7.

[41] So entschlossen sich denn meine Eltern nach Ablauf eines Jahres, mich auf das Gymnasium nach Heidelberg zu bringen, um dort noch einmal und hoffentlich mit besserem Erfolg den Kursus eines Quartaners nach damaliger Zählung, die mit der untersten Klasse als der Prima anfing, durchzumachen. Diese Hoffnung erfüllte sich denn auch, wenngleich ich vorläufig noch für längere Zeit nach meinen Leistungen nur etwa in der Mitte der Klasse verweilte. Um so größer war im übrigen der Wechsel, den ich erlebte. Ich erledigte nun meine Aufgaben zusammen im gleichen Zimmer wie mein Bruder und mein Vetter, die beide sehr fleißige Studenten waren und eine gewisse Kontrolle über mich ausübten, so daß die übermäßigen Phantasiespiele ein Ende nahmen. Wichtiger noch war aber der Wechsel meiner sonstigen Lebensführung. Ich hörte auf, der schüchterne und verängstigte Knabe zu sein, der ich in Bruchsal gewesen. Ich gewann zahlreiche Schulfreunde, mit denen ich mich in Stadt und Umgebung herumtrieb. Ich selbst[41] fühlte mich wie neugeboren, und als ein früherer Mitschüler aus Bruchsal später an das Heidelberger Gymnasium übersiedelte, versicherte er mir erstaunt, ich sei ein völlig anderer geworden als ehedem.

Das alte Heidelberger Gymnasium war keineswegs eine Musteranstalt. Es litt vor allem an dem Übelstand, daß die Lehrer eigentlich keine Lehrer von Beruf und demnach, wie dies heute zu sein pflegt, für bestimmte Fächer speziell vorbereitet, sondern, wie einer dieser Lehrer selbst das rühmend hervorzuheben pflegte, »für alle Sättel gerecht waren«. Es konnte vorkommen, daß derjenige, der bis dahin in philologischen Fächern unterrichtet hatte, plötzlich Naturwissenschaften übernahm, ohne sich mit diesen irgendwie eingehender beschäftigt zu haben. Besonders für die Klassenlehrer bestand noch die Einrichtung, daß sie einen großen Teil der Lehrfächer der betreffenden Klasse verwalteten, gleichgültig ob diese ihrem eigenen Studienfach entsprachen oder nicht, und dabei konnte es denn natürlich auch leicht geschehen, daß sie selbst eigentlich in keinem Gebiet gründlich zu Hause waren. Ich habe den Eindruck, als wenn dieser Übelstand sogar an dem protestantischen Gymnasium fühlbarer gewesen wäre als an dem katholischen. Dies mochte wohl damit zusammenhängen, daß namentlich in Süddeutschland das Beispiel Friedrich August Wolfs, der sich selbst als der erste schon auf der Universität einen Studiosus philologiae genannt, noch weit weniger als im Norden Nachfolge gefunden hatte, sondern daß die Gymnasiallehrer im allgemeinen aus der Theologie zum Lehrerberuf übergetreten waren und nur für die Realfächer, wie Mathematik oder auch Naturwissenschaften gelegentlich tüchtigere Schul- oder Seminarlehrer ergänzend zur Seite hatten. Dabei fügte es sich nun leicht, daß die aus der Theologie zum Gymnasium übergegangenen Lehrer sich nicht durch besondere[42] pädagogische Talente, sondern eher durch die Abwesenheit solcher auszeichneten. Inwiefern dies mit dem Fachwechsel zusammenhing, vermag ich um so weniger zu sagen, als die Seltsamkeiten dieser Lehrer nach den verschiedensten Richtungen gingen. So sind mir namentlich drei jetzt längst verstorbene und im ganzen damals schon einer älteren Generation angehörige Lehrer in Erinnerung, von denen jeder ein Original war. Der eine dieser trefflichen Männer hatte die Gewohnheit, die Schule regelmäßig über seine eigenen häuslichen Angelegenheiten zu unterhalten, mochten es nun kleine häusliche Zwiste sein oder Äußerungen über die Mitglieder seiner Familie, die den Inhalt solcher Mitteilungen bildeten. Ein zweiter blieb die ganze Stunde auf dem Katheder sitzen, so daß nun den Schülern überlassen blieb, wo immer der Sehbereich des Katheders nicht zureichte, zu tun, was ihnen beliebte. Ein dritter litt an abnormer Zerstreutheit und hatte daher die Gewohnheit angenommen, Aufgaben abzuhören, während er selbst ganz in seine eigenen Gedanken vertieft war, so daß der Schüler statt der fünfzig Homerverse, die er aus dem Gedächtnis rezitieren sollte, sich etwa mit fünf begnügen konnte, die er unaufhörlich nacheinander wiederholte, usw. Daß ein derartiger Unterricht für eine nicht geringe Zahl von Schülern einer Erziehung zum Nichtstun gleichkam, ist einleuchtend.

Natürlich hat es auch in diesen, wie man sie wohl nennen kann, verwilderten Zuständen des Gymnasiums nicht an Lehrern gefehlt, die auf die fähigeren Schüler fördernd zu wirken wußten, und auch nicht an Schülern, die aus eigenem Interesse vorwärtsstrebten. Ich darf mich leider nicht zu den letzteren rechnen. Denn als eine vollgültige Probe darf man es nach meiner Beobachtung eigentlich nur ansehen, wenn der Schüler auch bei einem untauglichen Lehrer etwas lernt, und ich erinnere mich einiger Mitschüler, für die das[43] unbedingt zutraf. Vielleicht war es meine eigene Neigung zur Zerstreutheit, die mich von vornherein von dem Kreis dieser Auserlesenen schied. Dagegen entsinne ich mich zweier Männer, die von dem Augenblick an, wo ich mit ihnen bekannt wurde, mein Interesse erregten, und die ich denn auch zeitlebens als Lehrer zu schätzen wußte. Der eine war ein jetzt aus der Literatur verschwundener Philologe, Sebastian Feldbausch, der zwei zu seiner Zeit brauchbare grammatische Lehrbücher, eine griechische und eine lateinische Grammatik, geschrieben hat, und an dessen Stunden über Homer und Herodot ich mich noch heute mit Genuß erinnere. Der zweite war ein später wegen seiner umfassenden Gelehrsamkeit berühmt gewordener Orientalist, Bernhard Jülg, dem ich, wie ich wohl sagen kann, die erste Anregung zu sprachlichen und philologischen Studien, so weit ich mich solcher rühmen darf, zu verdanken habe. Er ist im badischen Schwarzwald 1825 geboren, und war in den Jahren 1848 bis 51, gerade in den letzten Jahren meiner Gymnasialzeit am Heidelberger Gymnasium als beginnender Lehrer angestellt. Neben dem Mongolischen und verwandten Sprachen hat er besonders vergleichend linguistische Studien gepflegt, unter denen seine Vergleichung der mongolischen und der griechischen Heldensage sowie seine Sammlung mongolischer Märchen bekannt sind. Diesen Arbeiten verdankte er schon im selben Jahr 1851, in dem ich zur Universität abging, eine Berufung an die Universität Lemberg, der dann solche nach Krakau und Innsbruck gefolgt sind. Den Wert seiner Arbeiten bezeugt die Tatsache, daß die Berliner Königliche Bibliothek nach seinem im Jahre 1886 erfolgten Tod seinen literarischen Nachlaß erworben hat. Von diesen Arbeiten Jülgs wußte ich natürlich noch nichts, als ich seinen Unterricht genoß, auch sind sie zumeist später erschienen. Vielmehr waren es die seinen eigenen Forschungsgebieten ferner liegenden Stunden über die deutsche[44] Literatur, denen ich wohl meine dauerndste Anregung verdanke. Gerade diese Stunden waren so ganz anders als alles was sonst das Gymnasium zu bieten hatte, daß ich sie vor andern bleibend im Gedächtnis bewahrt habe. Zum Teil lag es vielleicht auch daran, daß in diesem Fall Lehrer und Schüler gewissermaßen gemeinsam gearbeitet haben. Wenn mich jener mit Gebieten unserer Literatur bekannt machte, die mir trotz eifrig gepflegter Lektüre bis dahin fremd geblieben waren, oder deren Wert ich nur unvollkommen zu schätzen gewußt hatte, so ließ er unter meinen Arbeiten die deutschen Aufsätze, die er gelegentlich als Musterbeispiele der Klasse vorlas, am meisten gelten, wogegen die Mängel meines vorangegangenen Unterrichts in den klassischen Sprachen auch in seinem Urteil noch längere Zeit fühlbar blieben.

So habe ich denn schon aus diesen Erfahrungen den Eindruck gewonnen, daß der Satz, der wohl als allgemein zugestanden für den Universitätslehrer gelten darf, seine Aufgabe sei es, Lehrer und Forscher zugleich zu sein, bis zu einem gewissen Grade für den Lehrer überhaupt und besonders auch für den Gymnasiallehrer gilt. Er bedarf des lebendigen, durch seine aktive Teilnahme an der wissenschaftlichen Arbeit fortwährend erneuten Interesses an dem Gegenstand, um dieses hinwiederum auf seine Schüler übertragen zu können. Dabei kommt es nicht unbedingt darauf an, daß es die Gegenstände seiner eigenen selbständigen Arbeit sind, deren Mitteilung ihm obliegt, sondern dieses Interesse überträgt sich bis zu einem gewissen Grade von selbst von einem Gegenstand auf den andern. Freilich gehört dazu, daß der Lehrer ein über sein eigenes Fach hinausreichendes Interesse besitzt, und es läßt sich nicht leugnen, daß dies nicht nur von der allgemeinen Bildung des Lehrers, sondern wohl auch von dem Gebiet abhängt, dem seine wissenschaftliche[45] Arbeit und demzufolge in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen sein Talent vorzugsweise zugewandt ist. Hier stehen eben eigenes Talent und Fähigkeit der Lehre in Korrelation zu einander.

Die Fähigkeit in einer Wissenschaft oder Kunst Tüchtiges zu leisten erweckt stets zugleich die Neigung, sich in ihr zu betätigen, und sie tut dies trotz obwaltender Hindernisse. Umgekehrt pflegt die Unfähigkeit der Leistung wohl allzu leicht die Meinung zu erwecken, jede tatsächliche Unfähigkeit beruhe auf einem Mangel an Talent, während sie häufiger als man meint, auf äußere Hemmungen oder auf einen Mangel an äußerer Anregung zurückgeht. Besonders der Mangel an mathematischer Begabung pflegt auf eine solche Abwesenheit des natürlichen Talentes sowohl von denen, die sich desselben anklagen, wie von andern zurückgeführt zu werden. Wahrscheinlich bedarf es aber nur eines ungewöhnlich hohen Grades natürlicher Begabung, um diese entgegen äußeren Hindernissen, wie dies gerade von hervorragenden Mathematikern bekannt ist, durch eine in diesem Fall einsetzende Selbsterziehung und einen damit sich verbindenden Selbstunterricht zu hohen Leistungen zu befähigen. Ich erinnere mich, daß Helmholtz, gewiß in dieser Frage ein Sachverständiger ersten Ranges, in einer Unterredung über diesen Gegenstand später einmal bemerkt hat, ein zureichender mathematischer Unterricht vermöge jeden Schüler zu mathematischen Leistungen heranzubilden, aber an einem solchen durch Seminarübungen unterstützten Unterricht fehle es häufig. Ich kann dies aus eigener Erfahrung nicht in vollem Umfang bestätigen, weil ich einen eigentlichen Seminarunterricht niemals genossen habe; aber daß man einigermaßen selbst bei mäßiger mathematischer Begabung auch auf diesem Gebiet Versäumtes ohne solche äußere Hilfe nachholen kann, glaube ich allerdings[46] aus meiner persönlichen Erfahrung behaupten zu können. Daß es verhältnismäßig selten geschieht, das beruht aber, wie ich glaube, darauf, daß gewohnheitsmäßig der Unterricht in der Mathematik von frühe an in den Händen von Lehrern liegt, denen es an mathematischer Begabung nicht fehlt, weil in dieser Beziehung die Schule selbst in höherem Grade als in andern Fächern einen Schutz gegen die Talentlosigkeit gewährt. Selten nur wird jemand, der nicht über einen gewissen Grad mathematischer Begabung verfügt, es wagen, als Lehrer in diesem Fach aufzutreten, während sich von einem Lehrer der Philologie, Geschichte, Jurisprudenz und anderer Wissenschaften, besonders solcher, zu denen das Gymnasium gar keine Vorbereitung liefert, nicht das gleiche sagen läßt. Hier geht der Studierende bei der Wahl seines Faches meist ebenso einer ihm unbekannten Zukunft der Leistungen entgegen, wie die Gesellschaft oder der Staat, für die er künftig zu wirken hat, in ihm eine unbekannte und möglicherweise untaugliche künftige Kraft empfängt. Das ist natürlich auch bei den auf Antrieb eines bestimmten Talentes gewählten Fächern nicht ausgeschlossen; immerhin bietet das Talent eine relative, wenn auch keine absolute Gewähr gegen eine völlig mißglückende Wahl.

Diese Verhältnisse bringen es nun aber auch leicht mit sich, daß die Regel, nach der Forscher und Lehrer Fähigkeiten sind, die insofern zusammengehören, als in irgendeinem Grade die Eigenschaft des Forschers dem tüchtigen Lehrer nicht fehlen darf, doch selbstverständlich von der andern durchkreuzt werden kann, nach der die Hingabe an ein bestimmtes Arbeitsgebiet Leistungen, die nach einer anderen Richtung liegen, hindert oder auch ganz verkümmern läßt. Insbesondere geschieht das naturgemäß da, wo es an Beziehungen fehlt, die die verschiedenen Gebiete aufeinander[47] hinweisen. Das trifft aber vor allem für viele sogenannte Geisteswissenschaften zu, während der Naturforscher meist von Hause aus einer gewissen mathematischen Beihilfe nicht entraten kann, mag diese nur beschränkten Umfangs sein, wie in den deskriptiven Gebieten, oder relativ hohe Anforderungen stellen, wie in der theoretischen Physik. Damit hängt es offenbar zusammen, daß jene Gattung von Lehrern, bei denen im Gegensatz zu der obigen Regel die Fähigkeit der eigenen Forschung derjenigen der Mitteilung an andere im Wege steht am häufigsten, wie ich beobachtet zu haben glaube, bei Mathematikern vorkommt, wobei dann noch als begünstigendes Motiv dieses hinzutritt und noch mehr in älterer Zeit hinzutrat, daß die Gegenstände des mathematischen Schulunterrichts weit unter dem Niveau der Gegenstände der gegenwärtigen mathematischen Forschung zu liegen pflegen. So kann es kommen, daß hier bei dem künftigen Juristen, Theologen, Historiker usw. ein Minimum des Interesses für die Mathematik den Lehrer gleichgültig läßt, und daß sich sein Interesse auf die wenigen Schüler konzentriert, die durch eine besondere mathematische Begabung sich auszeichnen. So gehörte denn auch ich auf der Schule zu den vom Mathematiklehrer Vernachlässigten, die auf dem philologischen Gymnasium älteren Stils durchweg die Majorität bildeten, und ich kann das Urteil von Helmholtz, daß die Schuld dieses Mißerfolgs viel mehr auf der Seite der Lehrer wie der Schüler liege, bestätigen, insofern ich später, nachdem ich auf der Universität die Notwendigkeit eines einigermaßen zureichenden mathematischen Wissens für meine künftigen Studien eingesehen hatte, ungefähr innerhalb eines Jahres das Versäumte nachholte. Allerdings mußte ich dabei zugleich zu meinem Bedauern beobachten, daß solche zu spät erworbene Kenntnisse auch meist zu früh wieder vergessen werden, so daß sie nicht selten einer mehrmaligen Wiederholung bedürfen.[48]

Quelle:
Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 41-49.
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