[149] Die Universität Heidelberg war zur Zeit meiner Habilitation als Privatdozent der Medizin nach meinen Eindrücken eines der glücklichsten Asyle für einen beginnenden akademischen Lehrer. Nicht als ob sie eine Stätte gewesen wäre, wo sich dieser einer besonderen Liebe und Förderung hätte rühmen dürfen, sondern im Gegenteil, sie war es, weil sie wirklich ein Asyl war, eine Stätte der Zurückgezogenheit und stillen Arbeit, in der ihn niemand störte, da sich von den maßgebenden Persönlichkeiten der Universität und der Staatsverwaltung niemand um ihn kümmerte, während er doch unter seinen Genossen der gleichen und anderer Fakultäten den mannigfaltigsten anregenden Verkehr finden konnte. Das Personal der Universität zerfiel, wenn man es nicht nach Fakultäten, sondern nach dem allgemeinen Ansehen geordnet denkt, dessen sich die einzelnen erfreuten, im wesentlichen in drei Gruppen. Die erste umfaßte die Alten, die entweder ganz Ausgedienten oder zwar noch Aktiven, aber doch wenig mehr Beachteten, die ein seit langer Zeit mitgeführtes Bestandstück der Alma Mater bildeten. Es umfaßte unterschiedslos Männer von verdientem Ruf und mehr oder weniger unbedeutende oder außer Mode gekommene[149] Persönlichkeiten, die übrigens meist der Kategorie der Ordinarien angehörten. Die zweite Gruppe wurde von den dominierenden Persönlichkeiten gebildet. Sie enthielt diejenigen, denen die Universität ihren augenblicklichen Ruhm verdankte. Das waren in erster Linie die großen Lehrer und die großen Naturforscher. Unter den Lehrern war es im Hinblick auf die Bedeutung der Juristenfakultät für den Zuzug auswärtiger Studierender der Pandektist, der seit den Tagen des berühmten Thibaut bis auf den zu meiner Zeit wirkenden Vangerow an erster Stelle stand. Neben ihm ragte unter den Historikern während vieler Jahre Ludwig Häußer hervor, der glänzendste Redner, den ich je in meinem Leben gehört habe. Sie wurden vom Ende der fünfziger Jahre an überstrahlt durch die großen Naturforscher Bunsen, Kirchhoff, Helmholtz, an die sich einige minder berühmte, aber durch den geselligen Verkehr, den sie mit jenem Dreigestirn pflegten, ausgezeichnete Professoren anschlossen. Die von Bunsen und Kirchhoff geschaffene Spektralanalyse zog in diesen Jahren zahlreiche Ausländer, namentlich englische Gelehrte und Studierende, herbei. Ein nicht zu unterschätzender Bestandteil der die herrschende Gruppe konstituierenden Professoren war endlich der Kliniker, falls er, wie dies meistens geschah, neben seinem klinischen Lehrberuf eine ausgebreitete Privatpraxis innerhalb und außerhalb der Stadt betrieb. Wo er sich, wie dies mein Lehrer Hasse tat, von der Privatpraxis zurückhielt, da führte er meist ein dem größeren Publikum verborgenes Dasein. Ein charakteristisches Zeugnis für die Rolle, die im öffentlichen Leben die zugleich als Ärzte tätigen Kliniker spielten, war es dagegen, daß eines Tages, als die Berufung eines solchen nach auswärts die Universität bedrohte, eine feierliche Deputation der Heidelberger Hotelwirte bei dem Ministerium in Karlsruhe vorstellig wurde. Die dritte[150] Gruppe der Dozenten wurde durch die in Heidelberg sehr zahlreichen Privatdozenten und jüngeren Extraordinarien gebildet, von denen sich die letzteren meist nur des Titels erfreuten, dabei aber auch von bestimmten Lehrverpflichtungen frei waren. Ihnen konnten noch einige ältere Extraordinarien zugezählt werden, die ebenfalls außerhalb des eigentlichen Lehrkörpers standen, aber diese Stellung als ein schweres Unrecht empfanden, das sie zu bleibenden Gegnern der bestehenden akademischen Ordnung machte. Wenn es je einmal vorkam – was sehr selten geschah – daß sich die Privatdozenten zur Erringung etwas größerer Rechte zusammentaten, so ermangelte dieses Korps der Unzufriedenen nicht, sich ihnen anzuschließen, und die jüngere Dozentenschaft pflegte ihnen dann viel zu gemäßigt in ihren Forderungen zu sein. Besonders einige Schüler des bekannten Philosophen Christian Krause, des lebenslänglichen Privatdozenten an verschiedenen Hochschulen, die in Heidelberg hängen geblieben waren, gehörten zu diesen Radikalen.
Zwischen den meisten Mitgliedern dieser dritten Dozentenklasse herrschte eine lebhafte Geselligkeit, durch die sie sich wieder in mehrere Untergruppen teilte. Ich selbst gehörte einem solchen zwanglosen Verein von zehn bis zwölf Mitgliedern aller Fakultäten an, der seinen gemischten Charakter schon darin bekundete, daß er besonders aus Theologen und Naturforschern zusammengesetzt war. Zu ihm gehörten jahrelang meine speziellen Freunde Holtzmann und Hausrath, außerdem Emil Erlenmeyer, der Chemiker, Wilhelm Ahles, der Botaniker, Friedrich Eisenlohr, der Physiker, August Eisenlohr, der Ägyptologe, u.a. Auch einige nicht offiziell zur Universität gehörige Privatgelehrte, die durch in Heidelberg lebende berühmte Schriftsteller hierher gezogen waren, können als sporadische Teilnehmer dazu gezählt werden: so der bekannte Orientalist Martin Haug und der spätere[151] Bonner Semitologe Camphausen, die Josias Bunsen bei seinem damals erscheinenden Bibelwerk unterstützten, ferner Siegfried Brie, der nun seit langen Jahren der juristischen Fakultät in Breslau angehört. Er stand damals Gervinus bei der Sammlung der Materialien zu seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts zur Seite und habilitierte sich zugleich bei der Heidelberger Juristenfakultät. Natürlich hatten sich zwischen einzelnen Mitgliedern dieser Vereinigung nähere Freundschaften gebildet. Eine solche verband mich, bis in die Zeit vor meiner Habilitation zurückgehend, besonders mit Holtzmann und Hausrath, mit denen ich mich gar mancher Wanderungen in Heidelbergs Umgebung erinnere. Später, als Holtzmann während einiger Zeit eine praktische Stellung in Badenweiler angetreten hatte, gab es einen Winter, in welchem ich mit Hausrath allein fast Tag für Tag um dieselbe Nachmittagsstunde im Lesezimmer des Museums zusammentraf, um den gleichen Bergspaziergang zu machen, an den unmittelbar meine Abendvorlesung über Anthropologie sich anschloß. In der letzten Heidelberger Zeit, in der Hausrath als Oberkirchenrat in Karlsruhe lebte, war in ähnlicher Weise Brie mein täglicher Begleiter.
War es ein an geselligem Verkehr reiches und geistig angeregtes Leben, dessen sich der Heidelberger Privatdozent in diesen Jahrzehnten nach der Mitte des Jahrhunderts erfreute, so konnte er sich dagegen nicht sonderlich wegen Überlastung durch Vorlesungen beschweren, und weitere akademische Pflichten gab es für ihn überhaupt nicht. Der Heidelberger Student pflegte nur die offiziellen Kollegia der Ordinarien zu besuchen, mit Ausnahme etwa einiger Nebenfächer, die für irgendein Examen vorgeschrieben waren. Auch ich fand, abgesehen von meiner ersten, infolge meiner Erkrankung mißglückten Vorlesung über Physiologie während[152] einiger Jahre keine Gelegenheit, durch eine nicht bloß angekündigte, sondern wirklich gehaltene Vorlesung der Welt meine Befähigung zum Dozenten darzutun. Dennoch hatte ich mich sehr bald nach meiner Habilitation einer Pflicht unterzogen, die ich im Verlauf der nächsten Jahre als eine nicht unerhebliche Last empfand. Als Helmholtz im Frühjahr 1858 als Physiologe nach Heidelberg berufen worden war, meldete ich mich für die Assistentenstelle, die bei dem für ihn eingerichteten physiologischen Institut notwendig wurde und erhielt diese Stelle. Aber mit den Pflichten, die ich als Assistent übernehmen sollte, hatte es seine eigentümliche Bewandtnis. Weder ich noch, wie ich glaube, der neue Direktor wußte eigentlich, was ich als Assistent tun sollte. Am nächsten lag es ja, an eine Assistenz bei der Vorlesung zu denken. Aber der Demonstrationen, für die ohnehin Helmholtz meist keiner Hilfe bedurfte, und vollends der Experimente gab es nur wenige; eine zureichende Beschäftigung ließ sich daher daraus nicht gewinnen. Helmholtz deutete mir an, es sei vielleicht nützlich, wenn ich mich mit mikroskopischen Arbeiten beschäftigte, die ihm ferne lagen, und in diese etwa auch die Studierenden einführte. Leider lagen sie mir aber ebenfalls fern. Es fehlte mir durchaus die notwendige Übung, die auch für dieses Gebiet unentbehrlich ist, und meine Interessen gingen nach ganz anderen Richtungen: neben der Elektrophysiologie war es die Sinnesphysiologie, die mich in jenen Tagen lebhaft in Anspruch nahm, und es war nicht gerade glücklich, daß das im wesentlichen dieselben Gebiete waren, in denen in dieser Zeit auch Helmholtz arbeitete, der nach der ganzen Art seiner Arbeiten eine Assistenz bei denselben weder bedurfte noch wünschte. Aus dieser Verlegenheit half die badische Unterrichtsverwaltung in Karlsruhe. Sie hatte jährlich große Summen für chemische Laboratorien aufzubringen, nicht[153] minder solche für physikalische und sonstige Institute der höheren Lehranstalten, und dieser Aufwand war überall an die Vorschrift gebunden, daß die betreffenden Studierenden diese Laboratorien während einiger Semester besuchten. Man hielt es daher in Karlsruhe für unbedingt geboten, daß ein so berühmter Physiologe wie Helmholtz ebenfalls sein Laboratorium erhalte, und zu diesem Zweck wurde nun plötzlich die Vorschrift erlassen, jeder Mediziner müsse künftig, um zum Staatsexamen zugelassen zu werden, das physiologische Laboratorium mindestens ein Semester lang besucht haben. Damit war in der Tat für den Assistenten reichliche Arbeit geschaffen, denn es strömte nun die ganze medizinische Fakultät von den Ältesten bis zu den Jüngsten mit einem Male herbei, um ein Praktikum der Physiologie zu nehmen, dessen Erteilung natürlich hauptsächlich die Aufgabe des Assistenten war. Freilich hatte sich die Behörde in Karlsruhe schwerlich die Frage vorgelegt, wie ein solches Praktikum beschaffen sein solle, und noch weniger, welchen Nutzen es etwa für die künftigen praktischen Ärzte habe, wenn diese lernten, die bekannten Experimente über das Zuckungsgesetz an Froschmuskeln anzustellen, Durchschneidungen einiger oberflächlich gelegener Nerven auszuführen, ein paar künstliche Verdauungsversuche zu machen usw. In der Tat stellte sich die Überzeugung von der Nutzlosigkeit dieser Kurse sehr bald ein, ihr Besuch ließ daher allmählich nach, und ich selbst konnte mich der Erkenntnis nicht verschließen, daß die Einübung dieser doch eigentlich nur für den Physiologen bestimmten Experimente ein ziemlich überflüssiges Bemühen sei und dafür während der langen Vormittage von 8 bis 12 Uhr eine unverhältnismäßige Zeit in Anspruch nehme. Nachdem ich diese Kurse während einiger Jahre geleitet hatte, entschloß ich mich daher, meine Assistentenstelle aufzugeben und in den Kreis der von Lehrpflichten[154] völlig befreiten Privatdozenten zurückzukehren1. Ich richtete mir in meiner Wohnung einige Zimmer als kleines physiologisches Institut für die Ausführung meiner eigenen Arbeiten ein und entschloß mich, einige physiologische Lehrbücher zu schreiben, um den Ausfall des kleinen Gehalts zu kompensieren, dessen ich mit der Niederlegung der Assistentenstelle verlustig ging. So ist mein »Lehrbuch der Physiologie des Menschen« und mein »Handbuch der medizinischen Physik« entstanden.
1 | Vor einigen Jahren hat ein bekannter amerikanischer Pädagoge eine Biographie von mir erscheinen lassen, die von Anfang bis zu Ende erfunden ist. Eines der schönsten Stücke dieser erdichteten Biographie besteht in der Erzählung, ich sei von Helmholtz zum Assistenten gewählt worden, um ihn in seinen mathematischen Arbeiten zu unterstützen, dann aber, weil dazu meine mathematischen Kenntnisse nicht zureichend gewesen seien, von ihm wieder entlassen worden. Als ich einem deutschen Mathematiker dies erzählte, brach er über die Vorstellung, Helmholtz habe sich einen Assistenten gehalten, um seine mathematischen Arbeiten anfertigen zu lassen, in ein homerisches Gelächter aus. Sie entspricht dem Charakter von Helmholtz genau ebenso wie der Originalität der Arbeiten dieses großen Mathematikers. |
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