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[232] Vorgeschichte. Die Arbeiten an der von A. Wilke und mir gegründeten Elektrochemischen Gesellschaft, heute Bunsengesellschaft, geschahen teils vor, teils nach dem Jahre 1895, welches mit den Lübecker Verhandlungen über die Energetik und meiner nachfolgenden ernsten Erkrankung einen wesentlichen Knick in meiner Lebenslinie bezeichnet. Da aber die wichtigsten Anteile dieser Angelegenheit vor 1895 liegen, so erscheint es zweckmäßig, sie hier zu erzählen, bevor auf die neue Periode eingegangen wird, welche durch die Übersiedlung in das neue Institut und die Eroberung eines neuen Forschungsgebietes, der Katalyse, gekennzeichnet ist.
Die Ende 1892 erfolgte Veröffentlichung der neugeschaffenen wissenschaftlichen Elektrochemie im dritten Teil der zweiten Auflage meines Lehrbuches darf als der Beginn und die Grundlage für die mit Amerikanischer Plötzlichkeit eintretende praktische Entwicklung dieses Gebietes angesehen werden. Der Boden war von technischer Seite gut vorbereitet durch den Aufstieg der Elektrotechnik. Siemens' Erfindung der Dynamomaschine hatte die Möglichkeit auf getan, elektrische Energie in beliebigen Mengen billig herzustellen. Von ihren vielen möglichen Umwandlungen war zunächst die in Licht durch den leuchtenden Kohlefaden der elektrischen[233] Glühlampe von Swan und Edison technisch entwickelt worden. Siemens selbst verfolgte die Umwandlung in mechanische Energie und baute die erste elektrische Eisenbahn. Der Bleiakkumulator machte es möglich, elektrische Energie auf chemischem Wege zu speichern und die Anwendung der Dynamomaschine auf Galvanoplastik und Elektroplattierung zeigten einen Weg, mit den neuen Mitteln in das riesige Gebiet der Chemie einzudringen.
Da die ganze Entwicklung der Elektrotechnik selbst auf wissenschaftlicher Grundlage stattgefunden hatte, ohne welche sie unmöglich gewesen wäre, so erwies sich auch die Beschaffung sicherer wissenschaftlicher Grundlagen der Elektrochemie als unbedingte Notwendigkeit für ihre technische Entwicklung. In diese Zeit, die günstiger gar nicht sein konnte, fiel nun die neue wissenschaftliche Elektrochemie, die auf einmal in das verworrene Durcheinander, das bisher hier herrschte, Licht brachte und jede einzelne Tatsache an ihren Ort zu stellen ermöglichte. Man konnte nun zur Lösung der technischen Aufgaben hier ebenso sicher und bewußt vorgehen, wie man die technischen Aufgaben der Stromerzeugung und -verteilung gelöst hatte und immer vollkommener zu lösen lernte. So entstand auf der technischen Seite ein lebhaftes Interesse für die junge Elektrochemie.
Die Gründung. Noch bevor dieses Interesse erkennbar war, hatte ich Anfang 1894 begonnen, meine Geschichte der Elektrochemie zu veröffentlichen. Kurz hernach, im Frühling des gleichen Jahres suchte mich der Elektrotechniker Arthur Wilke aus Berlin auf, um mit mir über die Gründung einer elektrochemischen Gesellschaft zu verhandeln. Er hatte einige Jahre vorher führenden Anteil an der Gründung einer elektrotechnischen Gesellschaft genommen und sich von der starken Wirkung überzeugen können, welche eine derartige Zusammenfassung[234] der lebendigen Kräfte auf das Gedeihen der Sache ausübt. Zwar verstand er von der Elektrochemie im einzelnen nur wenig, aber doch genug im allgemeinen, um die Bedeutung mit Sicherheit vorauszusehen, welche ihr nach der technischen Seite bevorstand.
Ich war zunächst überrascht, als er mir den Vorschlag machte, der ein neues Arbeitsfeld für mich auftat. Doch eine eingehende Besprechung überzeugte mich von dessen Fruchtbarkeit und da er bereitwillig die technischen Vorbereitungen der Gründung übernahm, so wurde alsbald zu dieser geschritten. Da ich hierbei durch ihn von allen Einzelheiten eines solchen Vorganges unterrichtet wurde, habe ich bei dieser Gelegenheit die ersten Grundlagen derartiger organisatorischer Arbeit kennen und anwenden gelernt, was mir später von größtem Nutzen geworden ist.
Es wurde zunächst ein Verzeichnis aller möglicherweise in Betracht kommenden Männer aufgestellt, die wir zu einer Vorbesprechung zum 21. April 1894 nach Kassel einluden. Der Ort wurde als eisenbahnlicher Mittelpunkt von Deutschland gewählt, damit die Beteiligten insgesamt ein Minimum von Reiselänge zurückzulegen hatten. Es hatten 65 Eingeladene zugestimmt und waren etwa 30 Teilnehmer gekommen.
Die Versammlung wählte mich zum Leiter der Gründungsverhandlungen. Wilke hatte einen Satzungsentwurf vorbereitet und nachdem einstimmig die Gründung der neuen Gesellschaft beschlossen war, wurden die Satzungen beraten. Manche wurden abgeändert, aber es stellte sich doch ein so allgemeiner guter Wille heraus, zum Ziele zu kommen, daß die am Nachmittag begonnenen Verhandlungen noch an demselben Tage um Mitternacht mit dem Auftrag an mich beendet werden konnten, am nächsten Morgen die nach den Beschlüssen bearbeiteten Satzungen vorzulegen. Ich führte diese Arbeit noch vor[235] dem Schlafengehen aus, und sie wurde am nächsten Morgen angenommen.
Die Wahlen hatten mir mit allen gegen zwei Stimmen das Amt des ersten Vorsitzenden übergeben; zweiter Vorsitzender wurde Böttinger, Direktor der Farbenfabriken Bayer, damals in Elberfeld, später in Leverkusen. Unter den Beisitzern ist zu erwähnen Dr. Rathenau, der Sohn des damaligen Leiters der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft in Berlin. Es ist derselbe, dessen Name durch die Organisation der Kriegsgesellschaften während des Weltkrieges, durch politische Tätigkeit und seine Ermordung später so bekannt geworden ist. Er hatte sich allerdings vorher kaum mit unserer Wissenschaft beschäftigt, war aber wohl von seinem Vater beauftragt worden, die Verbindung mit der jungen Gesellschaft herzustellen, da man von der Elektrochemie auch große technisch-wirtschaftliche Erfolge erwartete. An den Gründungsverhandlungen hatte er eifrig teilgenommen und dabei sein Geschick in geschäftlichen und organisatorischen Dingen so deutlich erkennen lassen daß wir ihn trotz seiner Jugend gern in den Vorstand aufnahmen.
Da er sich auch zunächst an den Geschäften des Vorstandes regelmäßig beteiligte, bin ich mehrere Jahre hindurch mit ihm in Berührung gewesen. Auch über die Geschäfte hinaus haben wir wiederholt lange Nachsitzungen abgehalten. Ich war mit ihm ohne viel Sympathie bekannt geworden, da an seiner äußeren Erscheinung der Sohn des Millionärs zu deutlich für meinen Geschmack erkennbar war. Doch stellte sich bald heraus, sehr zu meiner Verwunderung, wie ich gestehen muß, daß er lebhafte philosophische Interessen äußerte, was unvermeidlich zu endlosen Gesprächen führen mußte und führte. Damals erfüllten mich die ersten Denkarbeiten an der Energetik, doch ist mir nicht erinnerlich, daß ich ihn von der Zweckmäßigkeit meiner Auffassung überzeugt hätte.
[236] Lehrstühle. Inzwischen war G. Böttinger, der Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses war, dort in einer erfolgreichen Rede für die Errichtung von Lehrstühlen der Elektrochemie an den technischen Hochschulen Preußens eingetreten, damit für die unmittelbar bevorstehende technische Entwicklung dieses Gebietes die nötigen wissenschaftlich vorgebildeten Mitarbeiter vorhanden seien. Die Anregung war von dem damaligen Kultusminister Dr. Bosse willig aufgenommen worden, der den Referenten für die technischen Hochschulen Dr. Wehrenpfennig beauftragt hatte, mit Böttinger die erforderlichen Maßnahmen zu besprechen. Dieser zog den Vorstand der elektrochemischen Gesellschaft und den überaus rührigen Dr. Holtz als Vertreter des Vereins Deutscher Chemiker hinzu. Es wurden persönliche Vorstellungen beim Kultus- und Finanzminister erbeten, die in erwünschter Weise verliefen. An der Technischen Hochschule Charlottenburg war inzwischen schon der Lehrauftrag an Dr. v. Knorre, einen baltischen Landsmann erteilt worden, der der neuen Lehre freundlich gesinnt war, wenn er auch nichts von Belang für die Sache selbst getan hat. Für Aachen war in A. Classen längst ein hervorragender Vertreter der Elektrochemie da, dessen Tätigkeit allerdings fast ausschließlich auf deren Verwendung für die Zwecke der Analyse gerichtet war.
Alle diese Schritte hatten die Entwicklung der Sache in Preußen zum Ziel. Denn G. Böttinger war ein eifriger Preuße und hatte neben der allgemeinen Förderung der Sache noch den persönlichen Wunsch, den Schwerpunkt der ganzen Angelegenheit von dem nichtpreußischen Leipzig in sein engeres Vaterland zu verlegen. Er hat diese Bestrebungen während der folgenden Zeit unentwegt fortgeführt und sie schließlich auch in gewissem Sinne durchgesetzt.[237]
Mir als sächsischem Beamten erschien es daher nötig, über die Vorgänge, die sich mit ungewöhnlicher Schnelligkeit vollzogen hatten, ohne die Öffentlichkeit zu beschäftigen, meinem Ministerium Bericht zu erstatten und anheim zu geben, auch an der Dresdener technischen Hochschule entsprechende Maßnahmen zu treffen, damit sie nicht von den anderen Anstalten überholt würde. Denn an der Münchener technischen Hochschule hatte schon längst W. von Miller ein elektrochemisches Laboratorium eingerichtet.
Der nächste Erfolg dieses Schrittes war einigermaßen unerwartet. Ich erhielt von einem Kollegen jener Anstalt in deren Interesse er getan war im Auftrage der dortigen Professoren ein höflich-bissiges Schreiben etwa des Inhaltes, ich möchte mich gefälligst um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, da die Dresdener Professoren sich durchaus im Stande fühlten, für die ihrigen selbst zu sorgen. Ich ließ diesen Ausfluß verletzter Würde gelten, ohne zu erwidern, daß sie ja gar nicht über die Einzelheiten unterrichtet sein konnten, die mich zu meinem Bericht veranlaßt hatten. Ich konnte dies um so eher tun, als ein sachlicher Erfolg sich bald genug buchen ließ. Seitdem ist die Elektrochemie in Dresden sorgfältig gepflegt und durch hervorragende Fachmänner vertreten worden.
Innere Arbeit. Die ersten Jahre der elektrochemischen Gesellschaft nahmen meine Energie sehr stark in Anspruch. Ich war vorher noch niemals im Vorstand irgendeiner wissenschaftlichen oder sonstigen Gesellschaft gewesen und hatte daher gar keine Erfahrung über die Technik der Leitung. Hier war ich plötzlich erster Vorsitzender geworden, und zwar nicht in einer bestehenden Gesellschaft mit gewohnten Formen und Arbeiten, sondern einer eben zusammengetretenen, die wie der Homunkulus in Goethes Faust erst zum wirksamen Dasein entstehen wollte. Zwar besorgte A. Wilke die äußere Organisation in musterhafter[238] Weise, aber für die schwierigere innere war ich auf meine eigenen Mittel angewiesen. Guter Wille und Vertrauen meiner Mitarbeiter erleichterten mir die ungewohnte Tätigkeit so sehr, daß es möglich war, mancherlei förderliche Arbeit zu leisten.
Zunächst gab es eine persönliche Schwierigkeit zu überwinden. In den Vorstand war ein Mitglied aufgenommen worden, der Nominalprofessor an der technischen Hochschule zu Charlottenburg war und nach Art vieler eingewanderter Berliner alsbald auf die Leute aus der Provinz von der Höhe seines hauptstädtischen Selbstbewußtseins als auf ein Geschlecht zweiter Ordnung herabsah. Er hatte sich der dortigen Ortsgruppe bemächtigt und begann verschiedene Unternehmungen im Namen der Gesellschaft, ohne mich zu fragen oder zu verständigen; für die entstehenden Kosten nahm er die Vereinskasse in Anspruch. Auf einer bald einberufenen Vorstandsversammlung kennzeichnete ich dies Vorgehen als undurchführbar, begegnete aber der Erklärung des Berliners, daß er sofort austreten würde, wenn ich meinen Standpunkt festhielte. Ich hielt ihn fest und nahm, damit der Punkt erledigt schien, den nächsten Gegenstand der Tagesordnung vor, indem ich erwartete, daß der Ausgetretene die Sitzung verlassen würde. Er tat es nicht, beteiligte sich auch zunächst nicht an den Verhandlungen. Nach geraumer Zeit gab es eine Abstimmung, wobei er mit votierte. Ich machte ihn aufmerksam, daß er sich da in Widerspruch mit seiner vorher abgegebenen Erklärung setzte, er aber tat beleidigt, daß ich seine Äußerung wörtlich genommen hatte und die anderen waren einverstanden, sie als nicht getan zu betrachten. Ich aber sagte ihm, daß ich unseren Kassenwart verpflichten werde, keine Rechnungen zu bezahlen, die ich nicht bestätigt hatte, und so ließ er seine selbständigen Unternehmungen bleiben. Nachträglich bedauerten aber die Vorstandskollegen[239] ihre Vermittlung, denn seine Zugehörigkeit zum Vorstande war dem Ansehen unserer Gesellschaft nicht nützlich.
Als dann nach Ablauf eines Jahres ein Drittel der Vorstandsmitglieder behufs Neuwahl ausgelost werden sollten, sorgte der zweite Vorsitzende dafür, daß der Umschlag, welcher den Namen jenes unwillkommenen Genossen enthielt, erkennbar war und forderte mich, als mir das Herausziehen der Umschläge übertragen wurde, mit den Augen auf, jenen Umschlag vor allen zu ergreifen. Ich schüttelte den Kopf und vermied ihn zu nehmen. Während er sich bis dahin mir und den Meinen mit vielen Beweisen des Wohlwollens und der Freundschaft genähert hatte (er war bedeutend älter als ich und nahm eine sehr angesehene Stellung ein), mußte ich von nun ab eine sehr deutliche Abkühlung unseres Verhältnisses auf seiner Seite erkennen und traf ihn später stets unter meinen Gegnern an. Er hat es mir offenbar nicht verziehen, daß ich seine »Taktik« nicht mitmachte, nachdem ich seine Absicht verstanden hatte.
Wirkung nach außen. Im Herbst des Gründungsjahres 1894, nach halbjährigem Bestehen, fühlte sich die Elektrochemische Gesellschaft bereits kräftig genug, ihre erste Jahresversammlung abzuhalten, für die aus mehreren Gründen als Ort Berlin gewählt wurde. Die Anzahl der Mitglieder näherte sich dem dritten Hundert und es schien erwünscht, die neuen Bahnen, die wir einschlagen wollten, gemeinsam zu besprechen. Die Versammlung wurde von 85 Teilnehmern besucht und verlief höchst angeregt. Wir wählten alsbald die Veteranen der Elektrochemie Bunsen, Hittorf, Wiedemann und Kohlrausch zu Ehrenmitgliedern; alle vier nahmen mit freundlichen Worten die Ehrung an. Sodann beschlossen wir, einen erheblichen Teil unserer Mittel darauf zu verwenden, daß in den wichtigsten Städten Deutschlands[240] Vorträge über Elektrochemie gehalten wurden, um die weiteren Kreise der Wissenschaft und Technik über die Fortschritte zu unterrichten, die in jüngster Zeit auf diesem Gebiete gemacht worden waren. Mit der Ausführung wurde in erster Linie Professor A.v. Öttingen betraut, der inzwischen dem Druck der Russifizierung in Dorpat gewichen und nach Leipzig übergesiedelt war, wo er nicht ohne Schwierigkeiten sich eine neue Arbeitsstätte eingerichtet hatte. Ich war ihm dabei nach Kräften behilflich gewesen und hatte mir dadurch wieder den ernsten Unwillen mancher Leipziger Kollegen zugezogen, denen die neue Konkurrenz unerwünscht war, und die es sehr »unkollegial« von mir fanden, daß ich sie ihnen zugezogen hatte.
Da Öttingen ein hervorragendes Talent als Redner besaß und es sachgemäß ausgebildet hatte, so erzielte er für die Elektrochemie große Erfolge und hat viel zur schnellen Entwicklung der Gesellschaft beigetragen.
Es fanden in der Folge alljährlich solche Gesellschaftsversammlungen statt, die immer anregend und lehrreich verliefen; auch der Humor pflegte sowohl während der Verhandlungen wie namentlich bei den abschließenden geselligen Zusammenkünften nicht auszubleiben.
Das chemische Staatsexamen. Von den jährlichen Versammlungen der Elektrochemischen Gesellschaft war besonders folgenreich die vierte, welche im Juni 1897 in München stattfand. Ich hatte inzwischen jene Erkrankung durchgemacht, die mich längere Zeit im Auslande festhielt. In dieser Zeit hatten die schon seit längerer Zeit von einigen Seiten geförderten Bestrebungen, für die in der Industrie tätigen Chemiker ein Staatsexamen nebst entsprechenden Titeln einzuführen, bestimmte Gestalt gewonnen und die Preußische Regierung war willig gemacht worden, in der Angelegenheit führend vorzugehen. Der Hauptvertreter hierfür war Dr. Duisburg,[241] schon damals neben Böttinger, der nicht minder eifrig für das Staatsexamen eintrat, im Vorstand einer der größten Farbenfabriken Deutschlands.
Die Bewegung hatte ihre sachliche Begründung darin, daß die Führer der chemischen Industrie einen wesentlichen Mangel in der Ausbildung des Nachwuchses, wie er von den Universitäten kam, bemerkt hatten. Es fehlte den jungen Leuten die frühere Sicherheit in der chemischen Analyse und nähere Kenntnis der anorganischen Chemie. Die Ursache war nicht weit zu suchen; sie bestand darin, daß infolge der unbedingten Vorherrschaft der präparativen organischen Chemie die Professoren des Faches selbst nur geringe Kenntnisse und noch geringeres Interesse in jenen Gebieten besaßen und betätigten. So wurde die übliche Vorschulung der jungen Chemiker durch Analyse und Präparate zwar beibehalten, aber oft mit geringer Sorgfalt behandelt und tunlichst abgekürzt. Die Vorlesungen über anorganische Chemie aber wurden überall von den Organikern gehalten, deren Gedankenkreis die dort vorhandenen Aufgaben fern lagen und die deshalb den Hörern keinerlei Anregungen geben konnten. Zu der Zeit, wo diese Klagen auftraten, hatte bereits der Heilungsvorgang begonnen. Die physikalische Chemie hatte eine grundsätzlich neue Wendung gerade in den Begriffen und Vorstellungen der anorganischen Chemie bewirkt und in dieser neue Fragestellungen und damit aussichtsreiche Forschungsaufgaben entstehen lassen. Auch nahm sie die Beispiele zur Aufklärung ihrer allgemeinen Fragen zwar aus beiden Teilen der Chemie, vorwiegend jedoch wegen der einfacheren Verhältnisse aus der anorganischen. Es stand somit dem lange vernachlässigten Gebiet eine neue Blüte unmittelbar bevor, und sie ist auch alsbald eingetreten.
Dies war aber den Führern jener Bewegung nicht zum Bewußtsein gekommen und sie suchten in der schulmeisterlichen[242] Denkweise, die den Deutschen durch das Lateingymnasium angezüchtet wird, Abhilfe in äußeren Examenvorschriften statt in inneren Entwicklungsförderungen. Diese Gedanken waren vorwiegend im »Verein für die Interessen der chemischen Industrie«, in welchem die führenden Köpfe der Technik verbunden waren, entstanden und entwickelt worden. Dieser sehr einflußreiche Verein hatte den Verein Deutscher Chemiker, der die in der Industrie angestellten Chemiker zusammenfaßt, für den Plan in Bewegung gesetzt und beide hatten bereits die amtlichen Stellen willig gemacht, diese Wünsche zu erfüllen.
Ich hatte der Sache anfangs nur wenig Aufmerksamkeit zugewendet, da ich nicht glaubte, daß man wagen würde, eine so erhebliche Änderung der bestehenden Verhältnisse vorzunehmen. Denn unter deren Herrschaft hatte die chemische Industrie Deutschlands einen märchenhaften Aufschwung genommen und die viel älteren und kapitalkräftigeren Industrien Englands und Frankreichs überflügelt. Deshalb bemühte man sich um eben dieselbe Zeit in beiden Ländern, von den deutschen Einrichtungen das zu übernehmen, was übertragbar erschien und ich konnte mir nicht denken, daß man bei uns zu den primitiveren Methoden zurückkehren wollte, deren Herrschaft in den Nachbarländern zum Zurückbleiben beigetragen hatte.
Die Abwehr. Indessen mußte ich mich überzeugen, daß man wirklich ernsthaft mit solchen Plänen umging und ich hielt es für meine Pflicht, meine Stimme aus Leibeskräften dagegen zu erheben, da ich sehr große Nachteile befürchten mußte. Die Versammlung in München bot dazu eine willkommene Gelegenheit. Unser dortiger Vertreter war Professor Wilhelm von Miller, der an der Münchener technischen Hochschule schon längst ein elektrochemisches Laboratorium eingerichtet[243] hatte. Er und sein genialer Bruder, der Werkwalt Oskar von Miller, nahmen sich der Vorbereitungen so tätig und erfolgreich an, daß eine ungewöhnlich glänzende Tagung unter Teilnahme der Regierung und des Hofes in Aussicht stand. Ich durfte also auf einen guten Widerhall rechnen, wenn ich meinerseits den Ernst der Sache meinem dortigen Hörerkreis eindringlich genug zum Bewußtsein brachte.
Tatsächlich verlief die Versammlung so glänzend, wie erwartet. Die eigenartige Mischung künstlerisch-heiterer Geselligkeit und gediegener Arbeit, welche die Teilnehmer so wirksam menschlich nahe bringt und einen aufrichtigen praktischen Idealismus fördert, war damals eine auszeichnende Eigenschaft jener schönen und fröhlichen Stadt, die sich auch uns gegenüber reich betätigte. Sie hatte eine große Anzahl von Chemieprofessoren angezogen, welche Wilhelm von Miller in seinem Hause mit einem festlichen Frühstück begrüßte.
Ich benutzte diese günstige Gelegenheit ungezwungenen Zusammenseins, um mir vom Herzen zu sprechen, was mich bedrückte und erfüllte. Zu meinem Erstaunen fand ich, daß die wenigsten Kollegen sich um die Frage gekümmert hatten; sie waren bereit, die Dinge gehen zu lassen, wie die einflußreichen Förderer der Staatsprüfung es wollten.
Es war also offenbar die größte Gefahr im Verzuge, und wenn es nicht gelang, die Sache in der zwölften Stunde aufzuhalten, so mußte das Unheil seinen Gang gehen. Ich überlegte in aller Geschwindigkeit, von welcher Seite ich die Kollegen am wirksamsten aufwecken konnte und legte ihnen von den Überlegungen, die ich für den morgen zu haltenden Vortrag angestellt hatte, die folgende an das Herz.
Die Erfahrungen an dem medizinischen Staatsexamen haben unzweideutig bewiesen, daß gegenüber[244] der Gesamtprüfung die Dissertation, die »selbständige« wissenschaftliche Arbeit eine verschwindende Rolle spielt; sie ist dort fast zu einer bloßen Formalität herabgesunken. Das gleiche steht uns bei den Chemikern bevor, wenn auch für sie ein Staatsexamen eingeführt wird.
Damit aber würde für uns Professoren der beste und wichtigste Teil unseres Unterrichts verschwinden, der in der Anregung und Leitung der selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten der Doktoranden liegt. Wir würden nicht mehr die umfassenden Forschungen ausführen können, für welche wir in jenen freiwillige und eifrige Mitarbeiter hatten, die neben und nacheinander Teilgebiete durcharbeiteten, die sich gegenseitig kontrollierten und einen großen Stil des wissenschaftlichen Fortschrittes ermöglichten. Auf diesen würden wir künftig ganz und gar verzichten müssen, wenn die Mitarbeiter ausblieben. Daß damit die Quelle der glänzenden Einnahmen versiegen würde, die den Kollegen aus den Laboratoriumsgebühren zuflossen, brauchte ich nicht ausdrücklich zu sagen, das sagte sich jeder schon selbst.
Dies packte die Kollegen. Es wurde sofort als notwendig erkannt, Schritte gegen die drohende Gefahr zu tun und ein kleiner Ausschuß gebildet, bestehend aus v. Baeyer, Viktor Meyer und mir, welcher sich der Sache annehmen sollte.
Es war dies das erste und fast das einzige Mal, daß es mir gelungen ist, meine Kollegen ohne Widerspruch zu meinen Ansichten zu bekehren. Und man wird es mir nicht übel nehmen, wenn ich vermute, daß es nicht sowohl die Kraft meiner unterrichtlichen und wissenschaftlichen Gründe gewesen ist, denen ich diesen ungewöhnlichen Erfolg zuzuschreiben habe, sondern daß die wirtschaftlichen Nachteile, welche die geplante Einrichtung befürchten ließ, die sonst so geringe Reaktionsgeschwindigkeit meiner kollegialen Beeinflussungsversuche[245] bis zu diesem hohen Grade katalytisch beschleunigt haben.
Der kritische Tag. Auf der festlichen Hauptversammlung am folgenden Tage, der außer einigen Ministern und höheren Beamten auch die wissenschaftlich lebhaft interessierte Prinzeß Therese, Tochter des Prinzregenten, beiwohnte, konnte ich in längerer Rede »Über wissenschaftliche und technische Bildung« mein Urteil über die geplante Einrichtung von einem höheren Gesichtspunkt aus entwickeln. Der Hauptgedanke war, daß unsere gegenwärtige Ausbildungsweise durch die Doktorarbeit die Chemiker zu einer höheren Leistungsfähigkeit entwickelt, als ein noch so zweckmäßig eingerichtetes Examen ergeben könnte. Denn sie lernen durch jene Arbeit, wie man sich dem Unbekannten gegenüber zu benehmen hat, um es zu erforschen. Das Examen kann sie höchstens dazu bringen, das Bekannte zu beherrschen. Dies letztere genügt aber der deutschen Technik nicht, denn sie braucht in erster Linie Leute, die das Forschen gelernt haben. Solche lieferten die deutschen Universitäten und technischen Hochschulen in einer Güte, wie keine ausländische Anstalt, und diese Quelle unserer Erfolge muß unbedingt erhalten bleiben.
In meiner leidenschaftlich vorgetragenen Rede entwickelte ich diese Gesichtspunkte und beschwor meine Zuhörer mit allen verfügbaren Kräften, den unheilvollen Weg nicht zu gehen.
Ich erinnerte an das Wort Bismarcks vom Sekondeleutnant, der dem deutschen Heere seine Überlegenheit sicherte und den uns die anderen Völker nicht nachmachen könnten und sagte: Solange man uns unseren Dr. phil. nicht nachmachen kann, bleiben wir die Führenden.
Die Rede hatte ersichtlich einen starken Eindruck gemacht. Als geübter Taktiker sprang der zweite Vorsitzende Böttinger, der die Gegenseite vertrat, alsbald[246] in die Bresche und stellte den Antrag, die weitere Erörterung der Frage aus Rücksicht auf die anwesenden Ehrengäste auf den Nachmittag zu verschieben, und erst die anderen Vorträge anzuhören. Ich hatte nichts dawider; hernach stellte sich heraus, daß jene Maßnahme ganz und gar zum Nachteil der Gegner ausfiel.
Inzwischen hatte nämlich Viktor Meyer mit v. Baeyer gesprochen und auch dieser hatte sich die Folgen des chemischen Staatsexamens klar gemacht. Am Vormittag war er nicht abkömmlich gewesen; zum Nachmittag aber erschien er und griff alsbald persönlich auf das kräftigste in die Verhandlungen ein. Er entwickelte in seiner Weise ungefähr die gleichen Gedanken, die mir wesentlich erschienen waren. Die Beibehaltung der wissenschaftlichen Arbeit war ihm die Hauptsache; diese hielt er aber nicht für vereinbar mit dem Staatsexamen. Auch Viktor Meyer, schon in Reisekleidern, meldete sich zum Wort, um die Wichtigkeit der Dissertation zu betonen. Dr. Holtz erklärte als Vertreter der Industrie, daß die Sache bei der Reichsregierung schon so gut wie fertig sei und wir uns mit der Tatsache abzufinden hätten. Böttinger brachte einen Antrag ein, daß wir uns mit dieser Absicht der Reichsregierung einverstanden erklären sollten, mußte aber feststellen, daß keine Stimmung dafür in der Versammlung vorhanden war. In der weiteren Aussprache wurde er wähnt, daß mit der amtlichen Prüfung auch die Erteilung eines entsprechenden Titels, etwa »Regierungschemiker«, verbunden sein würde, was zur »Hebung des Chemikerstandes« wünschenswert sei. Dies erregte lebhaften Widerspruch. Die Endszene verlief nach der amtlichen Niederschrift, die vor der Drucklegung allen Beteiligten vorgelegt war, wie folgt:
Vorsitzender: Nun muß ich über den Antrag Böttinger abstimmen lassen.
[247] Böttinger: Ich bin gern bereit, meinen Antrag dahin zu modifizieren, anstatt zu sagen: »die Durchführung eines solchen Staatsexamens herbeizuführen« – »die Prüfung der Frage der Einführung eines solchen Staatsexamens vorzunehmen«, oder »sich mit der Prüfung der Frage zu beschäftigen«.
V.: Das brauchen wir der Reichsregierung nicht weiter vorzuschlagen, das tut sie bereits.
B.: Es wäre unsererseits zu erstreben, wenn sich die Versammlung der Ansicht anschlösse, daß die Herbeiführung wünschenswert ist.
V.: Das ist ja das Gegenteil.
B.: Doch nicht! Ich würde aber sagen: »Die Deutsche Elektrochemische Gesellschaft spricht sich dahin aus, daß die Einführung eines Staatsexamens in der Chemie wünschenswert ist. Das ist eines. Und dann: und ersucht die Reichsregierung, sich mit der Prüfung der Frage zu beschäftigen.« Das ist kein Widerspruch. Ich nehme also Abstand von der »Durchführung« eines solchen Examens und sage nur: »die Reichsregierung möchte sich mit der Frage eingehender beschäftigen«. Also: »Die Elektrochemische Gesellschaft spricht sich dahin aus, daß die Einführung eines Staatsexamens für Chemiker höchst wünschenswert ist und ersucht die Regierung, die Prüfung der Frage herbeizuführen.«
V.: Das ist also ein Antrag auf Einführung eines Staatsexamens. Wer für den Antrag des Herrn Böttinger ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. (Geschieht.)
Die Anzahl der Stimmen ist gering, die Gegenprobe brauche ich wohl nicht zu machen.«
Hiermit war aber die Angelegenheit noch nicht abgeschlossen. Zu dem festlichen Abschiedsessen, an dem der Unterrichtsminister Landmann mit sichtlicher Freude teilnahm, war v. Baeyer als Gast erschienen und[248] überraschte uns alle durch eine Rede von so rücksichtsloser Offenheit, wie sie niemand erwartet hatte. Ich habe keine schriftliche Aufzeichnung gefunden und kann daher den genauen Inhalt nicht angeben. Sie hinterließ jedenfalls den Eindruck, daß die Frage des chemischen Staatsexamens endgültig in verneinendem Sinne erledigt war. Tatsächlich erklärte die Reichsregierung bald darauf, daß wegen der aufgetretenen grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten eine Entscheidung verfrüht wäre und daß die Angelegenheit weiter geprüft würde. Dabei ist es bis heute verblieben.
Das Verbandsexamen. Wir aber, nämlich v. Baeyer, V. Meyer und ich machten uns klar, daß unsere Betätigung nur dann dauernden Erfolg haben würde, wenn wir die tatsächlich vorhandenen Mängel in der Ausbildung der Chemiker von uns aus beseitigten. Diese Mängel bestanden hauptsächlich in der fehlenden Sicherheit dafür, daß die zur Doktorarbeit von den Professoren zugelassenen Studenten eine genügende allgemein chemische Vorbereitung mitbrachten. Wir konnten nicht leugnen, daß es gewisse Doktorfabriken gab, in denen fast jeder zur Doktorarbeit zugelassen wurde, der sich meldete; die in solchen Laboratorien hergestellten Arbeiten wurden in Fachkreisen mit Recht als minderwertig angesehen. Die Beratungen ergaben folgenden Plan, dessen Grundgedanken vorwiegend von Baeyer beigebracht wurden.
Die leitenden Chemieprofessoren gründen den »Verband der Laboratoriumsvorstände«, der Universitäten und technischen Hochschulen, dessen Mitglieder sich verpflichten, keinen Studenten zur Doktorarbeit zuzulassen, der nicht vorher das »Verbandsexamen« bestanden hatte, in welchem er sich über genügende Kenntnisse in anorganischer, organischer und analytischer Chemie ausweisen muß. Auf besonderen Wunsch konnte er auch noch, wo die betreffenden Fachprofessoren dazu[249] bereit waren, Prüfungen in physikalischer Chemie, Physik, Mineralogie und anderen verwandten Fächern ablegen und sich die nachgewiesenen Kenntnisse bezeugen lassen.
Der Vorschlag wurde an alle in Frage kommenden Kollegen geschickt. Eine gründende Zusammenkunft fand in Braunschweig zur Naturforscherversammlung statt, wo die Satzungen beraten und angenommen wurden.
In kurzer Frist traten alle Laboratoriumsleiter der deutschen Universitäten dem Verband bei. Die Kollegen von den technischen Hochschulen schlossen sich uns erst an, traten aber nach einiger Zeit wieder aus, durch »taktische« Gründe veranlaßt. Denn damals tobte der Kampf um die Erteilung des Doktorgrades durch die technischen Hochschulen, gegen welche sich eine Anzahl Universitätsprofessoren ausgesprochen hatten.
Der »Verband« hat seitdem den Zweck, für den er gegründet war, gut erfüllt und besteht noch heute, zum Beweis, daß solche Dinge sich sehr gut ohne amtlichen Apparat durchführen lassen. Ich trat aber bald aus dem Vorstande aus, als ich erleben mußte, daß Baeyer die Aufnahme eines seiner Günstlinge durchsetzte, der nach dem klaren Wortlaut und Sinn der Satzung nicht aufnahmefähig war. Außer mir hatte niemand dagegen zu stimmen gewagt.
Ein besonders schmerzlicher Beiklang jener guten und erfolgreichen Sache entstand dadurch, daß unser dritter Mitarbeiter, Viktor Meyer, kurz bevor wir in Braunschweig zusammentraten, seinem Leben ein plötzliches Ende machte. Er war durch Überarbeitung schwer erschöpft und hatte in den letzten Jahren dazu eine Reihe persönlicher Aufregungen durchmachen müssen. Das bewirkte bei ihm häufig wiederkehrende quälende Kopfschmerzen mit entsprechenden Depressionszuständen; dazwischen erschien er heiter und lebendig. In solcher guter[250] Stimmung hatte er am 7. August 1897 den Seinen Gutenacht gesagt; dann hat ihn anscheinend ein besonders schwerer Anfall ergriffen, und unter dessen Einfluß hatte er sich mit Blausäure vergiftet.
Persönliche Folgen. Ich habe das Bewußtsein, daß ich dem Deutschen Volke und insbesondere der Deutschen Chemie durch meine erfolgreiche Bekämpfung des chemischen Staatsexamens einen sehr großen Dienst erwiesen habe. Irgendeine Anerkennung ist mir hierfür allerdings nie zuteil geworden; auch habe ich keine angestrebt. Wohl aber stellten die maßgebenden Männer der chemischen Industrie, welche das Staatsexamen mit größtem Nachdruck befürwortet und beinahe schon endgültig durchgesetzt hatten, bei dieser Gelegenheit fest, daß ich nicht genügend hellhörig für ihre Wünsche sei und daher in ihren Kreis, dem auch mehrere im Vordergrunde stehende Professoren angehörten, nicht paßte.
Für mein äußeres Leben hat die feindselige Einstellung des sehr einflußreichen Kreises, die sich weiterhin bei all meinen entsprechenden Betätigungen fühlbar machte, mancherlei. Folgen gehabt, und zwar meist ungünstige. Für meinen inneren Menschen aber glaube ich gerade hieraus ein Plus buchen zu dürfen.
Der Abschluß. Der wachsende Druck mannigfaltiger Arbeit und anderer Verpflichtungen verband sich mit abnehmender Teilnahme an der Gesellschaft, um mir den Gedanken des Rücktritts von der Leitung nahe zu legen. Im Schoße der Gesellschaft bemühten sich jüngere ehrgeizige Kräfte, meinen Einfluß zu mindern, um selbst besser in den Vordergrund zu treten. Da mir nichts daran lag, diese äußere Stellung zu verteidigen, so war ich sehr bereitwillig, ihnen das Feld zu überlassen. Ich litt persönlich unter diesen Erfahrungen. Nicht aus gekränktem Ehrgeiz; mein Streben hatte inzwischen eine ganz andere Richtung genommen. Sondern ich schämte[251] mich für jene, die mit nicht immer ganz reinlichen Mitteln solche Ziele verfolgten und gab freiwillig den Weg frei, um jene Kleinlichkeiten nicht mehr durch mein Dasein hervorzurufen und sie ansehen zu müssen.
Soviel Interesse hatte ich indessen noch für mein zu verlassendes Kind, daß ich ihm einen möglichst guten Führer, wenigstens für die nächsten Jahre zu verschaffen mich bemühte. Lange wollte mir keine geeignete Persönlichkeit einfallen. Doch vertraute ich auf die Gunst der Stunde und kündigte auf der Gesellschaftsversammlung von 1898 in Leipzig meinen Rücktritt an.
Die Versammlung war in mehrfacher Hinsicht ausgezeichnet. Dr. Hans Goldschmidt führte zum ersten Male öffentlich sein inzwischen zu so großer technischer Bedeutung gelangtes Thermit verfahren vor. Dieses gestattet durch Abbrennen geeigneter Mischungen von Aluminiumpulver mit Metalloxyden sehr hohe Temperaturen im kleinsten Raume zu erzeugen, so daß man einerseits schwerschmelzbare Metalle regulinisch herstellen, andererseits Schmiedestücke unmittelbar bis auf Weißglut erhitzen kann. Ich kennzeichnete daher in den Schlußworten, die ich als Vorsitzender zu sagen hatte, das Verfahren als einen Hochofen und ein Schmiedefeuer in der Westentasche.
Eine zweite Überraschung war die Vorführung des kolloiden Goldes und seiner merkwürdigen Verhältnisse durch Dr. Zsigmondy. Zwar waren Arbeiten über Kolloide längst von Zeit zu Zeit erschienen, und schon Th. Graham hatte eine methodische Zusammenfassung des Gebietes angestrebt. Aber von den Arbeiten Zsigmondys darf man die Anregung lebendiger Teilnahme einer größeren Anzahl Fachgenossen an diesen Problemen rechnen, namentlich nachdem der Optiker Siedentopf mit ihm im Ultramikroskop ein neues und weittragendes Werkzeug für diese Forschungen erbaut hatte.[252]
Noch ein dritter Anfang ist von dieser Tagung zu verzeichnen. Ein jüngerer Forscher berichtete über elektrochemische Untersuchungen an organischen Verbindungen, wobei er sehr zahlreiche Ergebnisse mit atemraubender Geschwindigkeit vortrug. Er wurde von einem etwas älteren Fachgenossen heftig und unbegründet angegriffen, so daß ich mich veranlaßt sah, als Vorsitzender für ihn einzutreten. Sein Name war damals kaum bekannt, ist es aber später sehr geworden. Er hieß Fritz Haber.
Ich hatte in der Vorstandssitzung zu Beginn der Tagung mitgeteilt, daß ich eine Wiederwahl zum ersten Vorsitzenden nicht würde annehmen können. Voll Sorgen, wie sich diese Angelegenheit befriedigend würde abwickeln lassen, ging ich zum Sitzungssaal und begrüßte die Bekannten. Unter ihnen befand sich auch van't Hoff und bei seinem Anblick war die Aufgabe gelöst. Er war der gegebene Führer. Zwar hatte er sich nie besonders mit Elektrochemie beschäftigt. Mir erschien dies aber nur als ein Vorteil für die Sache, denn ich war von vornherein der Überzeugung gewesen, daß die Beschränkung der Tätigkeit der Gesellschaft auf die Elektrochemie unzweckmäßig, ja undurchführbar war. Hatte doch die laufende Tagung den Beweis dafür gebracht, daß die interessantesten Mitteilungen nichts mit Elektrochemie zu tun hatten.
Freund Beckmann, der Getreue, hatte mit einer Anzahl Gleichgesinnter eine Art Staatsstreich vorbereitet, um mich zur Beibehaltung des Vorsitzes zu zwingen. Auf diesen Schachzug war er aber nicht gefaßt gewesen und mußte ihn als zweckmäßig anerkennen. So gab er sich darein und van't Hoff hat den Verein eine Reihe von Jahren erfolgreich und glanzvoll geleitet. Mich aber wählte die nächste Tagung zum Ehrenmitgliede.
[253] Die Bunsen-Gesellschaft. Mein letztes Eingreifen in die Geschicke der Gesellschaft bezog sich auf die eben erwähnte Erweiterung ihrer Aufgaben über das ganze Gebiet der physikalischen Chemie. Nachdem dies grundsätzlich gebilligt war, wurde über den notwendig gewordenen neuen Namen beraten. Robert Bunsen war vor kurzem in hohem Alter gestorben und ich schlug den Namen Bunsen-Gesellschaft vor. Der Name fand viel Zustimmung, aber auch Gegnerschaft, die von der bereits erwähnten Gruppe organisiert wurde, der ich vor einigen Jahren in München das Spiel mit dem chemischen Staatsexamen verdorben hatte. Die Taktik war diesmal, vor der endgültigen Abstimmung einen Beschluß durchzusetzen, daß Satzungsänderungen nur mit Zweidrittelmehrheit ausgeführt werden dürften.
Die entscheidende Tagung fand in Würzburg statt und beide Seiten hatten sich auf heftige Kämpfe gefaßt gemacht. Das gute Glück wollte aber, daß die Verhandlung auf einen Nachmittag gelegt war, nachdem ein von der Stadt gegebenes Frühstück vorangegangen war, auf welchem der köstliche »Bocksbeutel« vom Weinberg des Juliusspitals reichlich ausgeschenkt wurde. Er hatte sichtlich die kriegerische Stimmung zur Sanftmut gewendet. Bei der Verhandlung trat als gefährlichster Gegner der geniale Oskar von Miller auf. Er hatte eigentlich nicht viel mit der Sache zu tun, war aber von der einflußreichen Gegnerschaft veranlaßt worden und hielt eine eindrucksvoll-populäre Rede gegen den Namen. Wäre die Abstimmung gleich erfolgt, so hätte er die Mehrheit für sich gehabt. Ich bat deshalb den Vorsitzenden zunächst auch den anderen Gegnern das Wort zu erteilen, damit ich alle Einwendungen zusammen beantworten konnte.
Es wurde der Bitte gemäß verfahren und nun kamen in absteigender Reihe immer ungeschicktere Vertreter[254] der Gegnerschaft zu Worte, deren Einwände sich schließlich so offenkundig widersprachen, daß sie sich gegenseitig aufhoben. Ich konnte mich in meiner Antwort darauf beschränken, diese Selbstvernichtung der Gegnerschaft zu unterstreichen. H. Goldschmidt, der Thermitmann, fügte einiges Persönliche hinzu, was zu Herzen ging, und bei der Abstimmung ergab sich nach einigen Hindernissen die nötige Mehrheit.
Obwohl die Sache schließlich nicht von Bedeutung war, und mehr Aufwand gekostet hatte, als sie wert war, freute sie mich doch als technisches Experiment. Aber ich verlor durch sie die Lust, mich weiter in der Gesellschaft zu betätigen, zumal mich meine neuen Aufgaben nach ganz anderer Richtung zogen.
Die Katzenmutter. Es hat nicht an Vorwürfen gegen mich gefehlt, daß ich dergestalt eine Sache, die ich mit voller Hingabe betrieben und der ich einen Teil von meinem eigenen Leben mitgegeben hatte, aufgab und ihrem eigenen Schicksal überließ. Da auch in manchen anderen Fällen das gleiche geschah, so sah ich mich einer Naturgesetzlichkeit gegenüber, deren Ursachen entdeckt werden wollten. Ich fand sie, wenn auch viel später.
In dem Landhause, das ich seit 1906 bewohne, findet mit dem Beginn jedes Winters eine große Einwanderung von Mäusen statt, welche mit dem ersten Schnee vom Felde in das warme und nahrungsreiche Haus übersiedeln und auch in anderen Jahreszeiten Ansiedlungsversuche machen. Als bewährtes Mittel dagegen wurde eine Hauskatze gehalten, welche ihre Pflicht zwar sehr befriedigend erfüllte, aber nur unter der Bedingung, daß sie zweimal im Jahre ihr Wochenbett abhalten durfte. Indem wir jedesmal von den zur Welt gekommenen Kätzchen je zwei am Leben ließen (womit die Mutter einverstanden war), konnten wir einen Dauerzustand herstellen. Zwei wurden jedesmal aufgezogen,[255] damit jedes einen Spielgefährten hatte, und es gelang immer, sie als tüchtige Mäusejäger zufolge mütterlicher Erziehung in gute Hände abzugeben.
Bekanntlich ist eine Katzenmutter das Urbild der Mutterliebe. Sie geht ohne Zögern den größten Hund an, der ihre Brut bedroht und jagt ihn sicher in die Flucht. Um die Reinlichkeit der Kinder kümmert sie sich bis zum letzten Punkt, und wenn sie größer geworden sind, vergißt sie Alter und Würde, um mit ihnen stundenlang zu spielen. Rechtzeitig trägt sie ihnen lebende Mäuse zu und lehrt sie alle Künste der Jagd.
Wenn es aber so weit ist, ändert sie ihr Verhalten. Sie wird immer weniger zugänglich, überläßt sie zunehmend sich selbst, und nach kurzer Frist werden die Herangewachsenen durch Anfaucher und Ohrfeigen belehrt, daß sie weiterhin nicht mehr auf die Mama rechnen dürfen, da sie für sich selbst sorgen können.
Ich habe diesen Vorgang so ausführlich beschrieben, weil er mir vorbildlich zu sein scheint. Unsere geistigen Kinder gewinnen, wenn sie überhaupt lebensfähig zur Welt kamen, durch die natürliche Entwicklung ihr eigenes Leben, und zwar um so schneller, je erfolgreicher wir sie herangepflegt hatten. Dann tritt immer die Gefahr ein, daß die fortgesetzte Bemutterung in eine Bevormundung übergeht. Ist das Leben des jungen Wesens kräftig, so schüttelt es gemäß dem Gesetz der Notwendigkeit diese Bevormundung ab. Das gibt Hemmungen, Streit und die Mutter wird unglücklich. Oder das Wesen ist nicht kräftig genug: dann siecht das Kind unter dauernder Bevormundung dahin und stirbt jedenfalls, wenn diese aufhört, oft auch schon vorher.
Aus der Geschichte der Chemie war mir das tragische Schicksal bekannt, welches der große Berzelius durch die von ihm organisierte Wissenschaft hatte erleben müssen. Es war ein Fall der ersten Art, wo das Kind sein[256] eigenes Dasein gewonnen hatte. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens hatte Berzelius in einem immer heftiger werdenden Kampfe gegen die inzwischen entstandene neue Chemie zubringen müssen und auf seinem Sterbebette sah er das Gebäude, in dessen Säulen er sein ganzes Leben hineingebaut hatte, in Flammen aufgehen. Was verbrannte, waren freilich nur entbehrliche Gerüste. Aber das wußte er nicht, denn seine Wissenschaft war ihm über den Kopf gewachsen und er konnte sie nicht mehr überschauen.
Das danke ich der Wissenschaft, daß ich die objektive Notwendigkeit solcher Vorgänge begriff und nie gezögert habe, die Nutzanwendung auf mich zu machen. Wenn man mir Mangel an Treue gegen meine eigenen Schöpfungen vorwarf, so durfte ich mit Recht antworten, daß das rechtzeitige Verlassen der Führerstelle ein höheres Maß von Treue gegen das selbständig gewordene Gebilde bedeutet, als das Festhalten an einer äußeren Beziehung, deren innere Beschaffenheit eine wesentlich andere geworden war.
Was hier in dem Sonderfalle ausführlich dargelegt worden ist, findet sachgemäße Anwendung auf manche andere Inhalte meiner Lebensarbeit. Die Elektrochemische Gesellschaft aber ist als Bunsengesellschaft längst lebenskräftig genug geworden, um bessere oder geringere Führer ohne wesentliche Beeinflussung ihrer Gesundheit zu erleben oder zu ertragen.
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