Prag

1812

[413] Ich übergehe hier eine Menge von Erscheinungen, Wirren und Entwickelungen, welche zum Teil den reichsten Stoff romantischer Lebensbilder darböten, und eile zunächst nur, die Züge flüchtig zu erfassen, welche mit der Wendung der politischen Angelegenheit in Zusammenhang stehen.

Der Winter war mir trotz aller Zerstreuungen doch größtenteils in Stille und Fleiß vergangen. Mit dem Frühjahr wurden die Aussichten zum Kriege zwischen Rußland und Frankreich immer deutlicher und setzten alles in unruhige Bewegung. Die Übungen frischer Tätigkeit wurden vorgenommen: die Reitbahn, der Fechtboden, die von dem Grafen von Bentheim mit tätigster Beihülfe Pfuels errichtete Schwimmschule wurden fleißig besucht. Die größten Zweifel und Überlegungen aber kämpften in den Gemütern, welchen Anteil bei den bevorstehenden Ereignissen der einzelne in den jetzigen Verhältnissen hoffen könne, welche neue er wählen dürfe. In Prag hatten sich die stärksten Mächte und Antriebe zum Hasse gegen Napoleon zusammengehäuft. Der Kurfürst von Hessen-Kassel lebte dort als Vertriebener, mit vielem Anhang und seinem größtenteils geretteten Schatze, voll Trotz und Vertrauen auf einen Umschwung der Dinge und stets bereit, zu einem solchen aus allen Kräften mitzuwirken. Von Stein ist schon gesprochen. Karl von Nostitz, Pfuel und noch andre Norddeutsche, die sich hier zusammenfanden, waren nur zum Kriege gegen die Franzosen in österreichischen Dienst getreten und keineswegs geneigt, nun an der Seite der bisherigen Feinde zu fechten. Französische Emigrierte der beharrlichsten Art und meist in österreichischem Kriegsdienst, unter ihnen der Fürst von Rohan, der Major von Trogoff, der Marquis von Favras, Sohn des im Anfange der Revolution hingerichteten Vertrauten Monsieurs, nachherigen Königs Ludwigs des Achtzehnten, hatten[414] hier ihren Aufenthalt; desgleichen ein Korse, der Hauptmann Pozzo di Borgo, Neffe des berühmten Diplomaten und wie dieser voll bittern Hasses gegen den allgewalt'gen Landsmann. Die Zahl solcher Unzufriedenen mehrte sich mit jedem Tage. Aus Sachsen traf der Major von Bose ein, dann der Oberst Rühle von Lilienstern. Von Berlin nahm der bisherige Polizeipräsident Justus Gruner hieher seine Zuflucht; aus Hamburg kam als Flüchtling unter fremdem Namen der Buchhändler und Schriftsteller Bran, welchen der Marschall Davoust wegen Übersetzung und Bekanntmachung der spanischen Aktenstücke des Cevallos wollte erschießen lassen; er dankte seine Rettung nur dem Umstande, daß die Leipziger Polizei, kopfschüttelnd über den unglaublichen Namen Bran, den das französische Verfolgungsschreiben angab, sich fest einbildete, der Mann müsse Brand heißen, und daher einen Mann dieses Namens festnehmen ließ, wodurch der nur allzu richtige Bran gewarnt wurde und, ehe der Irrtum aufgeklärt war, nach Böhmen entwich.

Daß Preußen in seiner Lage nur mit Frankreich sich verbünden könne, war längst ausgemacht. Bald wußte man auch mit Sicherheit, daß eine österreichische Hülfsmacht mit den Franzosen vereint sein würde. Eine allgemeine Besorgnis zeigte sich, welche Regimenter dies Los treffen würde, dem entgehen zu können als das größte Glück erschien. Selbst als man vernahm, der tapfre und hochverehrte Fürst Karl von Schwarzenberg bringe den Umständen das Opfer und werde den Oberbefehl über diese Truppen annehmen, sah man weniger auf dieses Beispiel als auf das entgegengesetzte des Generals von Wintzingerode, des Majors von Tettenborn, des Generals Grafen von Wallmoden, welche den Abschied schon genommen hatten oder nehmen wollten, um in russische Dienste zu treten.

Mittlerweile hatte der französische Kaiser von allen Seiten seine und seiner Verbündeten Scharen zusammengezogen, und der ungeheure Heereszug wälzte sich unaufhaltsam[415] durch Preußen und Polen gegen Rußland hin. Napoleon selbst kam mit seiner Gemahlin nach Dresden, wohin der Kaiser und die Kaiserin von Österreich, welche seit kurzem in Prag eingetroffen waren, sich nun ebenfalls verfügten. Während dieser Zusammenkunft, auf welche die Augen der Welt gerichtet waren, hatte Prag eine nicht geringe Bedeutung, als ein so naher Sammelort entgegengesetzter Strebungen, als Beobachtungsposten englischer und russischer Agenten und, bei solcher Nähe, gleichwohl nicht im Bereich der Macht und Willkür Napoleons. Dies letztere wurde in einem Vorgange, der unter unsern Augen geschah, so auffallend als tröstlich offenbar.

Durch die wachsenden Anstalten zum russischen Kriege, die Größe und Wichtigkeit des Kampfes, der sich ankündigte, war das Gemüt Steins in heftige Bewegung gesetzt, die Ankunft und Gegenwart Gruners, der öfters heimlich zu ihm kam, hatten ihn noch mehr aufgeregt, und wo und wann man ihn nun sehen mochte, immer fand man seine Stimmung auf gleicher Höhe gereizt und leidenschaftlich. An ein ruhiges Gespräch war nicht mehr zu denken. Von Arndt, der sich nach Rußland geflüchtet hatte, war der zweite Teil seines »Geistes der Zeit« erschienen, und Stein, wahrscheinlich der einzige in Prag, war im Besitz der Druckbogen. Aus diesen las er mit gesteigertem Ausdruck die heftigsten Stellen laut vor, doch selten brachte er eine ganze Seite zu Ende, so stark ergriffen ihn Zorn und Freude und so heftig fühlte er den Drang, selber dazwischenzureden. »Seit Burke«, rief er aus, »ist nichts von so echter politischer Beredsamkeit erschienen, von so eindringlicher Wahrheit!« Diese Schreibart empfahl er mir zur Nachahmung. »Auf diesem Wege«, schrie er mich an, »mögen Sie sich versuchen, tatsächliche Wahrheit, nicht metaphysische Phrasen! Verstehen Sie mich, Herr Metaphysikus?« Durch was ich diesen Titel mir verdient haben mochte, weiß ich nicht, aber Stein bezeichnete mich noch in der Folge mehrmals so, und ich behielt davon lange Zeit eine Art Kriegsnamen,[416] der freilich nicht eben kriegerisch lautete. Doch meinte er es keineswegs übel mit mir. Er hielt mich unverbrüchlich der guten Sache zugetan und sprach Erwartungen aus, zu deren Erfüllung er mich nur stärker anspornen wollte. Schließlich meinte er, in einer Zeit, wo so viele Hunderttausende sich einander die Hälse zu brechen eben im Begriff wären, sei es besser, gar nicht zu schreiben, sondern selber mit loszuschlagen.

Während der Zusammenkunft der beiden Kaiser in Dresden war Stein doch besorgt, die Franzosen möchten seine Auslieferung fordern oder die österreichische Behörde, vielleicht um jenes zu vermeiden, ihn den Augen des Feindes in größere Ferne entrücken wollen. Diese Besorgnis mußte aufs höchste steigen, als er unerwartet von seiten des russischen Kaisers die Einladung empfing, ohne Säumnis nach Rußland zu kommen und dort eine bedeutende, zunächst auch für die deutschen Verhältnisse wichtige Wirksamkeit zu übernehmen. Stein war ohne viel Besinnen sogleich entschlossen; seine Familie sollte in Prag bleiben, er selbst machte sich reisefertig; aber die Sache hatte nicht ganz geheim bleiben können, und einige Tage gingen jedenfalls noch in unerläßlichen Anordnungen hin. Ängstlich blickten wir während dieser Tage nach Dresden hin, jeder Augenblick brachte Gefahr, das Vorhaben Steins konnte angezeigt werden, der Befehl, ihn zu verhaften, seiner Abreise zuvorkommen. Einmal in der Gewalt des Feindes, war sein Leben schwerlich zu retten. Stein selbst bestand diese Krisis mit voller Kenntnis der Gefahr, doch in unerschütterter Seelenstärke. Dabei verhehlte er sich nicht, welch zweifelhaften Schicksalen er entgegenging. Wurden die Russen überwunden, so war er für immer auch der letzten Zuflucht, die ihm in Deutschland noch geblieben war, beraubt, für immer von den heimatlichen Verhältnissen, Besitzungen, Hülfsmitteln, ja sogar von seiner Familie getrennt, und selbst Rußland vielleicht gewährte keine Freistätte mehr für ihn. Doch nichts änderte seinen Entschluß. »Wundern Sie[417] sich nicht«, sagte er zu einem Bekannten, der im Vertrauen war, »daß ich auf gut Glück, wie ein junger Mensch, eine neue ungewisse Bahn antrete! Wer sein Vaterland verloren hat, der ist notwendig ein Abenteurer. Ich habe keine Wahl; ich muß Freiheit und Vaterland am Ende der Welt suchen!« Um die Mitte des Mai reiste er ab. Als wir nach einiger Zeit hörten, er sei durch Mähren und Galizien glücklich nach Rußland gelangt, atmeten wir auf, denn noch immer hatten wir gefürchtet, noch unterweges möchte ein Unglück ihn anhalten. Seine Abreise machte einen ungeheuern Eindruck; daß man in Rußland an ihn gedacht hatte, gab einen hohen Begriff von der dortigen Einsicht und Umfassung, man sah in der russischen Sache nun auch die deutsche, sie war in Stein gleichsam anerkannt und einverleibt.

Die österreichischen Behörden hatten die Sache ruhig geschehen lassen; als in Dresden das Geschehene ruchbar wurde, ließ der französische Kaiser mehr Verwunderung als Verdruß darüber aus und tat verächtlich, als sei im Grunde nichts daran gelegen. Ein großer und verhängnisvoller Irrtum, der schwer zu büßen war! Steins Anwesenheit in St. Petersburg war ein außerordentliches Gewicht auf der russischen Seite; sein Ansehn und Einfluß wirkten auf die Beschlüsse des Kaisers, auf die Stimmung der höchsten Kreise und überhaupt auf die Maßregeln und Anstalten des Krieges mit unwiderstehlicher Gewalt. In den schlimmsten Augenblicken, als die Franzosen in Moskau eingezogen waren, wankte sein Mut und seine Stärke nicht. Sein beredter Haß fachte zum Widerstande, zur Ausdauer an. Unter den Mächten, durch welche Napoleon gestürzt worden, wird Stein immer in erster Reihe zu nennen sein.

Inzwischen erreichte die Zusammenkunft in Dresden ihr Ende; Napoleon eilte seinem schon an die Grenzen Rußlands vorgerückten Heere nach, und der Kaiser und die Kaiserin von Österreich nebst der Kaiserin der Franzosen kamen nach Prag, wo zu Ehren der geliebten Herrscher und des fremden hohen Gastes alles ein festliches Ansehen gewann[418] und der Krieg und alle politische Sorge und Befangenheit eine Zeitlang vergessen schien. Der Graf von Metternich strahlte in allen Vorzügen seiner Persönlichkeit, und während er mit hellem Blicke die großen Möglichkeiten, die sich für ganz Europa nunmehr aufschlössen, erfaßte und erwog, die Verbindungsfäden sorgsam in der Hand hielt und zurechtlegte, schien er nur mit heitern und angenehmen Dingen beschäftigt, nur bedacht, die Vorkommenheiten des Tages mit Würde und Anmut gelassen abzutun. Ich hatte das Glück, ihn fast jeden Tag zu sehen, und nie werd ich besonders die herrlichen Abende bei ihm auf dem Hradschin im Palaste des Fürsten von Lobkowitz vergessen, wo eine kleine Gesellschaft in völliger Unbefangenheit und Gleichheit, die selbst durch die Gegenwart des Großherzogs von Würzburg kaum gestört wurde, sich bis in späte Nacht der anmutigsten Unterhaltung erfreute und geistreiches Gespräch mit vortrefflicher Musik abwechselte. Der Kapellmeister Paër, zum Gefolge der Kaiserin Marie Luise gehörig, setzte sich zum Fortepiano und phantasierte; mit ihm wetteiferte der Freiherr von Krufft aus der österreichischen Staatskanzlei, der gleichfalls ein Meister war; bisweilen spielten sie beide zugleich und suchten durch zwiefaches Improvisieren ein Ganzes hervorzubringen, eine geniale Übung, wobei sie einander die Gedanken an den Augen absahen, aus ersten Andeutungen ganze Richtungen erraten mußten und durch Begegnen, Meiden, Einlenken, Wiederfinden, Loslassen und Zusammenstimmen eine gespannte Teilnahme und oft die außerordentlichste Wirkung hervorbrachten.

Die Teilnahme an solchen Vergnügungen hemmte jedoch den Fortgang der Entwürfe nicht, zu denen die Zeitumstände immer dringender aufriefen. Ich war entschlossen, den österreichischen Dienst zu verlassen, von Pfuel und Willisen wußte ich dasselbe, und wenn meine Lage und Verhältnisse mir den Weg nach Rußland für jetzt versperrten, so war auch Norddeutschland ein weites Feld, auf welchem, in möglichen Fällen, mancherlei zu unternehmen sein konnte.[419] Hierin bestärkte mich Grüner, der nach Steins Abreise etwas tätiger hervortrat, aber nun auch schon mehr Aufmerksamkeit weckte und sich beobachtet und gefährdet wußte. Er war in Berlin der Mittelpunkt weitverzweigter Verbindungen und als Leiter der hohen Polizei im Besitz großer Mittel und Kundschaften gewesen. Die gefährlichsten französischen Späher waren in seine Schlingen geraten und spurlos verschwunden; seine List wie seine Verwegenheit brachten den Franzosen großen Schaden, aber diese erkannten ihn längst für ihren Feind, und als, infolge des Anschlusses von Preußen an Frankreich, französische Truppen auf Berlin marschierten, durfte er deren Eintreffen nicht abwarten, legte sein Amt nieder und entwich nach Böhmen. Er stand mit den russischen Behörden in tätigem Vernehmen und hielt in ganz Deutschland seine gleichgesinnten Verbündeten rege. Sein großer, klug angelegter und bei seinen Hülfsmitteln gar nicht unausführbarer Plan war, im Rücken der französischen Heere, sobald diese weit genug in Rußland vorgedrungen wären, überall ihre Kriegsvorräte in Brand zu stecken, jede Nachfuhr zu hemmen, besonders aber die Pulverwagen auffliegen zu lassen. Daß er in Prag ungestört bleiben durfte, die gelungene Überkunft Steins und die günstige Stimmung, die er überall antraf, machten ihn aber allzu sicher, er prüfte nicht genug, wem er sein Vertrauen schenken dürfe, und besonders unvorsichtig war sein Briefwechsel. Das Beispiel Steins hätte ihn warnen sollen, allein er ging in Leichtsinn nur weiter. Er hielt seine Briefe noch für ganz sicher und ihre Geheimschrift für unentdeckt, als schon längst fremde Augen sie durchliefen, den Inhalt erforschten und den ganzen Zusammenhang einsahen. Vergeblich wurde er gewarnt, er glaubte seinen Beobachtern überlegen zu sein und ihnen, wie er sich ausdrückte, eine Nase gedreht zu haben. Eine Unterredung mit dem Grafen von Metternich, mehrere vertrauliche Besprechungen mit dem General Freiherrn von Koller, anstatt ihn zur Besonnenheit zurückzurufen, regten nur seinen Übermut an. Die[420] österreichische Regierung sah den Zeitpunkt kommen, wo sie ihn nicht mehr würde schützen können; die französischen Behörden in Berlin, in Hamburg hatten gegen ihn die schärfsten Angaben in Händen, jeden Augenblick mußte man erwarten, seine Auslieferung begehrt zu sehen, und mit so triftigen Gründen und gebieterischem Drange, daß man nicht würde widerstehen können. Um ihn zu retten und größeres Unglück zu verhüten, kam man den Franzosen zuvor, Gruner wurde unerwartet von österreichischer Seite verhaftet und als Staatsgefangener nach Peterwardein abgeführt; seine Papiere und Gelder entgingen auf diese Weise den Franzosen ebenfalls. Er selber hat in der Folge dies Begegnis als eine Wohltat anerkennen müssen, behielt aber doch eine bittre Erinnerung dabei, welche der erste Eindruck in ihm hinterlassen hatte.

Nachdem der König zum Gebrauch des Bades nach Teplitz abgegangen war, gedachten Willisen und ich nun auch ernstlich unsrer Abreise nach Berlin. Dabei stieg indes nunmehr manches Bedenken auf, an welches früher nicht gedacht worden war. Die Franzosen und ihre dienstbaren Helfer, deren es damals unter den Deutschen leider viele gab, waren endlich auf die Personen und Betreibungen, welche von Prag ausgingen, aufmerksam geworden, besonders beunruhigte sie der Kurfürst von Hessen-Kassel, der alles zu unterstützen bereit schien, was im nördlichen Deutschland gegen die Franzosen unternommen werden mochte. Die französische Heeresmacht verlor sich in immer größere Ferne, im Rücken lagen große Landstriche fast entblößt, der Einbruch einer kleinen feindlichen Schar konnte die größte Verwirrung anrichten. Man hatte die kühnen Züge Schills, des Herzogs von Braunschweig-Öls, den Streifzug des Lieutenants von Katt, den Aufruhrversuch des westfälischen Obersten von Dörnberg noch in gutem Andenken. Unter diesen Umständen wurden die französischen Gesandtschaften, die Polizei- und Kriegsbeamten zu größter Wachsamkeit und Strenge angewiesen; der Mittelpunkt aber aller[421] polizeilichen Aufsicht für das ganze nördliche Deutschland war der Graf d'Aubignose in Hamburg, mit welchem die Behörden in Dresden und Berlin fleißige Verbindung unterhielten.

Pfuel hatte sich zuerst aufgemacht und Prag verlassen. Sein Ziel war Rußland, aber der Weg, den Stein noch hatte nehmen können, war jetzt verschlossen, und ihm blieb nur der größere Umweg über Dänemark und Schweden. Wir reisten durch Sachsen, ohne uns aufzuhalten; der bekannte Weg war durch die Trägheit der Postillone doppelt langweilig.

Die preußische Hauptstadt war von französischen Truppen besetzt, und wir meldeten uns herkömmlich bei dem Marschall Augereau und bei dem Kommandanten General Durutte, gleicherweise bei der preußischen Behörde. Ungeachtet des guten Anscheins, mit dem wir aufgenommen wurden, bemerkten wir bald, daß man uns beobachtete, welches wir uns indes nicht besonders anfechten ließen. Nach einigen Wochen wollte Willisen seine Eltern bei Magdeburg besuchen, hatte aber kaum das westfälische Gebiet betreten, als er verhaftet und auf das Kastell nach Kassel abgeführt wurde. Nur dies erfuhr man über ihn und weiter nichts. Durch diesen Vorfall wurde natürlich auch meine Lage gespannter und bedenklicher, ich durfte nicht wagen, den Umkreis der Stadt zu überschreiten. Von den Kämpfen und Mißgeschicken, die ich hier zu bestehen hatte, den Hoffnungen und Aussichten, die sich abwechselnd erhellten und verdunkelten, werd ich vielleicht künftig eine Schilderung versuchen, die durch das Eigne einer solchen Übergangszeit wohl anziehend werden könnte. Ich erwähne hier nur, daß ich an dem Hause des österreichischen Gesandten Grafen Stephan von Zichy den sichersten Anhalt fand, bei dem Staatskanzler Freiherrn von Hardenberg die günstigste Aufnahme genoß, ja sogar von dem Grafen von Saint-Marsan durch Einladungen ausgezeichnet wurde. Doch ungeachtet alles guten Anscheins blieb ich in der schwierigsten und bedenklichsten Lage, gehemmt bei jedem Schritt,[422] in jeder Tätigkeit. Obgleich in glanzvoller Geselligkeit, verlebte ich einen traurigen Winter. Mein Trost war Rahel, in deren Nähe zu sein mir alle Widrigkeiten überwog. Ein andrer Trost erschien und bildete sich zu immer helleren Hoffnungen aus, da der Brand von Moskau kund wurde, die Siegesrufe der Franzosen verstummten, die Nachricht von ihrem Rückzug und Verderben erscholl und dieses endlich vor Augen erschien in den jammervollen Trümmern des großen Heeres. Die Russen rückten siegreich heran, überschritten die Oder und standen schnell vor Berlin, wo der Oberst von Tettenborn mit seinen Kosaken im ersten Anlaufe den Feind einige Stunden durch die Straßen jagte, nach wenigen Tagen aber die verstärkten russischen Truppen entschieden einrückten.

Aus peinlichem Zwang aufatmend, im vollen Gefühl der Freiheit und neuen Lebens eilte ich zu Tettenborn. Ich fand hier Pfuel als Major vom Generalstabe angestellt. Wir alle freuten uns des Wiedersehens. Mein Verhältnis war schnell entschieden, Tettenborn nahm mich sogleich als Hauptmann für den russischen Dienst in Anspruch und vertraute mir seine auf Hamburg gerichtete Unternehmung. Ich war zu allem bereit, aber ich war auch schon in preußischen Kriegsdienst berufen und hatte zunächst Depeschen der preußischen Behörde als Kurier nach Breslau zu überbringen, wo der König, der Staatskanzler und die übrigen Häupter der Geschäftsführung sich schon seit einiger Zeit aufhielten. Da die Sache der Russen und Preußen hier schon für ein und dieselbe erklärt war, so hatte mein Anliegen keine Schwierigkeit. Breslau war zum Kriegsherd geworden, alles flammte von Eifer; Waffen und Kampf war das allgemeine Verlangen. Auch von diesen Tagen wird künftig noch einiges Nähere zu berichten sein. Ich sah auch Stein hier wieder, zwar auf dem Krankenbette, aber auch krank noch in voller Kraft!

Ich eilte nach Berlin zurück und von da nach Hamburg, welches Tettenborn mittlerweile schon glücklich erreicht und besetzt hatte.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 413-423.
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