Erinnerungen an Richard Dehmel

Es wird leer um mich herum. Ich habe das Alter erstiegen, von dessen Höhen man hinabblickt auf sein Heimatsdorf. Viele Gebäude, Hütten frohester Erinnerungen sind nicht mehr, neu aufgetürmte verdecken die wenigen Ruinen, die noch geblieben. Mein Vater, Strindberg, Carl Prowe, Bindemann, Robert Langerhans, Bierbaum, Hartleben, Oelschlaeger, Leuthold usw. (welch trauriges Undsoweiter!) sind dahin, und ich komme mir vor, wie ein arm gewordener Fürst Esterhazy, der nach vielen Verlusten sich entschließen mußte, seinem geliebten Vater Haydn und seiner Kapelle den Dienst zu kündigen. Ehe sie ihn, den Wohltäter mit der offenen Hand verließen, spielten sie ihm zum Abschied eine Symphonie ihres Dirigenten Haydn vor, der solche eigens zu diesem Zwecke komponiert hatte; in derselben hört zum Schluß ein Orchester-Mitglied nach dem andern auf zu spielen, packt sein Instrument ein, löscht das Licht am Pulte aus und verläßt gemessenen Ganges, winkend mit der Hand, durch eine schmale Tür das überwölbte Podium. Nur eine Geige singt noch wie die letzte Nachtigall im Garten. Dann dreht sich Haydn um, löscht auch sein Licht, breitet die Arme und geht. So ist auch mir. Die Freunde verlöschen. Die Umgebung wird lichter, die Mitspieler des Lebens treten ab. Aus dem Orchester wird immer intimere Kammermusik. Sextett, Trio, Duett. Wann wird mein Solo nahen?

Ich kam gerade von meinem ersten, von einem schönen Erfolg gekrönten Dichterabend im Charlottenburger Rathaus am 8. Februar 1920, freudig erregt ob des Beifalls ungewohnter Fülle, als ich zu Haus eine Depesche fand[323] und erbrach. Sie war von Dehmels Frau. »Richard heute vormittag ohne Leiden sanft entschlafen.« Wie ein Schatten senkte es sich über den Tag des Glückes. Welch tiefe, unergründliche Logik des Geschickes, welch ein undurchschaubarer Zweck des Zufalls, an welchen ich nun einmal nicht glaube. Er ist nichts als die Verschmelzung zweier Gesetzmäßigkeiten zu einer Kette, deren Funktionsbedeutung wir gar nicht oder, wie so oft, erst spät erkennen lernen. Sofort fiel mir, schmerzlich wehe, ein, daß Dehmel in der Jugend einst mich gewarnt hatte, Verse zu schreiben, sie seien zu sentimental und enthielten zu wenig Eigenes! – nun kam ich doch von einem, in langen Jahren errungenen, offenbaren Erfolg in dieser Richtung, und nun war er an demselben Tage fortberufen, seine Schwanenfeder mußte er aus der Hand legen, und ich schreibe dir, mein großer Freund, mein Richard mit dem Dichter-Löwenherz, gleichsam mit umflorter Feder diesen Abschiedsgruß. Man hat mich, deinen besten Freund, erkoren, zu deinem Gedächtnis eine Rede zu halten. Mag das für die anderen sein, hier an meinem Pulte spreche ich in dieser Stunde ganz allein mit dir, um dir zu sagen, was wir uns waren, wie ich dich gesehen, wie ich dich geliebt!

Ich habe Richard Dehmel, der jenen friedlichen Waldkapellen zum reinen Gottesdienst der Natur entstammte, welche man Forsthäuser nennt, umrankt von Eichen und hohen nackthalsigen Kiefern, im Jahre 1881/82 kennengelernt. Sein späterer Schwager Franz Oppenheimer, jetzt einer unserer ersten Nationalökonomen, noch heute ein Mann von hohem Schwung und heißem Feuer, machte mich, den damaligen Unterassistenten im Pathologischen Institut bei Virchow, auf ihn aufmerksam. »Das ist ein Genius«, sagte er, »den müssen Sie kennenlernen! Ich freue mich unbändig auf euer Aufeinanderprallen. Denn das gibt es. Also heute abend!«

Der Abend kam, und nach kaum zwei Stunden folgte der Bruderkuß, das Du und eine nie gefährdete, tiefgegründete Freundschaft nahm ihren Beginn. Dehmel,[324] mehrere Jahre jünger als ich, studierte damals noch Naturwissenschaften, die ihm aber nicht recht lagen, und begann sich für Nationalökonomie zu interessieren. Welch sonderbarer Mensch! Schon damals dieses tief vergrübelte Gesicht mit den blitzsprühenden, oft zugekniffenen, an sich schön geschnittenen und leuchtenden großen Augen, deren Winkel schon früh die so charakteristischen Krähenfüße zeigten, mit der scharfen, aristokratischen Nase und den energisch geschweiften Nüstern. Die Lippen blaß, die untere auffallend breiter, die er leicht zu einer verächtlichen, mürrischen »Schippe« verzog. Hoch der Altar der Stirn, dem so vieles Heiligendes noch entströmen sollte, kreuz und quer durchfaltet, drei tiefe konvergierende Furchen über der Nasenwurzel. Zwei türkensäbelkrumme, tiefe Falten begrenzten scharf vom Nüsternansatz schräg die Wangen und verloren sich in die breit ausgeladenen Kiefer. Die Brauen wie zwei weitgeschweifte gotische Bogen. Schön gewelltes, tiefschwarzes, dichtes Haar mit dem Geniestrudel in der Mitte, wie aus der Stirn emporflammend. Schlank die Gestalt, eine etwas gebückte Haltung, sein Gang bis ins Alter hinein eigentümlich schiebend, seine Haltung wie stürmend vorgebeugt.

Nun diese Feuermacht der hervorgesprudelten Rede, eine helle, oft schneidende und dann wieder glockentief wogende Sprache; unnachahmliches, sehr charakteristisches Streichen der Schnurrbart-Enden abwärts mit den seinen, immer sorgfältig gepflegten Mittelfingern der Rechten. Dabei stets etwas Ringendes, Pressendes, Drückendes im Wort, Satzbilden, ein Suchen nach dem Treffendsten, begleitet mit Ballungen der Faust – alles Bewegungen, welche ihm bis in die Mannesjahre genau noch so eigen waren.

Eigentlich ein schmerzdurchwühltes Kainsgesicht, mit deutlich südländischem Einschlag. Aber von Kain war keine Spur in seinem weichen, niemals der leisesten Haßerfüllung überhaupt fähigen Gemüt, das von Menschheitsliebe troff, während er dem einzelnen Menschen gegenüber stets eine gewisse Verschlossenheit zeigte. Keineswegs aus Mißtrauen,[325] sondern aus einer gewissen Scheu, sogleich seine innere Glut zu offenbaren. »Warum jedem zeigen, wieviel man in sich trägt,« sagte er einst mit einer mir unvergeßlich wehen Miene, »wir machen uns Feinde mit unseren Edelsteinen. Besitzen ja, aber nicht damit protzen!« Dieser aristokratische Takt ließ ihn für manche gewiß frostig kühl erscheinen. Er hatte eine kalte Hand für die meisten. Ich weiß es noch heute nicht, was ihn eigentlich so antriebartig zu mir zog; aber das war gewiß vom ersten Momente an, hier war ein Freund, von dem man ohne schwere Schuld nie wieder gelöst werden konnte! Immer, wenn wir dann bald darauf Arm in Arm durch die Mark wanderten, kam mir Eichendorffs Lied in den Sinn:


»Es zogen zwei rüst'ge Gesellen

Zum erstenmal von Haus,

So jubelnd recht in die hellen,

In die klingenden, singenden Wellen

Des vollen Frühlings hinaus!«


Wie oft habe ich es ihm singen müssen: im Grunewald, im Eichenhain von Eldena, und noch später in Hamburg-Blankenese. Robert Schumann hätte seine Freude daran gehabt! Wir haben uns beide gehalten; keiner von uns ist in den Strudeln umgekommen, wie der »andere« im Liede, obwohl wir beide oft auf des Satans Kandidatenliste gestanden haben! Freilich haben uns beiden auch keine »Schwäger« Hof und Haus gekauft, aus denen wir behaglich in die Welt hätten schauen können! Dazu war in unser beider Leben zu viel Kampf, Sturm und Fragezeichenwirbel, zu viel Gegenwind für unsere stolzen Segel! Ja wahrlich, stürmisch war unsere Studentenjugend! Eine eiserne Gesundheit lieh uns beiden den Mut, überall bis zum Rest der Kraft mit dem Leben zu spielen. Zu einer natürlichen Berauschtheit vom Leben kam noch manch anderer Rausch zu einer oft exzentrischen Ausgelassenheit. Wir hatten uns einen Satz geprägt, der alle unsere Extravaganzen decken sollte: »Wir lernen nur aus denjenigen Vergnügungen, die uns an den Rand des Verderbens[326] führen!« Und wahrlich, diese Grenze zwischen Sein und Nichtsein haben wir leider oft genug umstolpert. Freilich war die Absturzgefahr bei mir bedrohlicher. Richard Dehmels Temperament war doch im allgemeinen verhaltener und kam nur hier und da, dann aber zu ungeheuren, fast gefährlichen Explosionen. Dann waren freilich alle Teufel los, und wir mußten den ekstatischen Phönix mit allen Händen auf der Erde halten. Einmal raste er voll von himmelstürmendem, dionysischem Jauchzen über die Weidendammer Brücke, erklomm ihre Brüstung und wollte emporstreben in die Sternennacht! Mein Bruder Ernst, ein Landmann von riesiger Körperkraft, umklammerte eisern den Rasenden und behauptet noch heute, die »deutsche Literatur gerettet« zu haben, indem er Dehmel in unentrinnbaren Muskelklammern hielt, bis der Schäumende zu sich kam, und zwar mit den tieftraurigen Worten: »Es ist eine Gemeinheit, einen nicht sterben zu lassen,« und mit mir auf meine Studentenbude zu Frau Maximowitz kam, die wir in Frau Max und Moritz umtauften, vis-à-vis dem Zirkus Renz, parterre. Ich habe ihn dann wie David den irren König Saul mit Cellospiel und Klavierphantasien in einen natürlichen Schlaf gewiegt. Das war das Zimmer, in das er einst bei hellem Sonnenschein hineinblickte zu heißer Sommerzeit, bei offenem Fenster in einer gänzlich abgelegenen Gegend, als ich badebereit auf meinem Cello im Meer der Töne schwelgte – eine Situation, welche der Gute zu meinem 60. Geburtstage höchst launig mir zu Ehren veröffentlicht hat. Mein Cello hatte er überhaupt sehr lieb, wie alle meine Freunde. Manchen Studentenwitz haben sie damit getrieben. So fand ich es einst beim Nachhausekommen nachts zwischen den Beinen meines Knochenskeletts, dem sie auf Dehmels Anstiften meinen Frack und Zylinder übergestülpt hatten; es hockte kunstgemäß auf einem Stuhl mitten im Zimmer, der Bogen technisch richtig in der rechten Knochenhand; den vierten linken Fingerknöchel auf dem hohen A der ersten Saite. Als ich aber einmal mein Cello »meine Braut« genannt[327] hatte, da war der Witze kein Ende mehr. Sie setzten ihm Perücken, Hütchen und Nachtmütze auf, schmückten den Stachel mit Spitzenstrumpfbändern von Frau Max und Moritz, und einmal hing es sogar an meinem Kronleuchter aufgehängt mit einem Feigenblatt am Steg. Auf dem Tische lag ein Zettel: »Aufgehangen wegen Deines unverbesserlichen Lebenswandels. Leb wohl! Deine viersaitige Braut Cellina.« Solcher Bande Führer war immer umschichtig Bindemann, Prowe oder Dehmel. Wenn wir aber in kommunistischer Geldnot waren, da war mein echtes italienisches Cello sogar immer der Retter in der Not; es war ein kostbares Versatzstück, 500–600 Mark waren uns immer sicher. Wie haben sie oft gebettelt, ich möchte doch die »paar Wochen« das Geknürpse auf dem »Wimmerholze« lassen und sie vor der äußersten Not (mehr des Durst- als des Hungertodes!) schützen. Mein armer, grundgütiger Vater, der die »tönende Braut« immer wieder aus dem Kloster (Leihinstitut) entführen und erlösen mußte, meinte dann einmal, als ich in den Ferien ihm die Resultate meiner (also periodischen) Übungen vorführte, höchst witzig: »Das Kol nidrei, der ›hebräische Gesang‹, ist ihm entschieden – am geläufigsten!«

Dehmel liebte die Musik über alles, und ich habe ihn oft erfreuen können mit dem Vortrag Löwescher Balladen, von denen der »Edward« ihn oft zur hellen Begeisterung fortriß. Conrad Ansorge begleitete mich meisterhaft. Er stellte Löwes »Erlkönig«, wie so viele, weit über den Schuberts und behauptete, Schubert habe den dämonischen Trieb zur Knabenliebe, den Goethe gestalten wollte, gar nicht verstanden, ihm fehle das unheimlich Sadistische in der Musik, wie denn auch Schuberts »Ganymed« aus dem gleichen Grunde völlig mißverstanden sei. Erst Hugo Wolf habe diese naive, griechische Dämonie des Jupiter richtig erfaßt und vertont. Was waren das schöne Abende im Hause seines späteren Schwiegervaters, des alten Oppenheimer mit seiner sehr klugen und grundgütigen Gattin, die sonderbarerweise nie recht an den Stern Dehmels[328] glauben wollte. Bei ihnen waren stets ein paar Tanten von Dehmels Braut Paula, der Dichterin schöner Kinderlieder und der Dulderin seiner ersten Ehejahre. Franz Oppenheimer, damals noch Mediziner, der dann eine Leuchte der Nationalökonomie wurde, mit dem wahrhaft genialischen Feuerkopf, und Steindorf, der spätere hochberühmte Ägyptologe in Leipzig, nebst seiner Braut, der zweiten Tochter des alten Rabbiners Oppenheimer, dem kleinen Mann mit dem verschmitzt talmudischen Antlitz, von großem Witz und noch größerer Herzensgüte. Da wurde gesungen, ich mußte auf dem Flügel improvisieren und alle meine Züricher Studentenschnurren und -burlesken zum Besten geben, und immer wieder lauschte das wohlgesinnte Publikum meinen oft wiederholten Produktionen und ex tempore für solche Abende ausgedachten »Soloszenen«. Das waren Dehmels behaglichste Stunden, und hier sind wir wohl beide unzertrennlich miteinander verwachsen, so daß ein Bund entstand, von dem seine zweite Frau, mich betreffend, sagte: »Dehmel hat wenige Menschen wirklich Freund genannt, dich aber hat er geliebt!«

Noch inniger verschmolzen wir auf meiner Studentenbude in der Karlstraße 22, als ich schon zum Staatsexamen mich rüstete. Hier waren wir oft Abende lang allein beim Cello, Klavier und bei unseren Manuskripten, und wir genossen in vollen Zügen alle die Illusionen einer stürmenden Jugendfrische, die uns beiden ein schönes, sicheres, oft arrogant selbstverständliches Gefühl unserer »Bestimmung« vorgaukelte. Stolz, wie wir waren, sprachen wir oft von unseren hohen Entwürfen und Plänen, aber doch mit einer gewissen inneren, beinahe blasierten und naseweisen Ruhe, weil über unsere »Bedeutung« ja doch erst die Nachwelt entscheiden könne. Wir einigten uns, wir beiden »Klugschnacker«, in dem Satze, daß wir uns mit unseren Trieben ruhig ausreisen lassen könnten, weil man ja doch in den »Ofen« seiner Persönlichkeit keinen »Koks« nachschieben könne! Die meisten unserer Mitpoeten seien in diesen Fehler verfallen, sie suchten sich und ihr Talent[329] zu »überheizen«. Das klang ja mächtig weise, aber ich glaube, wir sind doch beide manchmal recht närrisch unklug mit unserem »Heizmaterial« umgegangen. Solche tiefgründigen Stunden wechselten dann mit Zeiten frohesten Studentenulks und Kommersierens ab, und es gab eine ganze Periode, in der wir unsere Tage von früh bis spät unzertrennlich gemeinsam verbrachten, und zwar nicht immer im Fahrwasser einer ruhigen Fortentwickelung und Beherrschung unserer Triebe. Viel Zeit verbrachten wir auch auf den Ateliers von Eugen Hanetzog und Moritz Posner, den Kunstakademie-Malern. Auch hier wurde rezitiert, Harmonium gespielt und mancher Ulk getrieben. Daran knüpft sich eine Erinnerung an den großen Menzel. Einer der beiden Malerfreunde arbeitete in unserer Gegenwart nach einem Modelle, einem bleichen, jungen Mädchen, das plötzlich aus der starren vorgeschriebenen Pose in epileptische Krämpfe verfiel. Ich sehe noch Dehmels gutgemeinte, aber gänzlich unnütze Bemühungen um den zuckenden Mädchenkörper. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Menzel stand da, von einem der anwesenden Malerjünglinge im ersten Eifer herbeigerufen; in der einen Hand einen Zeichenblock, in der anderen den Stift. Ohne ein Wort zu sagen, skizzierte er eifrig die Ärmste und die Stellung ihrer Glieder solange, bis endlich die Krämpfe nachließen. Eine künstlerische Gier nach bildhaften Sonderbarkeiten der Form beherrschte ihn ganz, welche wir alle, Dehmel voran, nachher mit heller Entrüstung tadelten Menzel zeichnete eben alles, was ihm unter die Augen kam, eine Fliege, eine Schere, einen Klumpfuß, eine Epileptische; für ihn stand das Zeichenbare im Proszenium aller Ereignisse! Wir machten uns aber doch klar, daß in dieser Leidenschaft und ihrer steten Übung seine enorme Virtuosität begründet sein mochte. Hier in diesen Ateliers habe auch ich zeichnen und malen gelernt und die ersten Anregungen gewonnen, neue, bessere Farbenmedien zu erfinden, was mir aber erst viel später gelang. Zahlreiche Seestücke sind von meiner Hand im Besitze meiner[330] Schwestern, die Frucht meiner ausgedehnten Farbenstudien. Das war auch die Zeit unseres sogen. »Ethischen Klubs« in der Behrenstraße, im damaligen Pschorrbräu, wo alle 8 Tage eine Versammlung aller Sturmgenossen stattfand, deren Mitglieder alle zu Rang und Namen in der Wissenschaft und Kunstwelt gelangt sind.

Um 1885 ging ich nach Greifswald. Für unsere Freundschaft ein schwer verwindbarer Entschluß, den Dehmel durch häufige, mehrfach alle 14 Tage wiederholte Besuche bei mir milderte. Wie schöne Tage waren das für mich und alle jungen Assistenten der Greifswalder Klinik, wenn der Brausekopf von jungem Dichter die Öde der täglichen Schwerarbeit in der Klinik unterbrach und wir im Garten in einer Laube sitzend, bei einem Nachmittagstee, unsere Pfeifen schmauchend, den schönen Entwürfen lauschten, die er uns mit Feuer und Inbrunst vorlas. Mein Freund Albert Koenig, jetzt Geh. Medizinalrat und Stadtarzt in Frankfurt a. M., schwärmt heute noch von den damaligen sonnigen Dichtertagen. Dehmel war da unermüdlich. Wir lernten Dramen: »Winfrid«, »Karl der Große«, »Der Erlöser« kennen, welche alle leider nie im Druck erschienen sind, auch eine Unmasse von Liedern, Hymnen und Elegien, von welchen sehr viel in seiner Sammlung fehlen. Mir scheint, Dehmel hat eine sehr strenge Auswahl und eine tiefgreifende Ausmerzung seiner Jugendgedichte vorgenommen, es fehlen mir viele Perlen aus der damaligen Zeit. Dann wanderten wir oft in den Eichenhainen des alten Eldena bei Greifswald, mit den schönen Klosterruinen, oder wir setzten uns auf die Bahn, um das nahe, wunderschöne Stralsund zu besuchen, an das mich alle meine Schulerinnerungen an »Vater Freese« knüpfen, denen ja in diesen Blättern ein besonderes Kapitel gewidmet ist. Hier habe ich Dehmel einst in der wundervollen Marienkirche ganz allein Orgel vorgespielt. Ich fand ihn wie verzückt zu den herrlichen gotischen, hellgelben Säulenbögen und den sehr kostbaren bemalten Kirchenfenstern aufblickend; er drückte mir die Hand und[331] sagte: »Töne können auch Gotik haben! Es strebt im Choral alles nach oben, wie sonnenanbetende, über dem Haupte gefaltete Hände! Der byzantinische Halbbogen ist servil!« In dieser Kirche zeigte ich ihm auch den unsterblichen Fleck auf den Steinfliesen unter dem Schiff der Kirche, der entstanden war, als uns der alte liebe Physikprofessor Rollmann einst den Foucaultschen Pendelversuchen gros demonstrieren wollte. Die an einem Drahte freischwebende, pendelnde Kanonenkugel – das ist das Experiment – stürzte plötzlich vom gerissenen langen Strick ab und brachte eine Boden-Steinplatte zum Bersten. Seitdem glaube ich immer noch nicht – mit Strindberg – daß die Beweise für die Rundheit der Erde stichhaltig sind. Merkwürdig viele solcher Experimente mißlingen! Dehmel interessierten unter anderem mächtig die Kanonenkugeln in den Mauern der verschiedenen Kirchen, die noch aus der Zeit von Wallensteins Berennung der alten Schwedenstadt herstammten. »Weißt du,« sagte er, »ich möchte wohl mal so etwas mitmachen. Schlacht, Krieg muß doch der höchste Mannesrausch sein!« Er hat ihn erlebt – und kam, nicht viel davon redend, ernüchtert zurück. Ja, er ist diesem vermeintlichen Rausch zum Opfer gefallen! Er starb an den Nachwehen des fürchterlichen Weltkrieges. Sein sonst so feurig strömendes, springend leichtes, flüssiges, schäumendes Blut gerann in den von Kriegsstrapazen überdehnten Venen der Beine, und langsam stieg ihm die gerinnende Flut wie die Eiswelle des Todes zum Herzen! –

Zurückgekehrt nach Berlin, verband uns wieder die alte Burschenliebe. Ich habe ihm auf seinen Wunsch bei jener denkwürdigen, religiösen Hochzeitsfeier mit Paula Oppenheimer, bei der er seinen Rabbiner-Schwiegervater erst gar nicht zu Worte kommen ließ, sondern selbst die Predigt an seine junge Frau hielt mit dem stark prononcierten Thema: »Ich bin dein Herr!«, eine Arie singen müssen: »Sei getreu bis in den Tod!« Die Feier, die er mit somnambuler Würde veranstaltet hatte und selbst leitete in allen Teilen, war eine Groteske. Damals war Richard[332] auch seinen nächsten Verwandten noch ein Problem, sie sahen in ihm einen Dämon, einen Rattenfänger, eine Art Bruder Martin oder Horla à la E. T. A. Hoffmann oder Maupassant. Warum die Ehe mit Paula zerriß, danach habe ich ihn nie gefragt. Es ist nutzlos, in die Psychologie einer zerbrechenden Ehe eindringen zu wollen. Kein Mensch kann in die Struktur des Amalgams zweier Herzen sehen. Gewiß ist, daß er Paula sehr geliebt hat, freilich war ihm seine spätere Frau Isi etwas ganz anderes, sie hoch überragendes. Er hat sie über alles auf Erden gestellt.

Unserem Bunde harrte ein großes Erlebnis: die Bekanntschaft mit Strindberg. Täglicher Verkehr mit ihm durch Monde hindurch, der naturgemäß zu den interessantesten Auseinandersetzungen zwischen Dehmel und Strindberg führte. Denn, so gleichgerichtet die beiden im Grunde in ihrem Ethos auch sein mochten, so einig sie auch waren in der Erkenntnis von der metaphysischen Struktur der Welt und der in dieser Metaphysik ruhenden Erkennbarkeit des Lebens, so sehr beide die heutige, namentlich von Fricke für die Physik und für die Psychologie von mir vertretene Erkenntnis von der eigentlichen Geistigkeit der Materie vorweg ahnten – so sehr differierten sie doch in der naiven Naturanschauung, in dem Einfühlen in die gegebenen, wenn auch vorgetäuschten sogenannten Realitäten des Lebens. Strindberg sah die Welt schon damals mit dem mehr ahnenden als beweisenden Blick des Mystikers, Dehmel, obwohl durchaus Geisteswissenschaftler in seinen philosophischen Abstraktionen, stak doch noch mit beiden Beinen mitten im Naturalismus, den nun einmal alle unsere koryphäischen Zeitgenossen, Holz, Hauptmann, Hartleben, Bierbaum, Heymel, auf ihre Fahne geschrieben hatten. Daß übrigens der eigentliche Zündfunken zum Naturalismus und Bühnenrealismus der unvergeßliche Joseph Kainz durch sein rhetorisches Zerpflücken des Schillerschen Jambus zu einer atemlos hervorgestoßenen Prosa, durch die Zerreißung des Pathos in eine reale, unglaublich[333] überzeugende Vortragsweise, etwa um 1882 herum gewesen ist, soll hier nur angedeutet werden. Es lohnte eines ausführlichen Beweises. Genug, als wir Strindberg kennenlernten, um 1892 herum, stand der sog. Naturalismus in vollster Blüte, während Strindberg schon dabei war, völlig in den Mystizismus einzumünden, dem er dann in dem »Traumspiel«, in »Damaskus« und in den vier »Kammerspielen« à la E. T. A. Hoffmann und in Callots Manier die Basis für die ganze, jetzt modernere Symboldichtung gegeben hat. Über diese Wogen geistiger Dichtungen wurde oft diskutiert, und eines schönen Tages, im »Schwarzen Ferkel« in der Wilhelmstraße, gerieten Dehmel und Strindberg hart aneinander. Strindberg wurde reichlich grob, was sonst gar nicht seine Art war, er wetterte auf den ganzen Naturalismus mit Donnerstimme und Jupitergebärden und schrie Dehmel an (er nannte ihn immer »der wilde Mann«): »Das ist es ja eben, ihr seid Gerichtsberichtler von die' Straßenereignisse, Detektive des Alltagslebens, richtige Abkleckser, Photographen und einfache Kopisten aller Dunkelseiten des Daseins. Das ist nicht Kunst, das ist Ducken unter die Fußtritte des Gemeinen!«

Da stand Dehmel entrüstet auf, der ja gar nicht gemeint war, er fühlte sich aber bis ins Innerste beleidigt, nahm seinen Hut und ging. Vergeblich suchte ich zu vermitteln. »Was will der wilde Mann?« Ich setzte ihm auseinander, daß er Dehmel bitter unrecht getan. Strindberg wurde sehr schweigsam. Nach etwa einer Stunde ging auch er. Auffallend früh. Mit kurzem Gruß. Sein eventuelles Wiederkommen stellte er in Aussicht. Andere hinzugekommene Freunde, Elias, Franz Evers, Munch, Ola Hansson, Laura Marholm, Hartleben usw., blieben noch. Es war schon tiefe Nacht, als Strindberg in den zusammengeschmolzenen Freundeskreis zurückkehrte. Heiter und guter Dinge. Ich fragte ihn: »Woher des Weges?« »Von Dehmel,« sagte er, »ich habe ihm abgebittet. Habe eine Droschke genommen und bin gefahren nach Pankow« (wo Dehmel damals[334] wohnte)! »War er noch böse?« »Man kann ein Unrecht, das man getan, gar nicht schnell genug wieder gut machen, wenn man es überhaupt in der Hand hat. Man soll nicht einen Augenblick versäumen, es auszugleichen. Wer kann wissen, wie schnell ein Unglück sich dazwischen schiebt. Dehmel war sehr gut und gerührt über meine einfache Abbitte, da du ›mich‹ gesagt, daß ich im Unrecht sei. Er gab ›mich‹ einen Kuß, und der wilde Mann sagte ein gutes, aber stolzes Wort: ›Wenn wir uns schon anbellen, was sollen dann die Hunde tun?‹« Damit war die Angelegenheit erledigt.

Später nahm Dehmel seine zweite Frau, welche er abgöttisch bis an sein Ende geliebt und hochverehrt hat. Er zog mit ihr nach Blankenese. So sahen wir uns seltener. Aber so oft er nach Berlin kam, gaben wir uns Gelegenheit, von alten schönen Zeiten zu plaudern und die neuen Pläne zu besprechen. Er gab jetzt meinen Psychologien und meiner poetischen Betätigung weit mehr Gehör als in jungen Jahren, in denen er immer etwas souverän auf meine Poeterei herabschaute. Meinen »Es läuten die Glocken« prophezeite er Unsterblichkeit. Bei solchen Begegnungen war er oft hinreißend gütig und innig. Einmal schwärmte ich von meinen beiden kleinen Nichtchen, die damals etwa 5 Jahre alt waren, die mir mein fehlendes Kinderglück ersetzten. Sie seien mir Garantien der Zukunft, Schwalben der Unsterblichkeit, kleine Herolde von der Ewigkeit der Menschheit! »Wie lieb, Carl, müssen die sein, wenn du so von ihnen sprichst. Laß uns ihnen Zuckersachen kaufen und gib sie ihnen von Onkel Richard.« »Die eine,« sagte ich, »dichtet auch.« »Na nu?« »Ja!« Ich rezitierte die Verslein meiner kleinen Margot, der ich oft meine Kinderliedchen gewidmet und aufgesagt hatte. Eines Tages meinte sie, sie habe auch Gedichte, sie seien aber nur kurz gemacht, weil Onkel Carl doch nicht so viel behalten könne. Und sie lauteten:[335]


Ein Soldat ging in ein Seelein

Zum Baden.

Dann ging er wieder rein –

Und wieder rein

Zum Baden!

Auf »wiedersehenste Wohltat«!


und:


Trittst in ein Kämmerlein –

Die Maus ist aufgewacht,

Die Türe klappert dein,

Die Maus erwacht –,

Durch deines – – –

– – – – –


»Du,« sagte Dehmel ganz ernst, »das könnte ganz gut von mir sein.« »Darum habe ich sie dir auch hergesagt,« meinte ich. Er fand die Kombination von Wiedersehen und Wohltat zu einem Worte geradezu genial, und ich erhielt fortan keinen Brief, keine Karte mehr von ihm ohne dieses geniale »auf wiedersehenste Wohltat«.

Nun ist er dahin, der Gute, der Reine, der völlig Abgeklärte! Ein unsterblich Abgeschiedener. Ein Ewiger. Er, der Liebling der Jugend und ein Prophet des Kommenden.

Er, in dem ewig der Heros mit dem Dämon rang, bis alle seine der hohen Weltidee zugestimmten Rhythmen den Luzifer in sich erwürgten, so daß er als Mann von höchster kristallheller Geistigkeit sein Leben selbst zu einem wundervollen Gedicht formte, ist nicht mehr unserem Auge, unserer Hand erreichbar. Mit großem Schmerze gedenke ich an dieser Stelle seiner getreuen Frau Isi, die auf ihn einen ungeheuren, nie versagenden, sein Feuer besänftigenden Einfluß gehabt hat. Sein edelstes Werk »Die zwei Menschen« sind sein Bekenntnis einer unzerreißlichen höchsten Bindung des wilden Mannesherzens an die Schönheit einer erhabenen Frauenseele!

Sein letztes Gedicht war eine Hymne an diese Außerordentliche. Es lautet:


Standbild

[336] Du meines Lebens einzige Herrlichkeit,

über alle Träume herrlich,

geliebte Seele!

Meine Erleuchterin,

die jeden unserer Tage zum Geburtstag,

jede Nacht zur Weihnacht mir verklärte:

sieh! wenn nun die Stunde kommen wird,

unaufhaltsam wie vom fernen Meer die Sturmflut,

immer näher,

schaurigste Stunde für die Liebenden,

wo sich die letzte Klarheit auftut,

wo alles Traum wird, was wir lebten,

o ewiger Traum –

sieh, dann aber wirst du stehn,

wie seit je ich dich gesehn,

groß überm Meer, die Brandung dir zu Füßen,

Lavaklippen sind dein Kleid;

Das Haupt gestaltet aus der höchsten Kuppe,

umschleiert wolkenhaft vom schimmernden Flügelspiel

schutzsuchender Singvögelscharen.

So leuchtet dein Antlitz, Seele, ruhig in die Sturmflut,

sonnig, und ob dem Scheitel kreist das Adlerpaar

unseres freien Himmels![337]


Quelle:
Schleich, Carl Ludwig: Besonnte Vergangenheit. Lebenserinnerungen (1859–1919), Berlin 1921, S. 321-339.
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