmig dar, während das Feuer die Wärme, oder vielleicht noch allgemeiner die Energie darstellt. Auch die Elemente der Alchimisten: Quecksilber, Schwefel, Salz sind Vertreter von Eigenschaften, nämlich der metallischen, brennbaren und löslichen Stoffe und diese »philosophischen« Elemente durften durchaus nicht mit den gewöhnlichen Stoffen gleichen Namens verwechselt werden. Im Verlauf der Entwicklung werden diese abstrakten Elemente immer konkreter, bis sie in unserer Zeit als die letzten wägbaren Bestandteile aller wägbaren Stoffe definiert wurden.

Die verschiedenen Energiearten wurden dagegen zuerst durchaus stofflich aufgefaßt; im achtzehnten Jahrhundert ist beständig von der Feuermaterie, den elektrischen Flüssigkeiten usw. die Rede. Diese Materien verflüchtigten sich im Laufe der Entwicklung begrifflich mehr und mehr und wurden als Kräfte bezeichnet. Beachtet man aber, daß gemäß dem Gesetz von der Erhaltung der Energie die verschiedenen »Kräfte« oder vielmehr Energien ebenso der Menge nach unzerstörbar und nur der Form nach verwandelbar sind, wie die Stoffe, so erkennt man, daß beide in solchem Sinne durchaus vergleichbar sind.

»Fragt man nach einem Kennzeichen, welches den realen Objekten und nur solchen eigen sein müsse, so läßt sich kein anderes finden, als daß alle menschliche und natürliche Macht außerstande ist, sie willkürlich zu[151] vernichten oder zu erzeugen. Ich will an dieser Stelle darauf verzichten zu erörtern, ob dies als Kriterium absoluter objektiver Realität betrachtet werden kann und ob es überhaupt ein solches gibt; hier kann es genügen festzustellen, daß realere Objekte nicht denkbar sind, als solche, deren Existenz vom menschlichen Willen ganz unabhängig ist.«

»Solcher Objekte sind aber bisher nur zwei Arten bekannt: die wägbare Materie und die Energie. Nur ihnen, aber ihnen beiden kommt der Name Substanz zu als dessen, was unter allen Umständen bestehen bleibt. Es läßt sich mit Sicherheit erwarten, daß nach fünfzig Jahren die Realität und Substanzialität der Energie dem gebildeten Menschen ebenso zum Bewußtsein gelangt sein wird, wie gegenwärtig die Realität der wägbaren Materie. Sache der Wissenschaft ist es aber, schon jetzt die entsprechenden Folgerungen zu ziehen, denn sie hat dem Allgemeinbewußtsein vorauszugehen und es zu bestimmen, nicht dem vorhandenen nachzugehen.«

Dem Kenner der Entwicklungsgeschichte der Energetik wird es nicht entgehen, daß es sich hier um denselben Grundgedanken handelt, mit welchem der Entdecker des Gesetzes von der Erhaltung der Energie seinen Zeitgenossen fast ein halbes Jahrhundert früher seine revolutionäre Einsicht klar zu machen sich bestrebte. Und sie wissen auch, daß damals dieser Gedanke völlig verloren gegangen war, so daß ich selbst und noch viel mehr meine Zuhörer es als eine große Kühnheit empfanden, Materie und Energie dergestalt als etwas Vergleichbares anzusehen. Denn durch die vorwiegend mathematische Entwicklung der Thermodynamik hatte man sich ganz allgemein gewöhnt, die Energie lediglich als eine mathematische Funktion zu betrachten, der die merkwürdige aber rechnerisch äußerst wertvolle Eigenschaft zukam, daß sie in geschlossenen Gebilden stets konstant bleibt. Und als[152] ich acht Jahre später den weiteren Schritt tat, die Materie der Energie begrifflich unterzuordnen und diese als das allein »Wirkliche« weil allein Wirkende erklärte, war es die gleiche Auffassung, von welcher aus alle Fachgenossen mit verschwindend wenigen Ausnahmen sich in scharfen Gegensatz dazu stellten.

Zunächst ließ ich allerdings diese Gedankenreihe auf sich beruhen, da die unmittelbaren Anwendungen der durch van't Hoff und Arrhenius aufgestellten neuen Beziehungen meine ganze Arbeitskraft sowie die meiner Arbeitsgenossen in Anspruch nahm. Doch läßt sich aus einzelnen Bemerkungen in meinen Abhandlungen und Referaten erkennen, daß sie immer wieder über die Schwelle des Bewußtseins emportauchte und sich gelegentlich betätigte.

Weiterentwicklung. In ganz wesentlicher Art trug zur Klärung meiner energetischen Anschauungen der tägliche eifrige Verkehr mit den Schülern und Arbeitsgenossen im Laboratorium bei. Da diejenigen jungen Leute, welche damals den Mut hatten, einige Semester der physikalischen Chemie zu widmen, notwendig einigermaßen selbständige Denker- und Forschernaturen waren, so gestalteten sich unsere Besprechungen besonders fruchtbar. Denn die Schüler aßen nicht einfach das auf, war der Lehrer ihnen vorsetzte, um es stillschweigend zu verarbeiten, sondern sie reagierten mit kräftigem eigenem Denken. Insbesondere waren sie alle unter dem Einfluß der allgemein verbreiteten Neigung mit kinetischen Vorstellungen behaftet und ließen sich nur zögernd und nie ohne Widerspruch auf meine abstrakte, nach ihrer Meinung unanschauliche Auffassung ein. Die Folge war ein lebhafter Meinungsaustausch herüber und hinüber, der mich zu einer immer sorgfältigeren Reinigung und Klärung meiner eigenen Ansichten zwang. Unter diesen kritischen Einflüssen mußte jener Gedanke vom Parallelismus der[153] Materie und Energie immer deutlicher seine innere Schwäche offenbaren.

Wenn man einem anderen etwas klar machen will, muß man es zuerst sich selbst klar gemacht haben. Dies ist wohl der allerwertvollste subjektive Gewinn durch den Lehrerberuf, denn die Notwendigkeit solchen Klarmachens ist das sicherste und wirksamste Mittel, um wesentliche Fortschritte im eigenen Denken zu erzielen. So ist mir zwar nicht Tag und Jahr, wohl aber die Umgebung und das zugehörige Gefühl in lebhaftester Erinnerung geblieben, als mir zum ersten Male der radikale Gedanke der reinen Energetik aufging. Ich sehe noch die dunklen und nicht ganz sauberen Räume des alten Laboratoriums in der Brüderstraße vor mir, wo ich unter lebhafter Aussprache von einem Schüler zum anderen zu gehen pflegte, zunächst um mit ihm über seine Sonderarbeit zu sprechen, ihren Stand festzustellen und den Weg ihrer Fortsetzung zu erörtern. Von diesen Sonderfragen ging das Gespräch leicht und oft auf allgemeinere und allgemeinste Gedanken über, denn die Einordnung der Einzelaufgabe in den ganzen Kreis der verwandten Probleme und wieder deren Auffassung als Sonderfälle eines entsprechenden allgemeinen Prinzips ist mir stets als eines der wirksamsten Mittel erschienen, um Ort und Art zu finden, wo und wie die Arbeit am zweckmäßigsten einzusetzen hatte. Es war natürlich, daß nicht nur der einzelne Schüler sich beteiligte, an dessen Arbeitsplatz ich eben stand, sondern auch seine Nachbarn und oft die ganze Belegschaft des Zimmers.

Ich war nach einem solchen Rundgang endlich einmal den Schwarm auf kurze Zeit los geworden und begab mich durch den kleinen Bibliothekraum in mein Schreibzimmer, um einige amtliche Geschäfte zu erledigen, zu denen ich mich immer erst etwas zu zwingen hatte. Auf einmal blieb ich unwillkürlich stehen. In meinem Kopf[154] war die angeregte Gedankenarbeit unterbewußt weiter gegangen und hatte plötzlich zu einem neuen, bisher nicht betretenen Punkt geführt. Die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit des Dualismus und Parallelismus Materie-Energie hatten sich durch die vorangegangenen Gespräche in solchem Maße in meinem Kopfe gesteigert, daß ich sozusagen geistig nach Luft schnappte und unwillkürlich nach einer anderen Lösung griff. Wie wär's, wenn die Energie allein primäre Existenz hat und die Materie nur ein sekundäres Erzeugnis der Energie, ein durch bestimmte Ursachen zusammengehaltener Komplex verschiedener Energien ist?

Grundsätzliches. Die Fragestellung war meines Erinnerns daraus entstanden, daß man mir eingewendet hatte: wie kann denn die Energie eine Realität sein, wenn eine Masse, die verschiedene Geschwindigkeiten annimmt, damit auch verschiedene Mengen Energie haben kann? Die Geschwindigkeit ist doch nur ein Zahlenverhältnis zwischen Strecke und Zeit, und wie soll ein Zahlenverhältnis plötzlich eine neue Realität in ein Objekt hineinbringen, das eine ganz andere Realität, nämlich Masse besitzt?

Der scharfe Gegensatz, der durch diesen Einwand offenbar geworden war, brachte bei mir die Reaktion nach der entgegengesetzten Richtung hervor. Der Geschwindigkeit und der mit ihr wachsenden und abnehmenden Bewegungsenergie kann und muß Realität zugeschrieben werden, denn jenes Zahlenverhältnis bezieht sich ja nur auf deren Maß, nicht deren andere Eigenschaften, wie z.B. ihre Richtung. Und die Physik lehrt unerbittlich: um der Masse eine Geschwindigkeit zu geben, ist ein Aufwand von Arbeit erforderlich, der auf keine Weise umgangen werden kann. Die erforderliche Arbeit oder Energie läßt sich nicht aus dem Nichts schaffen, sie muß irgendwoher genommen werden, wo sie vorher vorhanden war. Somit steckt in der Geschwindigkeit[155] unzweifelhaft eine Realität, denn wenn man mit diesem Namen einen Inhalt verbinden will, so kommt er sicherlich einem Wesen zu, das man wie die Energie nicht nur nicht schaffen, sondern auf keine Weise vernichten kann.

Also das abstrakte Zahlenverhältnis aus Strecke und Zeit mag nur ein begriffliches Dasein haben. Die besondere Geschwindigkeit aber, die ein besonderer Körper hat, ist eine Realität, eine einzelne Wirklichkeit, die man nur durch einen Akt der Abstraktion unter den allgemeinen Begriff bringt. Auch bei der Energie ist der gleiche Unterschied zu machen. Jede einzelne Energiemenge, die in einem Stück Steinkohle oder einem geladenen Akkumulator, in dem Planeten, der sich um die Sonne schwingt und in dem elektrischen Funken enthalten ist, der die elektrische Energie der geladenen Leidner Flasche in Wärme umsetzt, ist eine Realität, eine Wirklichkeit. Alle diese Wirklichkeiten kann man unter den Begriff der Energie bringen.

Also die Erkenntnis, wie wir hier wieder einmal von der Sprache in die Irre geführt werden, welche den allgemeinen Begriff und die einzelne Wirklichkeit mit demselben Wort zu bezeichnen pflegt, ohne den sehr bedeutenden sachlichen Unterschied irgendwie zum Ausdruck zu bringen – diese Erkenntnis, daß ein wirkliches Ding darum nicht weniger real ist, weil man es unter einen allgemeinen oder abstrakten Begriff bringen kann, wirkte damals auf mich wie eine blitzartige Erleuchtung. Ich hatte eine beinahe physische Empfindung in meinem Gehirn, vergleichbar mit dem Umklappen eines Regenschirms im Sturm. Aus der früheren relativen Gleichgewichtslage meines Denkens, das sich mit dem Parallelismus von Materie und Energie begnügt hatte, schnappte mein Gesamtbewußtsein auf einmal in eine andere, stabilere Gleichgewichtslage über. Hier wurde der Energie durchaus die führende und maßgebende Stellung eingeräumt; Masse und Gewicht, die Haupteigenschaften der[156] »Materie« wurden als Faktoren oder Teilgrößen bestimmter Energiearten erkannt.

Der Durchbruch. Ich darf nicht behaupten, daß nunmehr mit dieser neuen Einstellung des Geistes alles, oder auch nur sehr viel getan gewesen wäre. Die nächste Zeit brachte vielmehr eine vorläufige Erschöpfung durch diesen Geburtsakt und daher ein ziemlich unverändertes Fortwursteln in den bisherigen Gedankengängen, allerdings mit dem oft wiederholten Hinweis für mich selbst und für meine Schüler, daß unsere Sachen voraussichtlich besser und förderlicher auf dem neuen Wege vorangehen würden. Das sorgfältige Durchdenken aller Folgen der neuen Auffassung im einzelnen war ebenso notwendig wie schwierig, bevor ich von der neuen Einsicht einen sicheren und regelmäßigen Gebrauch machen konnte. Ein solcher Zustand ist vermutlich für jede erhebliche Entdeckung notwendig. Wissen wir doch beispielsweise von Julius Robert Mayer, daß er sein Energiegesetz zwar als plötzliche Erleuchtung auf der Reede von Surabaya empfing, daß er aber hernach einige Jahre angestrengtester Arbeit gebraucht hatte, um diese erstmalige Eingebung zu einem wirklichen, wissenschaftlich haltbaren und auf beliebige Einzelfälle sicher anwendbaren allgemeinen Gesetz zu entwickeln.

So ging es auch mir mit diesem Gedanken der reinen Energetik, der soweit meine Kenntnis reicht, vor mir tatsächlich von keinem Denker erfaßt worden war. Der erste war der fortgeschrittenste gewesen und geblieben: J.R. Mayer hatte bereits die Energie als eine Realität neben der Materie angesehen; weiter hatte er sich nicht vorgetraut. Seitdem waren nur Rückschritte geschehen, denn alle späteren Forscher auf dem Gebiete der Thermodynamik setzten die Energie noch weiter ins Mathematisch-Abstrakte zurück, indem sie sie wie eine zweckmäßige mathematische Funktion der Zustandsvariablen[157] ansahen, etwa vergleichbar der Potentialfunktion. Und selbst ein Arbeits- und Denkgenosse meiner eigenen Zeit, der mir als Energetiker vorangegangen war, der Mathematiker Georg Helm hat auf das bestimmteste abgelehnt, diesen radikalen Schritt mitzumachen und sich mit ausdrücklichen, fast gereizten Worten gegen jeden Versuch ausgesprochen, die Energie als Substanz anzusehen und ihr eine der Materie vergleichbare Wirklichkeit zuzuschreiben. Er war also ausdrücklich noch hinter Mayer zurückgegangen. Für mich dagegen bestand der entstehende Fortschritt darin, daß ich die Materie begrifflich in ihre energetischen Bestandteile auflöste und erkannte, daß alles, was wir sinnfällig erleben, sich auf Energiebeziehungen zwischen unseren Sinnesorganen und der Außenwelt zurückführen läßt. Denn jede derartige Betätigung wird nur durch den Ein- oder Ausgang von Energiebeträgen bewirkt und kein Sinnesorgan bewirkt eine Empfindung, wenn es nicht eine derartige energetische Veränderung erfährt.

Die Ausgießung des Geistes. Die innere Entwicklung und Klärung solcher Gedankengänge brauchte eine nicht unerhebliche Zeit, deren Einzelheiten nicht in meinem Gedächtnis haften geblieben sind. In meiner Erinnerung steht dann mit bildhafter Anschaulichkeit ein Erlebnis da, das vielleicht ein halbes oder ganzes Jahr später anzusetzen ist. Es geschah wahrscheinlich im Frühling 1890, doch bin ich über die Zeit nicht sicher.

Ich hatte bei früherer Gelegenheit den Physiker E. Budde kennen gelernt, der als erster aus den älteren Messungen Regnaults über die Zusammendrückbarkeit des Wasserstoffgases berechnet hatte, daß dessen Gesamtvolum aus zwei Anteilen besteht: einem, der genau dem Boyleschen Gesetz vom umgekehrten Verhältnis zwischen Raum und Druck folgt, und einem zweiten, der vom Druck unabhängig oder unzusammendrückbar ist. In meinem[158] Lehrbuch hatte ich die Bedeutung dieser Entdeckung, um die man sich bis dahin wenig gekümmert hatte, sachgemäß hervorgehoben, was Budde angenehm empfunden hatte. Da er sich außerdem als vielerfahrener, geistvoller und zu heiterer Lebensauffassung entschlossener Mann erwies – er hat sich auch in solchem Sinne literarisch ausgezeichnet – so war zwischen uns ein näheres Verhältnis entstanden.

Mir war bei jenen Überlegungen zur Energetik klar geworden, daß die ganze Physik, die bisher allgemein als eine Lehre von den Kräften dargestellt worden war, nunmehr als eine Lehre von den Energien dargestellt werden mußte. Einzelne Kapitel, die ich dergestalt auszubauen versucht hatte, gaben sehr gute Resultate, doch konnte ich nicht daran denken, das ganze Gebiet in solchem Sinne zu bearbeiten. Dazu reichte weder die knappe Zeit aus, welche mir die im Gange befindliche Unterrichts- und Forschungsarbeit übrig ließ, noch durfte ich mir die nötige Sicherheit und Leichtigkeit für die mathematische Bearbeitung der ganzen Physik zutrauen.

Nun wußte ich, daß Budde sich nach einer Beschäftigung umsah, welche ihm die nötigen Einnahmen für seinen Haushalt – er war mit einer Türkin verheiratet – beschaffen sollte. Meine Erfahrungen über die wirtschaftlichen Ergebnisse wissenschaftlicher Lehrbücher waren so günstig, daß ich diese Quelle ihm vorschlagen wollte, in dem Sinne, daß er das geplante Lehrbuch der Physik in energetischer Darstellung schreiben sollte, nachdem ich mich mit ihm über die Grundgedanken verständigt haben würde.

Um die Angelegenheit besser zu fördern, war ich nach Berlin gereist, wo er lebte, um sie mit ihm durchzusprechen. Ich fand ihn mit beiden Händen in einer Schüssel, wo er mit Anstrengung eine weißliche Masse knetete. Er sagte mir, es sei ein Isoliermittel von besonders günstigen[159] Eigenschaften, dessen Herstellung er an die große elektrotechnische Firma Siemens und Halske verkaufen wollte. Als ich ihm mitgeteilt hatte, was mich zu ihm führte, ließ er seinen Teig stehen, reinigte nicht ohne Mühe seine Hände und ging mit mir in den Spatenbräu, wo wir, wie er sagte, später auch andere Berliner Physiker treffen würden, die aus der Physikalischen Gesellschaft kämen.

Für meinen Gedanken zeigte er sich zugänglich, so daß wir schon einen großen Teil durchgesprochen hatten, als die Fachgenossen auftraten; die einzelnen Teilnehmer wüßte ich nicht mehr zu nennen. Ich hielt mit meinen Plänen nicht zurück, die aber den anderen so absurd vorkamen, daß sie sie überhaupt nicht ernst nehmen wollten, sich vielmehr bemühten, mir meine Energetik durch reichlichen Spott zu verleiden. Dies hatte angesichts der eben mit Budde durchgesprochenen Gedanken natürlich nicht den beabsichtigten Erfolg, sondern bestärkte mich in der Überzeugung von der Notwendigkeit eines radikalen Umdenkens in der Physik. Das Gespräch wurde sehr lebhaft, wir trennten uns spät. Ich suchte Nachtquartier im gewohnten Zentralhotel, schlief einige Stunden, wachte dann plötzlich mitten in den gleichen Gedanken auf und konnte keinen Schlaf mehr finden. Die Sonne war schon aufgegangen.

In frühester Morgenstunde bin ich aus dem Gasthof nach dem Tiergarten gegangen und habe dort im Sonnenschein eines wundervollen Frühlingsmorgen ein wahres Pfingsten, eine Ausgießung des Geistes über mich erlebt. Die Vögel zwitscherten und schmetterten von allen Zweigen, goldgrünes Laub glänzte gegen einen lichtblauen Himmel, Schmetterlinge sonnten sich auf den Blumen, indem sie die Flügel öffneten und schlossen und ich selbst wanderte in wunderbar gehobener Stimmung durch diese frühlingshafte Natur. Alles sah mich mit neuen, ungewohnten[160] Augen an und mir war zumute, als wenn ich zum ersten Male alle diese Wonnen und Herrlichkeiten erlebte. Ich kann die Stimmung, von der ich damals getragen war, nur mit den höchsten Gefühlen meines Liebesfrühlings vergleichen, der damals um ein Jahrzehnt hinter mir lag. Der Denkvorgang für die allseitige Gestaltung der energetischen Weltauffassung vollzog sich in meinem Gehirn ohne jegliche Anstrengung, ja mit positiven Wonnegefühlen. Alle Dinge sahen mich an, als wäre ich eben gemäß dem biblischen Schöpfungsbericht in das Paradies gesetzt worden und gäbe nun jedem seinen wahren Namen.

Das war die eigentliche Geburtsstunde der Energetik. Was vor einem Jahre bei jener ersten plötzlichen Empfindung in meinem Gehirn, der Konzeption des Gedankens, mir noch als einigermaßen fremd, ja nicht ohne einen Zug von unheimlicher Neuheit entgegengetreten war, erwies sich jetzt als zu meinem Innern gehörig, ja als ein lebenswichtiger Teil meines Wesens. Er war so assimiliert, organisch an- und eingeschlossen und halb unterbewußt entwickelt worden, daß wie bei dem plötzlichen Aufbrechen einer Knospe mit einem Male alles da war und mein entzückter Blick nur von einem Orte zum anderen zu schweifen hatte, um die ganze neue Schöpfung in ihrer Vollkommenheit zu erfassen.

Dieser wundervolle Zustand hielt während der Morgenstunden an und ich konnte nicht müde werden, durch den glänzenden Frühling zu gehen und mein inneres Auge über die plötzlich aufgetanen, unbegrenzt herrlichen und unbegrenzt weiten Fernen schweifen zu lassen.

Dann erwachte allmählich der Großstadttag und nahm mich in seinen Lärm und Staub auf. Als dann die Tagesstunde es einigermaßen erlaubte, habe ich den einen und anderen Fachgenossen besucht und mich bemüht, ihnen meine neuen Erkenntnisse darzulegen. Sie haben[161] mir hernach erzählt, daß ich den Eindruck eines Inspirierten oder Propheten gemacht hatte. Sie seien meinerseits an Ungewöhnlichkeiten gewöhnt gewesen, in einem solchen Zustande aber hätten sie mich sonst nie gesehen. Ich muß wohl hinzufügen, daß ich auch hernach nie wieder einen solchen Zustand erlebt habe. Ein so konzentriertes Glück habe ich nicht nochmals erfahren, wenn auch eine ganze Reihe von erhebenden und wohl auch erschütternden Geburtsstunden neuer und erheblicher Gedanken mir noch hernach beschieden gewesen sind.

Vergebliche Predigt. Die von mir gewünschte Wirkung, einen ähnlichen Eindruck der neuen Gedanken auf die Fachgenossen zu erzielen, blieb vollkommen aus. Daß ich die von mir vertretenen neuen Ideen von van't Hoff und Arrhenius gegen den zunächst allgemeinen Widerspruch nun endgültig durchgesetzt hatte, ließen sie schließlich gelten, da es nicht meine eigenen gewesen waren. Daß ich selbst aber ähnlich revolutionäre Gedanken erzeugen könnte, vermochten sie sich nicht zu denken, da ich ja kein Holländer oder Schwede, sondern nur ein Deutscher war. So ließen sie diese meine neue Erleuchtung zunächst auf sich beruhen, um sie später, als ich sie öffentlich vortrug und vertrat, um so eifriger zu bekämpfen.

Ich kann nicht sagen, daß jene Gleichgültigkeit mich besonders verstimmt hätte; ich faßte sie weder als Stumpfheit, noch als Bosheit auf. Denn die eben erlebte geistige Erhebung war mir als ein so fremdartig-herrliches Ereignis erschienen, daß ich mir leicht klar machen konnte, wie wenig darauf zu rechnen war, bei anderen, die an diesem inneren Pfingsten nicht teilgenommen hatten, durch den bloßen Bericht darüber auch nur annähernd ähnliche Gefühle zu erregen.

Die energetische Physik, wegen deren ich damals nach Berlin gereist war, kam nicht zustande, weil Budde[162] bald darauf eine leitende Stellung bei Siemens und Halske erhielt, die seine Arbeitskraft und -zeit vollständig in Anspruch nahm.

Gestaltungsarbeit. Mit dieser starken Bereicherung meines inneren Lebens kehrte ich zu meiner Berufsarbeit zurück und befestigte die neuen Gedanken durch die täglichen Besprechungen mit den Laboratoriumsgenossen. Auch hier stieß ich auf passive und aktive Widerstände. Dies veranlaßte mich um so mehr, die energetische Betrachtungsweise überall auf die Probleme anzuwenden, mit deren Erforschung sich das Laboratorium beschäftigte, um die praktische Probe auf die Brauchbarkeit der neuen Gedanken zu machen.

Es muß als ein besonderer Glücksfall angesehen werden, daß die Aufgaben, welche uns damals beschäftigten, so gut wie alle auf einem Neuland lagen, das gedanklich noch nicht in Besitz genommen war. So hatte ich für die Durchführung der reinen Energetik ein unverbildetes, noch völlig plastisches Material vor mir. Dadurch kam ich in die glückliche Lage, solche Einzelarbeit leichter und vollständiger ausführen zu können, als es in älteren Gebieten möglich gewesen wäre, deren Formen bereits durch die Arbeiten früherer Forscher bestimmte Gestalt und damit eine gewisse Unbeweglichkeit angenommen hatten. Denn das Recht des Erstgekommenen gilt in der Wissenschaft vielleicht stärker als irgendwo sonst. Derjenige, der der Menschheit durch seine Arbeit ein neues Gebiet aufgetan hat, gestaltet dies nach der Beschaffenheit seines Denkens in ganz persönlicher und maßgebender Weise. Alle diejenigen, die nach ihm dasselbe Gebiet bearbeiten, sind in irgendeiner Weise immer gezwungen, sich der Form anzupassen, die er der Sache gegeben hat, sei es durch unmittelbare Übernahme, sei es durch die Ablehnung, welche eine gleichsam spiegelbildliche Wiederholung ist. Immer lassen sich an den[163] späteren Bearbeitungen die persönlichen Marken des ersten Besitzergreifers erkennen.

So hat man, wenn man mit neuen allgemeinen Gedanken an ältere, mehrfach bearbeitete Gebiete geht, immer doppelte Arbeit zu leisten. Zuerst müssen die erstarrten Formen wieder geschmolzen und beweglich gemacht werden. Man muß sich die Denkgewohnheiten, die dort bestehen und als »selbstverständlich« benutzt werden, weil man sich das Nachdenken über sie zu ersparen pflegt, zunächst bewußt abgewöhnen und kann erst dann die Neugestaltung vornehmen. Ist man dagegen so glücklich noch ungeordnete Gebiete vor sich zu haben so fällt jener meist sehr schwierige erste Teil des Aufräumens fort und man kann unverweilt an die Aufbauarbeit gehen.

Die Elektrochemie. In dieser glücklichen Lage fühlte ich mich gegenüber der physikalischen Chemie. Was es hier an Ordnung gab war großenteils von mir selbst erst vor kurzem beigebracht worden und daher noch nicht erstarrt. Zwar gab es für ein Gebiet eine sehr vollständige Zusammenstellung von anderer Hand, die erst vor kurzem wieder überarbeitet und bis nahe an die Gegenwart geführt worden war. Es war dies die Elektrochemie in G. Wiedemanns umfassenden Handbuch der Elektrizität. Aber was hier an Zusammenfassung geschehen war, wurde von dem Englischen Physiker Oliver Lodge, dem Vorsitzenden des damals sehr tätigen Ausschusses für Elektrolyse der Britischen Vereinigung für den Fortschritt der Wissenschaft zwar scharf aber doch zutreffend gekennzeichnet. Professor Wiedemann hat, schrieb er, die Probleme der elektromotorischen Kräfte der elektrochemischen Ketten in drei Fragen formuliert. Wenn ein Engel vom Himmel herabgestiegen käme und vermöge seines übermenschlichen Wissens alle drei Fragen beantwortete – ich glaube, wir würden hernach nicht klüger sein, als wir jetzt sind.

[164] Wiedemann nahm ihm dies sehr übel und sagte: »Man sieht, daß er in seiner Jugend Grobschmied gewesen ist.« Damit spielte er auf die sehr schlichten Verhältnisse an, aus denen sich O. Lodge zu seiner angesehenen wissenschaftlichen Stellung emporgearbeitet hatte.

Des Lehrbuches zweite Auflage. Eine besondere Gelegenheit bot sich dar, die energetischen Grundlagen meiner Wissenschaft sorgfältig herauszuarbeiten und ausdrücklich zu formulieren. Die erste Auflage meines Lehrbuches war in wenigen Jahren vergriffen und ziemlich bald nach meiner Übersiedelung nach Leipzig eröffnete mir der Verleger, daß ich für eine Neuauflage zu sorgen haben würde. Dies war eine große Arbeit, denn inzwischen war so viel Neues und Grundlegendes hervorgebracht worden, daß große Teile des Buches ganz neu zu schreiben waren. Der erste Teil, die Stöchiometrie, wurde während des Jahres 1890 bearbeitet; sein Umfang war verdoppelt. Er enthält noch keine Hindeutung auf den neuen Standpunkt, den ich um jene Zeit gewann; auch war durch den Inhalt kein Bedürfnis nach entsprechender Umgestaltung gegeben. Wohl aber trat ein solches auf das dringendste für den zweiten Teil, die Verwandtschaftslehre ein.

Dieser Teil war von Ende 1891 bis Ende 1892 bearbeitet worden und ich kann das Jahr 1892 als das Entwicklungsjahr meiner Energetik bezeichnen. Man ersieht dies aus der Vorrede zu diesem Werk, in welcher folgendes berichtet wird.

»Man wird in den Teilen über chemische Energetik und Elektrochemie die Darstellung vielfach von der üblichen abweichend finden. Ich habe geglaubt, diese Abweichungen nicht scheuen zu sollen, da sie gerade aus meinem Nachdenken über die angemessenste und erfolgreichste Art entstanden sind, dem Leser die geistige Herrschaft über diese ebenso wichtigen, wie – wenigstens[165] in der bisherigen Darstellung – schwierigen Fragen zu vermitteln. Ohnedies drängt die ganze Entwicklung der messenden Naturwissenschaften gegenwärtig unwiderstehlich auf den Grundgedanken hin, welcher den Mittelpunkt des vorliegenden Werkes bildet: daß alles Geschehen in der Welt nur in Änderungen der Energie im Raume und in der Zeit besteht, und daß somit diese drei Größen die allgemeinsten Grundbegriffe sind, auf welche alle meßbaren Dinge zurückzuführen sind.«

»In der Durchführung des Gedankens, wie sie hier vorliegt, hätte ich schon jetzt mancherlei zu ändern und an nicht wenigen Stellen könnte die Darstellung runder und systematischer sein. Dieser Nachteil ergab sich daraus, daß während der Abfassung des Textes und zwar durch dieselbe meine eigenen Vorstellungen in lebhafter Entwicklung begriffen waren. Ich hoffe, daß die vielfachen Spuren meines Ringens mit überkommenen unzulänglichen Anschauungen dem Leser den Faden der Gedankenentwicklung besser in die Hand geben werden, als wenn ich eine möglichst weitgehende Ausreifung der neuen Auffassungsweise abgewartet und den Inhalt zwar abgerundeter und geschlossener, aber eben deshalb unzugänglicher und unlebendiger zutage gefördert hätte. Etwas von den Erregungen der ersten Konzeption der nenen Anschauungsweise klingt an manchen Stellen des Textes durch; was er dadurch an Glätte verlor, hat er hoffentlich an Eindringlichkeit gewonnen.«

»Eine ausgedehnte Probe auf seine Ausgiebigkeit und Brauchbarkeit konnte das als überall anwendbares Hilfsmittel ausgesprochene Prinzip der virtuellen Energieänderungen, welches als wesentlichstes praktisches Ergebnis der Energetik zunächst zu bezeichnen ist, in der Elektrochemie finden. Ich habe hier insbesondere bei der Abfassung des Kapitels über die elektromotorischen Kräfte dank den von Helmholtz, van't Hoff,[166] Arrhenius und Nernst gegebenen Grundlagen aus dem Vollen schöpfen können, und das nunmehr hundertjährige Problem hat sich dadurch in seiner Einheitlichkeit darstellen lassen, auf welche ich, wie ich gestehen muß, selbst nicht gefaßt war, als ich an die Arbeit ging. Ich habe die lebhafte Empfindung, daß vieles an meiner Darstellung verbesserungsbedürftig ist, aber auch, daß die künftigen vollkommeneren Theorien der Voltaschen Kette die wesentlichen Bestandteile der vorliegenden in sich aufnehmen werden.«

Diese Voraussicht hat sich tatsächlich bewährt. Das Werk brachte die erste zusammenhängende und auf alle Einzelbeobachtungen, die sich in der Literatur fanden, ausgedehnte Theorie der Voltaschen Ketten aller Art, und in dem hernach vergangenen Menschenalter haben sich nur Vertiefungen und Erweiterungen ergeben; eine wesentliche Änderung einer der vielen Sondertheorien, die je nach dem experimentellen Fall entwickelt waren, hat sich nicht als notwendig erwiesen.

Eine besonders scharfe Erprobung entstand dadurch, daß viele neue Experimentaluntersuchungen in meinem Laboratorium durch die neuen Auffassungen alter Beobachtungen angeregt wurden. Denn da jene älteren Forscher nicht wußten, worauf es ankam, hatten sie oft über wesentliche Faktoren keine Auskunft gegeben, deren Bedeutung sie nicht kannten. Hier waren neue Anordnungen zu erdenken und zu erproben, durch welche für die maßgebenden Veränderlichen der neuen Gleichungen Zahlenwerte gewonnen werden konnten. Die Ergebnisse führten überall zu einer Betätigung und Erfüllung der Ansätze mit fruchtbringenden Zahlenwerten.

So darf ich wohl für mich in Anspruch nehmen, vermittels der Energetik auf Grund der oben erwähnten Arbeiten die Organisation und Kodifikation der Elektrochemie in der Gestalt durchgeführt zu haben, die sich seitdem bis heute als dauerhaft erwiesen hat.

[167] Wesen der Energetik. Fragt man mich, worin ich den Hauptgedanken der Energetik sehe, so muß ich als solchen die Erkenntnis bezeichnen, daß neben und über den allgemeinen Begriffen Ordnung, Zahl, Größe, Zeit und Raum der Begriff der Energie einzuführen ist als der nächstfolgende Allgemeinbegriff. Ob man der Energie Realität (Wirklichkeit) zuzuschreiben hat, ist eine Frage ohne bestimmten Inhalt, wie man alsbald erkennt, wenn man versucht, die weitere Frage zu beantworten, woran man ein reales Ding oder Wesen erkennen kann. Begnügt man sich mit dem Wortzusammenhang, indem man als wirklich das erklärt, was wirkt, so muß man jedenfalls die Energie und nur sie wirklich nennen. Denn sie ist tatsächlich das Einzige, was man ohne Ausnahme in jeder Wirkung nachweisen kann, sowohl als Empfänger, wie als Betätiger jeder Wirkung.

Als das Wirkliche sieht man gewöhnlich die Materie an, und wenn man dies Wort hört, glaubt man ganz genau zu wissen, wovon die Rede ist. Der Bleistift in meiner Hand, das Papier, auf dem ich schreibe, das Haus, in dem ich wohne, der Erdball, auf dem mein Haus ruht: alles das ist doch wäg- und tastbare Materie, Wirklichkeit von derbster Beschaffenheit. Aber eben ist es dunkel geworden und ich knipse das elektrische Licht an: der Wolframfaden erglüht und ich kann wieder lesen und schreiben. Dies Licht ist doch nicht minder wirklich! Ich muß es bezahlen und es würde nicht entstehen, wenn nicht im Elektrizitätswerk die Maschinen durch die Verbrennung von Kohlen getrieben würden. Und sind die Gedanken, welche eben in meinem Gehirn entstehen und durch die Tätigkeit meiner Hand auf das Papier übertragen werden, nicht auch wirklich? Sie würden nicht entstehen, wenn nicht ein bestimmter Mensch bestimmte Erfahrungen früher aufgenommen und innerlich verarbeitet hätte. Aber Materie, wäg- und tastbar[168] sind sie nicht, ebensowenig wie Licht und Elektrizität, wohl aber sind sie denkbar. Und das Denken ist doch auch eine Wirklichkeit, sogar eine der wichtigsten im Menschenleben.

Also: es gibt außer der Materie eine sehr große Zahl von Wirklichkeiten, und zwar sehr wichtige, die man durchaus nicht in jenem Begriff unterbringen kann. Wohl aber kann man es im Begriff Energie.

Unter dem irreführenden Namen des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft ist das 1842 durch I.R. Mayer entdeckte wichtige Naturgesetz von der Erhaltung der Energie bekannt. Es besagt, daß es bei allem Geschehen ohne jede Ausnahme ein Ding gibt, welches nur seiner Erscheinungsweise, nicht aber seiner Menge nach geändert werden kann. Ebenso, wie man ein Stück Ton in alle möglichen Formen bringen kann, ohne daß seine Menge sich ändert, so kann man es auch mit der Energie. Nun besteht ja auch für das Gewicht und die Masse der Materie ein Erhaltungsgesetz, das schon viel länger bekannt ist. Aber wir haben ja eben gesehen, daß dieser Begriff nur einen Teil der Wirklichkeit deckt. Der Begriff der Energie deckt dagegen die ganze Wirklichkeit, d.h. alles, was wir innerlich und äußerlich erleben. Natürlich mit Einschluß der Materie, denn auch diese kann man energetisch definieren.

Wenn also gefragt wird: welche Eigenschaften hat die Energie? so ist die Antwort: sie ist überall vorhanden, kann vielfältig umgeformt aber auf keine Weise erschaffen und vernichtet werden; im übrigen hat sie alle Eigenschaften, die es gibt. Denn alle Dinge lassen sich als Betätigungen, d.h. Umwandlungen von Energie definieren.

Was wissen wir von der Welt? Nur das, was wir durch unsere Sinne wahrgenommen und was wir daraus durch Denken erkannt haben. Nun wohl: damit eines unserer Sinnesorgane uns eine Nachricht gibt, ist es[169] notwendig und zureichend, daß es Energie aufnimmt oder abgibt, daß es in Energieverkehr mit der Welt steht. Der Schall, den wir hören, das Licht, das wir sehen, der Druck oder die Wärme, die wir empfinden: alle sind Energien, die den Zustand unserer Organe ändern und deshalb empfunden werden. Und um zu denken, muß unser Gehirn durch zufließendes Blut chemische Energie empfangen, die es beim Denken verbraucht, d.h. in andere Formen umwandelt; in dem Augenblicke, wo der Blutstrom gehemmt wird, hört auch das Denken auf. Der Gedanke, den wir denken, ist nicht Blut, ebensowenig wie der Ton, den wir empfinden, Schwingung der Luft ist. Diese liefern nur die Energie für die geistigen Vorgänge, das Denken und das Empfinden. Da diese aber niemals entstehen, ohne daß Energie betätigt und verbraucht wird, und da Energie weder erzeugt, noch vernichtet, sondern nur umgewandelt werden kann, so muß auch Denken und Empfinden in den Kreis der Energiewandlungen eingerechnet werden, aus denen alles Geschehen in der Welt besteht.

Eingewöhnungshindernisse. Heute sind die eben dargelegten Gedanken zwar noch nicht allgemein angenommen; sie erscheinen aber nicht mehr fremdartig und unsinnig. So erschienen sie aber vor dreißig Jahren, als ich sie zum ersten Male zu denken wagte, und dann das noch viel größere Wagnis unternahm, den anderen Menschen zuzumuten, sie gleichfalls zu denken. Denn die Naturforscher fühlten sich damals unendlich weit von den Philosophen entfernt, die sie in gutmütiger Nachsicht für ebenso unschädliche wie unnütze Wesen ansahen. Noch wirkte sehr deutlich die schwere Niederlage nach, welche die deutsche Wissenschaft am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts durch die Schuld der damaligen Naturphilosophie erlitten hatte und eine Sicherheit gegen eine Wiederholung solcher Schmach schien nur[170] durch die strenge Enthaltung von aller Philosophie gegeben zu sein. Ein so klarer und kühler Denker wie Ernst Mach wurde als Phantast angesehen, und man begriff nicht, wie ein Mann, der so gute Experimentalarbeiten zu machen verstand, derartige Allotria treiben mochte, die ihn der Philosophie verdächtig erscheinen ließen (wogegen er sich auch sein Lebtag gewehrt hat) und ihm in der Tat den Weg von Prag an andere Universitäten kurz vor seinem Tode verschlossen hatten. So wurden auch mir von allen Seiten, selbst wissenschaftlich sehr nahe stehenden, dringende Warnungen zuteil und man sah in meinen Bemühungen um die Bildung angemessener allgemeiner Begriffe eine Verirrung, die man um so bedauerlicher fand, je bereitwilliger man mir die Fähigkeit zubilligte, geschickte und interessante experimentelle Arbeiten zu liefern.

Allgemeine Energetik. Nachdem ich die Brauchbarkeit der Energetik in dem mir vertrauten Gebiete der allgemeinen Chemie, insbesondere der Elektrochemie erprobt hatte, ging ich naturgemäß daran, die in der Einleitung zu meinem Lehrbuch nur skizzierte allgemeine Energetik zu vertiefen und auszubauen, um dies weitreichende Denkmittel für den unbegrenzten Gebrauch herzurichten.

Hiermit begab ich mich auf einen gefährlichen Boden, der mit Sicherheit eigentlich nur von Forschern betreten werden kann, die frei über die Arbeitsmittel der höheren und höchsten Mathematik verfügen. Ich war mir dessen bewußt, daß dies bei mir keineswegs der Fall war und entschuldigte mich von vornherein bei den Fachgenossen wegen meines Betretens von Feldern, mit denen ich mich nicht vorher durch Einzelarbeiten hatte vertraut machen können. Aber da zurzeit niemand sonst diese Wege gehen wollte, deren Wichtigkeit für den Fortschritt der Wissenschaft ich so kräftig[171] am eigenen Leibe erfahren hatte, hielt ich es für meine Pflicht, mich soweit vorzutasten, als es gehen wollte, auf die Gefahr hin, von den Zünftigen als Bönhase verklagt und verjagt zu werden.

Ein erster Schritt von erheblicher begrifflicher Bedeutung gelang gut. Von Gauß und Weber war vor langer Zeit gezeigt worden, wie man die mechanischen Kräfte des Magnetismus auf ein von ihnen sogenanntes absolutes Maß zurückführen kann, das nur von den Einheiten für Raum, Zeit und Masse abhängig ist, die man gewählt, d.h. willkürlich festgesetzt hat. Maxwell war später weit über die von den deutschen Forschern sorgsam eingehaltene Beschränkung hinausgegangen und hatte den Satz aufgestellt, daß alle physischen Größen sich auf diese drei Grundeinheiten zurückführen lassen. So hatte er insbesondere eine solche Zurückführung bei den elektrischen und magnetischen Größen angegeben, wobei die Grundeinheiten in sehr wunderlichen »Dimensionen«, nämlich mit gebrochenen Potenzexponenten auftreten mußten, die keine verständliche Deutung zuließen. Trotzdem wurde die Berechtigung jener unbewiesenen Grundbehauptung von Maxwell nicht in Zweifel gezogen. Kurz vor der Zeit meiner energetischen Arbeiten hatte zwischen hervorragenden mathematischen Physikern, insbesondere Clausius und Hertz eine merkwürdige Erörterung stattgefunden, aus der sich ergeben hatte, daß man auf Grund von Maxwells Voraussetzungen nicht nur ein solches System von Dimensionen für die elektrischen und magnetischen Größen ableiten kann, sondern deren vier, die alle voneinander verschieden und alle gleich richtig oder berechtigt sind.

Man half und hilft sich damit, daß man je nach Bedarf und Bequemlichkeit das eine oder andere dieser Systeme benutzt und die Werte durch entsprechende Transformationsformeln ineinander überführt, wenn dies nötig[172] oder wünschenswert ist. Damit ist der größte Vorzug des absoluten Systems, seine Eindeutigkeit, verloren.

Für mich war diese Vieldeutigkeit ein Beweis, daß die Grundvoraussetzung des Maxwellschen Systems fehlerhaft ist, in solchem Sinne, daß Zeit, Raum und Masse zur Definition der anderen Größen nicht genügend sind. Denn wären sie es, so müßten die elektrischen Dimensionen eindeutig bestimmt werden können, und nicht vierdeutig, wie die Erfahrung lehrt.

Weiter ergibt sich, daß in jeder Gruppe physikalischer Größen solche Größen vorhanden sind, die nur dieser Gruppe angehören, in den anderen aber nie vorkommen. Temperatur gibt es nur in der Wärmelehre, Elektrizitätsmenge, nur in der Elektrik usw. Sie können also unabhängige Einheiten bekommen, ohne daß die eine Feststellung die anderen stört. Auch dies widerspricht der Maxwellschen Voraussetzung.

Das Schlußergebnis war folgendes. Es gibt nur eine Größe, welche allen Gebieten voll gemeinsam ist, und dies ist weder Raum, noch Zeit, noch Masse, sondern die Energie. Wenn die Maßeinheiten so bestimmt sind, daß dem Gesetz von der Erhaltung der Energie genügt ist – was Maxwell stillschweigend getan hatte – so kann und muß man in jeder Gruppe eine spezifische Größe frei bestimmen, wodurch mit Hilfe der Einheiten von Zeit und Raum, soweit sie etwa für die Definition abgeleiteter Größen in Frage kommen, alle anderen Größen des Gebietes eindeutig definiert sind.

Gegen diese Regelung der grundlegenden Frage der absoluten Maße ist kein Einwand erhoben worden, der mir bekannt geworden wäre. Aber auch eine offene Anerkennung wurde vermieden. Die internationalen Feststellungen, die noch unter dem Einfluß der fehlerhaften Lehre Maxwells getroffen wurden, sind inzwischen nicht wieder grundsätzlich erörtert worden, während man[173] in den praktischen Anwendungen die Forderungen der Energetik stillschweigend erfüllt hat. So ist sachlich keine Ursache vorhanden, öffentlich den begangenen Fehler zuzugestehen. Nach meinem Tode wird man einmal die Angelegenheit grundsätzlich in Ordnung bringen, wenn sich ein passender Anlaß dazu findet.

Das Gesetz des Geschehens. In einer zweiten Abhandlung bildete die Erweiterung des bisher nur für Vorgänge, an denen die Wärme beteiligt ist, ausgesprochenen zweiten Hauptsatzes den Mittelpunkt. Dieser Satz besagt, daß die Wärme nie von selbst von niederer Temperatur zu höherer ansteigt, und die Erweiterung besagt folgendes: Für jede Art der Energie gibt es eine Größe, die der Temperatur bei der Wärme vergleichbar ist, und die nie von selbst von niederen Werten zu höheren ansteigt. Sie kann die »Intensität« der betreffenden Energie genannt werden. Für die elektrische Energie ist es die Spannung für die Bewegungsenergie die Geschwindigkeit usw. Von besonderem Interesse war für mich die Frage nach der chemischen Intensitätsgröße. Es ergab sich, daß dieser hochwichtige Begriff von W. Gibbs unter dem Namen des chemischen Potentials in seinen grundlegenden Arbeiten entwickelt und fortlaufend benutzt worden war. Die Wahl des Namens, der bis dahin nur für entsprechende Größen der elektrischen und der Schwereenergie gedient hatte, läßt erkennen, daß Gibbs die Gleichartigkeit dieser Begriffe geläufig war, doch scheint er sich darüber nicht besonders ausgesprochen zu haben.

Hierdurch war die Möglichkeit gegeben, die mancherlei Seiten, welche die thermodynamische Forschung am zweiten Hauptsatz, soweit Wärme in Frage kam, aufgedeckt hatte, auf die gesamte Physik, d.h. auf das gesamte Geschehen auszudehnen und die allgemeine Bedingung auszusprechen, die erfüllt sein muß, damit überhaupt etwas geschieht. Es müssen dazu[174] Intensitätsunterschiede irgendwelcher Energien vorhanden sein.

Die genauere Untersuchung lehrt, daß diese Bedingung zwar notwendig, aber nicht zureichend erscheint. Es gibt (mindestens scheinbare) Ruhezustände, in denen nichts geschieht, obwohl Intensitätsunterschiede vorhanden sind. Beispielsweise ist das chemische Potential des Kohlenstoffs in einem Diamanten, der bekanntlich aus Kohlenstoff besteht, viel höher, als in der ihn umgebenden Luft, mit deren Sauerstoff er sich chemisch verbinden könnte, soweit chemische Voraussetzungen in Frage kommen. Es geschieht nicht bei gewöhnlicher Temperatur wohl aber bei Rotglut, und zwar um so schneller, je höher die Temperatur ist. Hier kommen also Fragen der Zeit zur Geltung und es steht dem nichts entgegen, zu sagen: der Diamant verbrennt tatsächlich auch bei gewöhnlicher Temperatur, nur so überaus langsam, daß ein menschliches Leben bei weitem nicht ausreicht, um meßbare Beträge davon zu beobachten. Nicht einmal geschichtliche Zeiträume von Jahrhunderten und Jahrtausenden würden genügen, abgesehen davon, daß Wagen, um sehr kleine Gewichtsänderungen festzustellen, überhaupt kaum länger als ein Jahrhundert der Menschheit zugänglich geworden sind.

Die beiden Arten des Perpetuum mobile. Als anschaulichste Fassung dieser Gedankenarbeit kann folgende Betrachtung gelten. Den »ersten Hauptsatz« oder das Gesetz von der Erhaltung der Energie kann man in der Form aussprechen: ein Perpetuum mobile ist unmöglich, wenn man darunter eine Maschine versteht, welche Arbeit, oder allgemein Energie aus nichts schaffen soll.

Nun kann man sich aber auch ein Perpetuum mobile, d.h. eine gratis arbeitende Maschine denken, ohne daß die von ihr ausgegebene Energie aus nichts erschaffen wird. Sie könnte z.B. aus der Wärme des Weltmeers[175] genommen werden, deren Betrag alle Maschinen der Welt betreiben könnte, ohne viel abzunehmen. Warum geht auch das nicht? Weil dabei die Temperatur des Weltmeeres »von selbst« sinken oder Wärme von selbst auf höhere Temperatur steigen müßte, was nach dem zweiten Hauptsatz ausgeschlossen ist. Also gibt es begrifflich außer dem Perpetuum mobile erster Art, das dem ersten Hauptsatz widerspricht, noch ein solches zweiter Art, das dem zweiten Hauptsatz widerspricht, und dieser kann auch in der Form ausgesprochen werden: ein Perpetuum mobile zweiter Art ist unmöglich. Dabei erstreckt sich die Unmöglichkeit nicht auf Wärmemaschinen allein, sondern auf alle überhaupt denkbaren Maschinen.

In der Abhandlung von 1892 sind diese und andere Beziehungen grundsätzlich entwickelt, und gegenwärtig, nach einem Menschenalter, wüßte ich daran nichts wesentliches zu ändern, wenn ich auch manches kürzer und übersichtlicher fassen könnte. Nur ein Abschnitt muß gestrichen werden, nämlich der neunte, der die Ableitung der Intensitätsgröße der Wärme enthält und dessen Rechnungsführung fehlerhaft ist. Ich hebe dies besonders hervor, da sich daran nicht unerhebliche Folgen geknüpft haben.

Erschöpfung. Die Ausgestaltung der energetischen Weltauffassung hatte an mein Gehirn ganz besonders große Anforderungen gestellt. Denn es war zum größten Teil reine Kopfarbeit und die wohltätige Verdünnung durch Handarbeit, wie sie bei meinen früheren vorwiegend experimentellen Untersuchungen stattgefunden hatte, fehlte hier ganz. So machten sich deutliche Erschöpfungserscheinungen während des Semesters geltend. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich »Watte im Kopf«, d.h. das gewohnte selbsttätige Angehen meiner Denkmaschine beim Auftreten einer neuen Aufgabe, die dann fast ohne mein Zutun das Ergebnis herausbrachte, wie ein Automat,[176] trat nicht mehr so glatt ein, wie ich es gewohnt war. Sondern die Maschine versagte zu Zeiten oder lief leer, ohne etwas herauszubringen und ich mußte warten, bis wieder einmal eine produktive Stunde kommen wollte.

Da ich damals trotz meiner Erfüllung mit energetischem Denken über die energetischen Bedingungen der geistigen Arbeit noch gar nicht im klaren war, nahm ich diese Erscheinungen nicht physiologisch, wie es richtig gewesen wäre, sondern moralisch, indem ich mir selbst Vorwürfe über mangelnde Leistungsfähigkeit machte, was ein schwerer Fehler war. Mein Vater pflegte uns einzuprägen: der Wille macht alles möglich, und mangelnder Wille wurde »selbstverständlich«, d.h. ohne Prüfung als ethischer Mangel angesehen. So hielt ich es für meine Pflicht, mit dem Willen nachzuhelfen, wo das Gehirn physiologisch versagte und das deutliche Erschöpfungsgefühl mich hätte warnen sollen, daß das Organ bis zur Grenze seiner regelmäßigen Leistungsfähigkeit beansprucht war. Auf diese erzwungene Arbeit muß ich es auch zurückführen, daß die sonst genügend wirksame Selbstkritik versagte und jenen §. 9 (S. 176) durchgehen ließ, den ich bei ganz gesundem Denkorgan sicher zum Zweck der Besserung zurückgehalten hätte. Denn es bildet sich bei der wissenschaftlichen Arbeit ein Instinkt aus, welcher mit ziemlich großer Zuverlässigkeit lebensfähige Erzeugnisse des Denkens von solchen unterscheidet, welche noch nicht reif sind.

Wider die Atomistik. Die nun folgende Zeit war mit vielfältiger Tätigkeit ausgefüllt, die mich zeitweilig von der reinen Gedankenarbeit abzog, aber an meine Energien anderweitige Ansprüche stellte. Das Hand- und Hilfsbuch, die analytische Chemie und die Elektrochemie, deren Inhalt und Zweck früher (S. 64 und ff.) beschrieben worden sind, wurden in den Jahren 1892 bis 1895 geschrieben und veröffentlicht; dazu kam die laufende[177] Arbeit an der Zeitschrift und an der neuen Auflage des Lehrbuches. Eine neue Aufgabe erstand mir in der Gründung und Leitung der Elektrochemischen Gesellschaft, über die alsbald berichtet werden soll.

Alle diese Arbeiten verhinderten mich zwar daran, weitere Abhandlungen zur Energetik zu schreiben, nicht aber, meine nach dieser Seite gerichteten Bestrebungen fortzuführen und zu erweitern. Insbesondere wurde mir klar, wie unverhältnismäßig viel fruchtbarer die Energetik war als die damals fast vollkommen steril gewordene kinetisch-atomistische Lehre, die nach einem kurzen, glänzenden Aufstieg in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhundert in das Dickicht mathematischer Schwierigkeiten geraten war, das ihr die Bewegungsfreiheit genommen und ihre Anhänger von der Verfolgung neuer experimenteller Wege fast ganz zurückgehalten hatte. Die vielfachen neuen Tatsachen, welche in unserer Zeit die Atomistik über das Gebiet der Hypothesen erfolgreich hinausgehoben haben, lagen damals noch ganz unterhalb der wissenschaftlichen Horizonte. Und obwohl sowohl die Lehre vom osmotischen Druck wie die von der elektrolytischen Dissoziation von ihren Urhebern durchaus atomistisch erdacht und dargestellt waren, fand sich in dem ganzen unabsehbaren Felde ihrer Anwendungen zunächst kein Fall ein, wo das einzelne Atom in Frage kam, sondern nur solche, in denen die Atome als ununterschiedene Maße wirkten. Es traten mit anderen Worten noch nirgend die Probleme der Unstetigkeiten im Gebiet der molekularen Abmessungen 10-10 cm, das theoretisch bekannt war, experimentell in die Erscheinung so, daß ein Eingehen darauf wissenschaftlich nicht erfordert, ja kaum berechtigt war. Es sei erinnert, daß die Entdeckung der Röntgenstrahlen, welche die neue Atomistik einleitet, erst 1896 erfolgt ist.[178]

Dagegen war eine oberflächliche Art, tatsächliche wissenschaftliche Aufgaben durch willkürliche Annahmen über Atomstellungen und -schwingungen mehr zuzudecken als zu fördern, sehr verbreitet und gereichte meines Erachtens der Wissenschaft zu großem Schaden. Daraus erwuchs mir alsbald die Pflicht, das meine zur Abstellung dieses Schadens zu tun und ich versäumte keine Gelegenheit, auf die Unersprießlichkeit jener Scheinerklärungen hinzuweisen.

Denn da ich selbst früher überzeugter Angehöriger der kinetischen Atomlehre gewesen war, so lag mir nach Art der Bekehrten sehr viel daran, für meine neue Einsicht Anhänger zu gewinnen. Dies gelang mir aber nur in sehr geringem Maße. Selbst nahestehende wissenschaftliche Freunde, wie W. Ramsay versagten mir ihre Gefolgschaft. Sie gaben zu, daß ich Recht haben könnte, erklärten aber, ihre Probleme ohne die Mitwirkung der anschaulichen Atombilder nicht erfolgreich bearbeiten zu können und fanden meine Auffassung zu abstrakt, wenn sie auch bereit waren, ihre Berechtigung zuzugeben.

Die Lübecker Naturforscherversammlung. Dieses immer stärkere Hin und Wieder drängte zu einer Auseinandersetzung, welche im Herbst 1895 auf der Naturforscherversammlung in Lübeck stattfand. Ich hatte einen allgemeinen Vortrag unter dem Titel: Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus angekündigt. Als Wislicenus, welcher die Versammlung als erster Vorsitzender zu leiten und in solcher Eigenschaft den Vortrag auf die Tagesordnung gesetzt hatte, von mir einiges über den Inhalt erfuhr, fand er sich in seinen wissenschaftlichen Überzeugungen so bedroht, daß er sich alsbald nach ausgiebiger Gegenwirkung umsah. Er versicherte sich nicht ohne Mühe des glänzendsten Gegenredners, der erreichbar war und veranlaßte Victor Meyer zu einem Vortrag, den dieser unter dem Titel: [179] Probleme der Atomistik mit großem Erfolg hielt, obwohl er schon damals schwer mit Erschöpfungserscheinungen infolge übermäßiger Arbeit zu kämpfen hatte.

Um die Angelegenheit der Energetik ausgiebig zu behandeln, war außer meinem Vortrag noch eine Aussprache in den vereinigten Abteilungen Physik und Chemie mit reichlicher Zeit vorgesehen. Es wäre sachgemäß gewesen, den Vortrag vorangehen zu lassen, da er die Grundlage der Erörterungen bilden sollte. Wislicenus aber hatte entgegen dem Gebrauch, solche Vorträge tunlichst an den Anfang der Zusammenkunft zu verlegen, für ihn einen der letzten Tage bestimmt, zweifellos damit er so wenig Schaden wie möglich anrichten sollte und dadurch eine geordnete Aussprache unmöglich gemacht. Ich zweifle nicht, daß er damit einer wissenschaftlichen Gewissenspflicht zu genügen geglaubt hat.

Bei der Aussprache fand ich mich vor einer geschlossenen Gegnerschaft. Mein einziger Gesinnungs -und Kampfgenosse war G. Helm, Professor an der technischen Hochschule in Dresden, der vor mir eine energetische Auffassung der Wissenschaft angestrebt und in einer Schrift von großer Selbständigkeit des Denkens dargelegt hatte. Von mir trennte ihn aber sein Abscheu vor einer realistischen Auffassung der Energie. So empfand jeder von uns den anderen nur als halben Kampfgenossen, dem gegenüber man Vorsicht walten lassen muß.

Es war das erstemal, daß ich mich persönlich vor einer solchen einmütigen Schar ausgesprochener Gegner befand; später habe ich es noch einige Male erlebt. Gefühle von Bedrückung, Sorge, Angst habe ich bei diesen Besprechungen, die mehrere Zusammenkünfte ausfüllten, niemals gehabt; auch bin ich, soweit meine Erinnerungen reichen, keinem die Antwort schuldig geblieben. Aber[180] zufolge der verkehrten Anordnung des Hauptvortrages konnte die Aussprache keine eigentliche Förderung der Sache selbst bringen, und wie das meist zu sein pflegt, gingen wir auseinander ohne daß einer den anderen überzeugt hätte. Doch glaube ich, daß bei manchem unter den Teilnehmern einzelne Ideen hängen geblieben sein mögen aus denen später selbständige Gedankenreihen erwachsen sind.

Aus dem Vortrage. Der Grundgedanke jenes Vortrages ist der Nachweis, daß die mechanistische Auffassung der Naturerscheinungen unzulänglich ist und daß sie mit dem Erfolg der Beseitigung der Unzulänglichkeiten durch die energetische ersetzt werden kann.

Den ersten Satz begründete ich auf die Tatsache, daß in allen Gleichungen der Mechanik die Zeit t nur im Quadrat t2 vorkommt, daß sie also richtig bleiben, ob man die Zeit positiv oder negativ einführt, denn (+ t)2 = (– t)2. Das heißt, jeder durch jene Gleichungen beschriebene Vorgang kann ebensogut vorwärts wie rückwärts verlaufen. Da aber die wirklichen Vorgänge zweifellos nicht umkehrbar sind, da nie ein Mann sich in ein Kind oder eine Eiche in eine Eichel verwandelt hat, so genügen sie nicht, um das allgemeinste aller Verhältnisse der wirklichen Welt darzustellen.

Den zweiten Satz begründete ich damit, daß alles, was wir von der Welt wissen, uns durch die Sinnesorgane vermittelt wird. Damit sich ein solches betätigt, ist ein Energieverkehr zwischen ihm und der Außenwelt notwendig und hinreichend. Somit erfahren wir von der Außenwelt unmittelbar nur ihre Energieverhältnisse und alles, was darüber hinausgeht, ist subjektive Zutat. Und diese Zutat, der innere oder geistige Vorgang ist gleichfalls in letztem Gliede nichts als eine Betätigung der im Gehirn umgesetzten Energie, die keineswegs wie die[181] Mechanistik behauptet, in Bewegungen der Gehirnmolekeln zu bestehen braucht.

Keiner der früheren Begriffe wie Materie, Bewegung, Kraft hat diese ganz allgemeine und gleichzeitig exakte Beschaffenheit, wie die Energie, die dazu den unvergleichlichen Vorzug hat, hypothesenfrei zu sein und damit ein letztes wissenschaftliches Ideal zu verwirklichen.

Am lebendigsten wird vielleicht mein Standpunkt durch folgende Stelle aus dem Vortrag gekennzeichnet:

»Aber, höre ich hier sagen, wenn uns die Anschauung der bewegten Atome genommen wird, welches Mittel bleibt uns übrig, uns ein Bild von der Wirklichkeit zu machen? Auf solche Frage möchte ich rufen: Du sollst Dir kein Bildnis oder Gleichnis machen! Unsere Aufgabe ist nicht, die Welt in einem mehr oder weniger verkrümmten oder getrübten Spiegel zu sehen, sondern so unmittelbar, als es die Beschaffenheit unseres Geistes nur irgend erlauben will. Realitäten, aufweisbare und meßbare Größen miteinander in Beziehung zu setzen, so daß, wenn die einen gegeben sind, die anderen gefolgert werden können, das ist die Aufgabe der Wissenschaft und sie kann nicht durch die Unterlegung irgendeines hypothetischen Bildes gelöst werden, sondern nur durch den Nachweis gegenseitiger Abhängigkeitsbeziehungen meßbarer Größen.«

Das Innere der Natur. Die beiderseitigen Gesichts, punkte werden am besten durch folgendes klar gemacht. Ich sagte in der Aussprache: Denken Sie sich einen geschlossenen Kasten, aus dem zwei Hebel an verschiedenen Stellen herausragen; wenn man den einen bewegt, so bewegt sich auch der andere mit einer anderen Geschwindigkeit, z.B. dreimal schneller. Dann sagt die Energetik, daß die Kraft, mit der sich der zweite Hebel bewegt, dreimal kleiner sein muß, als die auf den ersten Hebel einwirkt. Als inneren Mechanismus, welcher die[182] Hebel verbindet, kann man sich unendlich viele verschiedene Einrichtungen denken; das Ergebnis muß wegen des ersten Hauptsatzes der Energetik immer dasselbe sein, falls, wie vorausgesetzt werden soll, keine Energie im Innern des Kastens bleibt. Solange uns aber nur die beiden Hebel zugänglich sind, können wir nichts darüber aussagen, welcher von den tausend möglichen Mechanismen tatsächlich vorhanden ist, und alles Spekulieren darüber ist zwecklos, da wir daraus bezüglich der Hebel nicht mehr erfahren können, als wir schon wissen.

Die Gegner meinten dagegen, es sei auch eine wichtige wissenschaftliche Aufgabe, die verschiedenen Möglichkeiten des inneren Mechanismus sich klar zu machen, denn man könnte doch einmal mehr darüber erfahren.

Ich sagte darauf, daß dies gleichbedeutend mit der Entdeckung anderer Hebel sei, die aus dem »Inneren der Natur« oder des Kastens nach außen reichen und an denen man alsdann experimentieren könne und müsse.

So kam die Sache auf einen Gegensatz dessen heraus, was man die wissenschaftliche Politik nennen kann. Und da die Politik bekanntlich ein Feld ist, auf dem sich die Gefühle des Gegensatzes um so leidenschaftlicher geltend machen, je schwächer ihre rationelle Begründung ist, so ist es kein Wunder, daß auch die Lübecker Verhandlungen von solchen Gefühlen nicht frei waren.

Mein Mitstreiter G. Helm litt so stark unter deren Ausdruck auf der Gegenseite, daß er zum Schluß in großer Erregung einen Protest gegen die Behandlung aussprach, die er erfahren hatte. Er sei zu einer wissenschaftlichen Aussprache erschienen, nicht aber zu einer Abschlachtung, wie sie an ihm vorgenommen sei.

Ich meinerseits empfand kein Bedürfnis nach einem Protest. Es war mir eine so geläufige persönliche Erfahrung, daß ein Gegner sich ganz außer Stande sah, meine Auffassung überhaupt in den Rahmen seines[183] Denkens einzuschließen, daß mir nun die gleichzeitige Vervielfachung dieser häufigen Einzelerfahrung nicht besonders imponieren konnte. Zudem betrafen die Einwendungen vielfach Fragen, die ich in meinem Hauptvortrage erledigt hatte (oder doch zu haben glaubte), daß ich immer wieder auf diesen zu verweisen hatte. Die ganze Verhandlung wäre viel fruchtbarer ausgefallen, wenn ihre natürliche Folge nicht durch die »taktische« Maßregel des Vorsitzenden auf den Kopf gestellt worden wäre.

Bei mir bewirkten diese Erlebnisse zwar die Erkenntnis einzelner Fehler, die ich bei der Vertretung meiner allgemeinen Auffassung des Geschehens gemacht hatte, sie befestigten aber nur meine Überzeugung (die sich bis heute bei mir erhalten hat), daß ich in der Hauptsache mich auf dem rechten Wege befand und befinde. Und wenn ich die inzwischen erfolgte Entwicklung der Wissenschaft ins Auge fasse, so sehe ich, daß diese in den gleichen Weg eingelenkt ist, wenn auch in einer Weise, die ich nicht vorausgesehen hatte.

Spätere Entwicklungen. Wenige Monate hernach entdeckte nämlich K. W. Röntgen die nach ihm benannten Strahlen, und im Anschluß hieran entwickelte sich ein neues Gebiet der Physik, durch welches später die körnige Struktur der Stoffe, der Grundgedanke der Atomistik, experimentell erwiesen wurde. Dadurch wurde der bisherigen Unfruchtbarkeit dieser Lehre gründlich abgeholfen und eine Fülle neuer Tatsachen ist im Laufe der Jahre an das Licht gekommen. Hierbei wurde die bis dahin hypothetische Beschaffenheit der Atomlehre beseitigt und diese zu einem Zweig der experimentellen Physik und Chemie gemacht. Ich habe, nachdem die Entwicklung eingetreten war, nicht unterlassen, öffentlich zu erklären, daß damit meine früheren Bedenken gegen die Zweckmäßigkeit der Atomlehre beseitigt waren und[184] ihre wissenschaftliche Berechtigung vermöge ihrer sachlichen Erfolge keinem Zweifel mehr unterliegt.

Die Energetik wird durch diese Vorgänge nicht berührt, denn da sie die allgemeinere Begriffsbildung ist, besteht sie ganz unabhängig davon, ob es Atome gibt oder nicht. Fragt man, ob und wie sie den Kampf ums Dasein, den es auch innerhalb der Wissenschaft für die dort betätigten Begriffe gibt, überstanden hat, so darf man sagen: sehr gut. Während infolge der neuen Physik die anderen Größen, die man bisher als unveränderlich ansah, insbesondere die Masse, diese Beschaffenheit haben aufgeben müssen, ist das unbedingte Erhaltungsgesetz nur für die Energie in Geltung geblieben, d.h. sie hat sich als die letzte Realität erwiesen, auf welche die Entwicklung der Wissenschaft hingeführt hat. Und die neuen Theorien haben ihr auch Masse zuschreiben müssen, jene Eigenschaft, die man von jeher als unbedingtes Kennzeichen der »Materie« angesehen hat. Die Energie hat also die »Materie« begrifflich verdrängt.

Unmittelbare Folgen. Der Lübecker Vortrag erregte ein erhebliches Aufsehen, das weit über die wissenschaftlichen Kreise hinausging, für die er bestimmt war. Wie er auf diese gewirkt hat, bezeugt eine inzwischen veröffentlichte Stelle aus einem Briefe Victor Meyers: »Die Sache war ungemein interessant und ich habe nicht leicht Merkwürdigeres erlebt«. Die Tagespresse war durch den Titel: Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus aufmerksam geworden. Man vermutete eine spiritualistische Wendung und da in weiten Kreisen, von der Orthodoxie durch die Philologie bis weit in die sonst mehr links gerichteten Vertreter der »Geisteswissenschaft« eine große Angst vor der wissenschaftlichen Weltanschauung besteht, hoffte man in mir einen höchst willkommenen Kampfgenossen aus dem feindlichen Lager begrüßen zu können. Aus einzelnen[185] Andeutungen glaubte ich sogar entnehmen zu können, daß ich Gefahr lief, für diese »Tat« zum Ehrendoktor der Theologie ernannt zu werden. Doch machten rechtzeitig einige gescheutere Angehörige dieser Kreise die Entdeckung, daß ihre Sache durch mein Eingreifen nicht besser gestellt wurde, sondern um ein gutes Stück schlechter. Denn das vom wissenschaftlichen Materialismus ungelöst gelassene Problem des Zusammenhanges von Geist und Körper, das von dem überzeugten Materialisten Du Bois Reymond feierlichst für grundsätzlich unlösbar erklärt und deshalb unter die ewigen Welträtsel versetzt worden war, verlor im Lichte der Energetik diese unzugängliche Beschaffenheit, da Geist und Körper sich beide dem Oberbegriff Energie einordnen lassen und daher natürlich und grundsätzlich miteinander eng verbunden sein müssen.

Schluß. Die Lübecker Naturforscherversammlung kann in mehrfachem Sinne als ein kritischer Tag für mich und die von mir vertretenen Ansichten bezeichnet werden. Zunächst erweckte sie, wie erwähnt, in weiten Kreisen eine lebhafte Teilnahme an den neuen Gedanken, die sich in das tätige Dasein zu gelangen bemühten und kennzeichnet so in gewissem Sinne den Beginn meiner öffentlichen Anerkennung als Philosoph, der Eigenes zu sagen hatte. Hiermit stand in naher Verbindung eine öffentliche Absage an die Energetik, zu der sich die Physiker Boltzmann und Planck gedrungen fühlten, und die sie in den »Annalen der Physik« veröffentlichten, beide allerdings aus verschiedenen Gründen.

Boltzmann war überzeugter Anhänger der kinetischen Wärmelehre, die sich inzwischen wissenschaftlich durchgesetzt und ihre frühere Unfruchtbarkeit gegen die gegenteilige Eigenschaft vertauscht hat. Für ihn galt es also, zu beweisen, daß man mit der Kinetik wissenschaftlich weiter kommt, als mit der Energetik, und der kürzeste Weg hierfür war, der Energetik die Existenzberechtigung[186] abzusprechen. Er begründete dies auf den Nachweis, daß eine von mir mitgeteilte Rechnung mathematisch fehlerhaft sei, womit der stillschweigende Schluß verbunden war, daß es auch mit den allgemeinen, nicht in ein mathematisches Gewand gekleideten Gedanken ähnlich beschaffen sein möchte.

Einen wesentlich anderen Ausgangspunkt hatte Max Planck. Er war in einer hervorragenden Jugendarbeit der Energetik selbst sehr nahe gekommen, hatte aber den Standpunkt nicht verlassen wollen, von dem aus sie nur als eine mathematische Funktion mit sehr interessanten Eigenschaften betrachtet wurde, durch deren Benutzung man schnell und wirksam zur Beherrschung naturgesetzlicher Beziehungen gelangen kann. Einige Jahre früher hatten wir, nämlich Planck, Boltzmann, Hertz und ich auf der Naturforscherversammlung in Halle eine lebhafte Aussprache gehabt, wo Planck und ich gegen Boltzmann die Ansicht vertraten, daß in der Anwendung auf Sonderfälle – wir hatten die Gesetze des chemischen Gleichgewichts im Auge, an denen wir damals beide arbeiteten – die thermodynamischen Ansätze viel schneller und sicherer zu experimentell prüfbaren Ergebnissen führen, als kinetische Betrachtungen. Wir machten der Kinetik den Vorwurf, daß sie auf diesem Gebiete trotz mehrfacher Bemühungen, auch von seiten Boltzmanns, kein neues Einzelgesetz zutage gefördert habe, während die reine Thermodynamik deren eine ganze Anzahl geliefert hatte. Selbst für die Ableitung bekannter Beziehungen bedürfe die Kinetik eines unverhältnismäßigen mathematischen Aufwandes, wo die Thermodynamik die Sache in einigen Zeilen abtut. Hierfür ließen sich Beispiele aus Boltzmanns eigenen Arbeiten anführen.

Boltzmann erwiderte damals nichts Entscheidendes dagegen, gab sich aber keineswegs geschlagen. Vielmehr unterstrich er seine Überzeugung von der Wahrheit der[187] Atomistik mit doppeltem Nachdruck und sagte schließlich: »Ich sehe keinen Grund, nicht auch die Energie als atomistisch eingeteilt anzusehen!«

Mir kam diese Bemerkung im ersten Augenblick wie eine bewußt scherzhafte Übertreibung seines Standpunktes vor und ich lachte demgemäß. Aber im Herzen fühlte ich mich getroffen durch die Kühnheit des Gedankens, und dieser Eindruck war so stark, daß ich das Gespräch bis heute nicht vergessen habe.

Wenn ich nämlich sorgfältiger über diesen Einfall Boltzmanns nachgedacht hätte, so hätte ich ihn als eine Vereinigung der Atomistik mit der Energetik warm begrüßen müssen. Mir aber standen damals die Einwände gegen jene so im Vordergrunde des Bewußtseins, daß ich die Möglichkeit der Vereinigung nicht einmal als Wunsch ins Auge fassen wollte. Daß trotzdem der Gedanke bei mir haften blieb, ist ein Zeugnis für das eigene Leben wissenschaftlicher Gedanken, die sich des Geistes des Forschers bemächtigen, um ihre logischen Forderungen dort geltend zu machen, selbst wenn zurzeit der Wille das Gegenteil anstrebt.

Ob und wie M. Planck sich zu dem Gedanken äußerte, ist mir nicht im Gedächtnis geblieben. Aber seine mutige und eigenartige Begriffsbildung der »Quanten«, die er später zur Deutung der Strahlungserscheinungen, also auf einem ganz anderen Boden entwickelt hat, stellt in ihrer Weise gleichfalls eine Verbindung zwischen Energetik und Atomistik her.

So erweist sich die Wissenschaft zuletzt immer und überall als der wahre Friedensbringer. Und die Kämpfe, von denen auch sie durchaus nicht frei ist, lassen sich als die notwendigen Reibungen auffassen, durch welche die unbeständigen Bestandteile der jeweiligen Gedankenbildungen abgestreift werden, um den blanken Kern wahrer, d.h. fruchtbringender Ideen frei zu machen.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 148-188.
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