34.

[260] Im Sommersemester 1875 hielt ich in Zürich zwei größere Vorlesungen nebeneinander: die Logik in vier, die Völkerpsychologie in drei wöchentlichen Stunden, beide zum ersten Male. Daß eine erstmalige akademische Vorlesung eine ungewöhnliche Sorgfalt der Vorbereitung erfordert, ist eine geläufige Erfahrung. Aber der Umstand, daß ich bisher in Heidelberg nur kürzere, meist ein- oder zweistündige Vorlesungen gehalten hatte, scheint für mich doch damals ein das gewöhnliche Maß noch erheblich überschreitendes Motiv der Sorgfalt gewesen zu sein. Ich habe mich davon erst vor kurzem wieder durch die Auffindung zweier sehr umfangreicher Kollegienhefte überzeugt, in welchen der Inhalt dieser beiden Vorlesungen wörtlich von mir ausgearbeitet ist, und die ich in der langen Zeit von ungefähr 45 Jahren, die seitdem verflossen ist, bis zu dieser ihrer Neuentdeckung vollständig vergessen hatte. Ich habe später nur noch einmal eine solche wörtliche Ausarbeitung vorgenommen; das geschah unmittelbar nachher im folgenden Winter in Leipzig bei einer einstündigen Vorlesung über die Psychologie der Sprache. Sie war aber nur eine Umarbeitung des ersten Kapitels der im Sommer zuvor gelesenen Völkerpsychologie. Alle diese Hefte waren übrigens häusliche Arbeiten, die das Auditorium niemals gesehen haben, da ich mich in diesem stets auf die Benutzung kurzer Dispositionen beschränkte. Auch machen die sämtlichen hier genannten Hefte den Eindruck, daß sie in diesem Umfang überhaupt nicht gehalten[260] werden konnten, weil dazu die Zeit des mündlichen Vortrags nicht ausgereicht haben würde.

Nun war es mir, wie oben bemerkt, in diesem Fall nicht zum wenigsten darauf angekommen, beide Gebiete in den übereinstimmenden wie in den unterscheidenden Ergebnissen der Untersuchung miteinander zu vergleichen, um zu erproben, inwieweit psychologische Gesichtspunkte auf die Logik und ebenso logische auf die Psychologie bei den verwickelteren, in der Völkerpsychologie betrachteten Geistesfunktionen bestimmte Einflüsse ausüben könnten. Wenn ich nun nach beinahe einem halben Jahrhundert von meinem heutigen Standpunkte aus auf Grund einer neuen Lektüre dieser Niederschriften ein Urteil aussprechen darf, so ist das Ergebnis bei jedem der beiden Gebiete ein sehr verschiedenes. Die Ausarbeitung der Völkerpsychologie fiel in eine Zeit, in welcher diese und ganz besonders die schon in Zürich den größten Teil des Semesters ausfüllende Psychologie der Sprache einer tiefgreifenden Umwandlung entgegenging. Es war die Zeit, in welcher im wesentlichen noch im Gebiet der Lautgeschichte wie des Wort- und Satzbaues jetzt verlassene Anschauungen herrschend waren. Insbesondere waren es August Schleicher und Georg Curtius, die als Führer der indogermanistischen Studien betrachtet werden konnten. Neben ihnen spielten höchstens noch der von mir damals viel benutzte A. F. Pott und in der ersten Auflage seines indogermanischen Wörterbuchs August Fick eine Rolle. Unter ihnen allen war es namentlich Schleicher, der durch sein eminentes Talent systematischer Darstellung den Leser gefangen nahm. So lagen denn schon in der fast völligen Beschränkung auf das indogermanistische Sprachgebiet und noch mehr in der kritischen Lage, in der sich die Sprachwissenschaft befand, Mängel, die der psychologischen Bearbeitung Schwierigkeiten bereiteten.[261]

Dennoch gab es einen Punkt in dieser älteren sprachwissenschaftlichen Literatur, der eine gewisse anregende Wirkung ausüben konnte. Dieser bestand in der Frage der psychologischen Methode. Zu psychologischen Interpretationen der Erscheinungen sahen sich natürlich schon damals die Sprachforscher gedrängt, und besonders die Gebiete der Laut- und der Bedeutungsgeschichte boten ein weites Feld, auf dem sich diese Interpretationen bewegten. Trat man ihnen aber näher, so mußte sich nur zu bald herausstellen, daß von einer irgendwie festgehaltenen Methode hier eigentlich nirgends die Rede war. Das fiel mir namentlich in der Leipziger Wiederholung der Vorlesung über die Sprache in zunehmendem Grade auf. Es ergab sich, wenn man die Erklärungen der Sprachforscher vom psychologischen Standpunkte aus näher prüfte, unabweislich, daß sie im ganzen völlig planlos entstanden waren, so daß es vorkommen konnte, für eine und dieselbe Erscheinung zwei entgegengesetzte Ursachen oder umgekehrt für entgegengesetzte Erscheinungen eine und dieselbe Ursache angeführt zu finden. So sollte die Bequemlichkeit der Artikulation bald die Unterdrückung, bald die Amplifikation der Laute oder abwechselnd Assimilationen und Dissimilationen herbeiführen können. Neben der Bequemlichkeit sollte dann aber auch gelegentlich das Streben nach Deutlichkeit maßgebend sein. Waren es bei den Lautveränderungen auf diese Weise Motive einer oberflächlichen Popularpsychologie, so wurden innerhalb der Bedeutungsgeschichte in der Regel die nächstliegenden logischen Kategorien, wie Verengerung und Erweiterung oder auch Verschiebung der Begriffe benutzt, um unter ihnen die verschiedenen Formen des Begriffswandels unterzubringen. Oder es wurde wohl auch geradezu eine tatsächliche Veränderung in einen in der Sprache selbst gelegenen Trieb umgesetzt. So beschäftigten sich z.B. ganze Abhandlungen[262] mit der Herabsetzung oder umgekehrt mit der Steigerung der Begriffswerte; ja wir besitzen eine Arbeit, die in dieser Beziehung der Sprache geradezu einen ihr angeborenen Pessimismus zuschreibt und für diese Behauptung in der Tat eine Menge von Beispielen beizubringen weiß. Als ich die Vorlesungen hielt, erschien mir die ablehnende Kritik dieser Interpretationen zunächst ebenso selbstverständlich wie die Polemik gegen die Versuche der englischen Logiker, auf die ihnen geläufigen sogenannten Assoziationsgesetze der Vorstellungen die sprachlichen Erscheinungen zurückzuführen. Die umgearbeitete Wiederholung in Leipzig hat es mir vollends klar zum Bewußtsein gebracht, daß sich damit von psychologischer Seite aus Gesichtspunkte gegen den geläufigen Betrieb der Sprachwissenschaft erhoben, die mit den inneren Reformen, denen diese in derselben Zeit entgegenging, zusammentrafen. Darum ist es mir als ein besonders erfreuliches Erlebnis in Erinnerung geblieben, daß der hervorragendste Vertreter der neuen linguistischen Richtung, August Leskien, mir eines Tages aus Anlaß jenes einstündigen Publikums über die Sprache seine Befriedigung darüber ausdrückte, daß nun doch auch die Psychologie von ihrer Seite aus mit dem in die vergleichende Sprachwissenschaft herübergenommenen Schlendrian der alten Grammatiker aufzuräumen suche. Wohl war ich mir bewußt, daß hier nur von einem höchst bescheidenen Beitrag zu der umfassenden Arbeit, die der Sprachwissenschaft selbst bevorstand, die Rede sein könne; aber der ermunternde Zuspruch eines Mannes, der mir als eine erste Autorität auf diesem Gebiete galt, konnte mich immerhin zu der Hoffnung ermutigen, dereinst vielleicht noch einmal aus den neuen sprachwissenschaftlichen Ergebnissen selbst psychologische Aufschlüsse in weiterem Umfange als bisher zu gewinnen.[263]

Anders als mit dem nur einen ersten unzulänglichen Versuch bildenden Abriß der Völkerpsychologie des Züricher Kollegienheftes verhält es sich mit dem gleichzeitig dort entstandenen umfangreicheren Heft über die Logik. Freilich nahm in ihr die Einleitung über die Geschichte der Logik einen unverhältnismäßigen Raum ein, so daß darüber der eigentliche Inhalt, den ich geplant hatte, zu kurz kam und vor allem die Ergänzung durch eine sich anschließende Methodenlehre ganz unterbleiben mußte. Dennoch darf ich wohl sagen, daß, soweit diese Darstellung überhaupt vorliegt, in ihr bereits die wesentlichen Gesichtspunkte enthalten sind, die in weiterer Ausführung den Inhalt meiner zum ersten Male 1880 in zwei Bänden erschienenen Logik bilden. Wenn ich nun aber möglichst unbefangen, so weit dies für einen Autor seinem eigenen Werk gegenüber möglich ist, den Geist dieser Logik namentlich im Vergleich mit den kurz vorher und nachher erschienenen Bearbeitungen der gleichen Wissenschaft mit dem üblichen Sprachgebrauch der Gegenwart kennzeichnen sollte, so wüßte ich dafür keinen treffenderen Ausdruck zu finden als die Behauptung: es ist die konsequenteste Absage an den in dieser Zeit herrschenden Psychologismus, die mir bekannt geworden ist. Ich darf mich hier darauf beschränken, vier Punkte herauszugreifen, in denen diese Tendenz besonders augenfällig zutage tritt.

Der erste dieser Punkte, zugleich derjenige, der eigentlich folgerichtig zu Ende gedacht alle weiteren schon in sich schließt, betrifft die allgemeine Stellung und die nach ihr erfolgte Definition des logischen Begriffs. Hier liegt der Fehler der alten Subsumtionslogik darin, daß sie die Allgemeinheit als das fundamentale Merkmal hervorhebt. Irgendein Gedankeninhalt soll dadurch, daß er als Merkmal zahlreicher individueller Fälle angesehen wird, jeden beliebigen Begriff in einen logischen überführen, denn[264] dieser soll, wie das schon die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, begreifen gleich umgreifen, ausdrückt, immer eine allgemeine Kategorie bezeichnen, unter der eine Menge von Einzelbegriffen enthalten sei. Indem dieser Begriff der Allgemeinheit den neueren Logikern nicht mehr genügte, suchten sie nun weitere Merkmale ausfindig zu machen, für die sie dann zu psychologischen Motiven ihre Zuflucht nahmen. Das ist in verschiedener Weise geschehen. Stuart Mill griff zu dem äußerlichsten Merkmal, zu dem Wort, mit dem wir einen Begriff ausdrücken, andere nahmen eine angebliche Auswahl der wesentlichen Merkmale eines Gegenstandes zu Hilfe, Sigwart wies auf die psychologische Bildung unserer Vorstellungen hin, die dieser logischen Bedeutung zugrunde liege sollte, Lotze sah die Grundlage des Begriffs in dem Erinnerungsvermögen auf der einen und in der alle psychischen Akte begleitenden Einheit der Seele auf der andern Seite usw. Nur Herbart hatte sich in gewissem Sinne von diesem Psychologismus frei gemacht, indem er den logischen Begriff als eine Vorstellung definierte, der wir Unveränderlichkeit zuschreiben sollen, eine Definition, die freilich erst recht dem Psychologismus verfiel, weil sie die allgemein das Substrat der seelischen Vorgänge bildenden Vorstellungen auch als das der Begriffe betrachtete. Immerhin hatte er dem Begriff seine Stellung als Ausgangspunkt aller logischen Funktionen gewahrt. Dagegen war es zum herrschenden Charakterzug der Logik geworden und ist es vielfach noch bis zum heutigen Tage geblieben, daß man als den Anfang alles logischen Denkens das Urteil betrachtet, aus dem erst durch seine Zerlegung der Begriff entspringen soll. Dem gegenüber bezeichnete ich von Anfang an nicht bloß diese Stellung des Urteils als eine unberechtigte Einmengung eines psychologischen Motivs in die Logik, sondern insbesondere auch die meisten Versuche,[265] zu der altüberlieferten Allgemeinheit der Begriffe weitere Merkmale aufzufinden als in ihrem letzten Grunde psychologistische. Gegen beide, gegen die alte in dem Merkmal der Allgemeinheit festgehaltene Subsumtionslogik wie gegen ihre psychologistischen Ergänzungsversuche, richtete sich meine Polemik. Es gibt, wie ich ausführte, wenn wir die Logik in ihren Anwendungen innerhalb der heutigen Wissenschaft zum Maßstabe nehmen, ebenso gut Individual- wie Allgemeinbegriffe, vor allem aber auch völlig unbestimmt bleibende Begriffsinhalte, bei denen eben der Begriff eine bloße Forderung ist, in jedem einzelnen Fall einen Begriff als letztes Element des logischen Denkens vorauszusetzen, daher aber auch, da die Logik mit dem rein psychologischen Gesichtspunkt des Aufbaues unseres Denkens aus Urteilen nichts zu tun habe, dieser Gesichtspunkt der Logik selbst fremd bleiben müsse.

Demnach gibt es nur zwei Merkmale, die als die Grundeigenschaften des logischen Begriffs anzuerkennen sind, wobei aber freilich auch sie nicht reale Eigenschaften desselben, sondern lediglich Postulate bedeuten, die wir bei der Aufstellung der auf der Grundlage des logischen Denkens entstehenden Begriffsbildung dieser entgegenbringen: Bestimmtheit und Allgemeingültigkeit. Bestimmtheit: denn das logische Denken fordert von jedem seiner Inhalte, daß er ein bestimmt zu definierender sei; als logisches Denken stellt es jedoch diese Forderung in völlig abstrakter Form, ihre Verwirklichung bleibt stets an die besonderen Inhalte gebunden, die dem Denken unterworfen werden. Allgemeingültigkeit: denn das logische Denken wird als allgemein bindend vorausgesetzt für jeden Denkenden; eben darum ist aber vollends die Allgemeingültigkeit wiederum nur als Forderung, nicht als Verwirklichung zu betrachten, diese muß dem Zusammenwirken des Denkens mit den tatsächlichen[266] Inhalten desselben überlassen bleiben. Dazu kommt endlich eine Voraussetzung, die in dem Zusammenhang des logischen Denkens, der jeder einzelne Begriff unterworfen ist, ihre Quelle hat: dies ist die Beziehung zu andern mit denselben allgemeinen Merkmalen ausgestatteten, aber nach ihrem spezifischen Inhalt eigenartigen Begriffen, die jedem seine Stellung in dem Zusammenhang des Denkens anweisen.

Mit dieser Definition des logischen Begriffs ist bereits die Unhaltbarkeit aller Versuche ausgesprochen, welche nicht den Begriff, sondern das Urteil als das ursprüngliche Fundament des logischen Denkens annehmen. Sie beruhen überall auf einer Verwechselung des Denkens im psychologischen mit einem solchen im logischen Sinne oder mit anderen Worten auf einer Substitution des Vorstellungsverlaufs, wie er uns in der unmittelbaren Beobachtung gegeben ist, an Stelle der Normen, welche die Wissenschaft der Logik aus der Mannigfaltigkeit der konkreten Funktionen des Denkens zu abstrahieren hat. Eben darum belasten alle diese auf das Urteil zurückgehenden Grundlegungen der Logik diese notwendig zugleich mit irgendwelchen Inhalten des Denkens, die nicht den logischen Normen selbst, sondern den zufälligen Erfahrungsinhalten angehören, mit denen diese sich im wirklichen Denken verbinden. Damit hängt dann auch durchweg die Neigung zusammen, die aus dem Urteil durch seine Zerlegung gewonnenen Begriffe nicht als reine logische Postulate, sondern als reale Eigenschaften der Gegenstände anzusehen, wenn man es nicht vorzieht, sie mit der englischen Logik überhaupt nur als an sich inhaltsleere Wortzeichen zu betrachten und danach etwa in den psychologischen Gesetzen der Assoziation des Gleichzeitigen und der Zeitfolge die Ausgangspunkte auch des logischen Denkens zu erblicken. Ein vorbeugendes Mittel gegen diese völlige Entartung der Logik zu einer Disziplin der Assoziationspsychologie schien mir von[267] Anfang an eine psychologische Untersuchung zu sein, die vor allem dem schablonenhaften Schematismus der überlieferten Assoziationsformen gegenüber endlich einmal den wirklichen Erscheinungen der Verbindungen psychischer Inhalte nachgehe. Dabei war alles das auszuscheiden, was an diesen Inhalten den subjektiven Bestandteilen der Gemütsbewegungen angehört, also an sich außerhalb des Bereichs der logischen Funktionen liegt. Da stellte sich denn heraus, daß das gesamte bis dahin unter dem vieldeutigen Wort »Assoziationen« zusammengefaßte Material auf der einen Seite einen ohne unser Zutun, durch die dem Empfindungsinhalt selbst immanenten Kräfte entstehenden psychischen Inhalt bilde, auf der andern Seite aber auch psychologisch ohne unser begleitendes Selbstbewußtsein unbegreiflich bleibe, daher ich diesen letzteren Inhalt in seiner rein psychologischen Bedeutung wegen dieser Beteiligung der Apperzeptionsfunktionen als das Gebiet der »apperzeptiven Verbindungen« bezeichnete. Aber auch diese betrachtete ich lediglich als psychologische Formen der unser wirkliches Denken überall konstituierenden Erscheinungen, in denen bereits die logischen Normen an einen bestimmten sinnlichen Inhalt, also an den psychologischen Vorstellungsinhalt gebunden sind. Gerade in diesem Sinne erschien mir daher die Untersuchung der Vorstellungsverbindungen im allgemeinen nicht als ein Bestandteil der Logik, wohl aber als eine nützliche Vorbereitung derselben.

Ist demnach das Urteil im logischen Sinne weder eine Assoziation noch eine apperzeptive Verbindung von Vorstellungen zu nennen, so bleibt nur übrig, aus den wirklichen Denkakten, wie sie ja allerdings zunächst in den apperzeptiven Ausdrucksformen der Sprache uns entgegentreten, den normativen, also rein logischen Gehalt zu abstrahieren und für sich isoliert zu denken. Dann ergibt sich als ein solcher das[268] in der Tat rein logische Verhältnis, das wir in unsern indogermanischen Sprachen als das prädikative bezeichnen. Da die allseitige Verwertung dieses logischen Verhältnisses der in das Urteil eingehenden Begriffe in ihren vollkommeneren Gestaltungen nur den indogermanischen und neben ihnen in etwas abweichenden Formen den semitischen Sprachen eigen ist, so folgt daraus allerdings auch, daß es eine Logik in jenem absoluten Sinne, in welchem diese eine jenseits aller empirischen Wirklichkeit liegende apriorische Disziplin sein soll, nicht gibt. Vielmehr ist die Logik, ebensogut wie jede andere Wissenschaft, an die Bedingungen der Kultur und damit der Erfahrung nicht nur, sondern auch konkreter Eigenschaften der Erfahrung gebunden. Die grundlegende Bedeutung der prädikativen Funktion für die Logik als Wissenschaft ist aber darin ausgesprochen, daß sich alle andern Beziehungen, die sich unter dem Einfluß wechselnder empirischer Bedingungen in der Sprache ausgebildet haben, unter ihnen vor allem die attributive, dem prädikativen Verhältnisse als besondere Formen unterordnen und dadurch auch in der sprachlichen Form ihr angleichen lassen. In diesem Sinne ist die Logik als Wissenschaft eine Schöpfung der indogermanischen und teilweise der semitischen Kultur, in die sich dann freilich auch die andern, nicht zu dieser Stufe der Begriffsentwicklung gelangten Ausdrucksformen des menschlichen Denkens übertragen lassen, analog wie dies mit sonstigen wissenschaftlichen Erzeugnissen geschehen kann.

Auf dem Boden dieser Herrschaft der prädikativen Funktion haben sich dann die besonderen Formen ausgebildet, in denen die Logik ihren spezifischen Charakter als Wissenschaft der reinen Denkformen besonders augenfällig offenbart, weil sich diese hier am reinsten in ihrer Abstraktion von dem sie zur Wirklichkeit ergänzenden empirischen Inhalt gesondert haben. Dahin gehören in erster Linie die Funktion der Verneinung[269] als einer logischen Abwehr jeder Prädizierung, und dann die in dem hypothetischen, dem disjunktiven und dem Wahrscheinlichkeitsurteil ausgedrückten Modifikationen jener Grundfunktion. Unter ihnen ist schon von den Alten besonders die Verneinung als eines der mächtigsten Vehikel des Denkens in seiner von allen Bedingungen der Anwendung befreiten logischen Gestaltung erkannt worden; zu ihr sind in der späteren Entwicklung vor allem die Hypothese und die Disjunktion als weitere Modifikationen des Denkens aus dem ursprünglichen empirischen Stoff ausgeschieden worden, und dazu sind schließlich die in den Wahrscheinlichkeitsattributen ausgedrückten subjektiven Beschränkungen der Prädizierung hinzugetreten, soweit sie zugleich einem rein logischen Bedürfnis entgegenkamen.

Noch mehr offenbart sich der jeder Vertiefung in die logische Bedeutung der Verknüpfungsformen entfremdete Psychologismus in der völlig unhistorischen Kritik des Schlußverfahrens, in der z.B. Stuart Mill die Wertlosigkeit des Syllogismus behauptete, weil er niemals etwas Neues lehre, sondern immer nur in einen einzigen Ausdruck zusammenfasse, was in seinen Prämissen bereits vollständig enthalten sei. Für unsere heutige Betrachtung ist dies in der Tat vollkommen zutreffend, aber doch nur insofern, als wir damit lediglich die psychologische Bedeutung eines Schlußverfahrens im Auge haben. Eben dieser psychologische Gesichtspunkt ist jedoch durchaus nicht derjenige der aristotelischen Syllogistik selbst. Vielmehr besteht diese eben darin, daß sie den logischen Wert der mittelbaren Subsumtion der Begriffe zum ersten Male in einleuchtender Weise in seiner logischen Bedeutung zum Ausdruck gebracht hat. Jene psychologistische Kritik hat daher von der großen historischen Bedeutung der aristotelischen Syllogistik keine Ahnung, da sie dieselbe ganz und gar von dem Standpunkt unserer heutigen psychologischen[270] Auffassung aus betrachtet. Dadurch verkennt sie, daß in Wahrheit das Prinzip der Syllogistik eine der größten logischen Entdeckungen aller Zeiten ist. Denn sie ist es gewesen, die tatsächlich zu der Formulierung des grundlegenden Prinzips geführt hat, auf dessen komplizierteren und wiederholten Anwendungen zum wesentlichen Teile der logische Aufbau aller Wissenschaft beruht. Nichts legt dafür ein deutlicheres Zeugnis ab als der fruchtbare Gebrauch, den die antike Geometrie von der Anwendung der Syllogistik machte und dem sie ihren Aufbau als systematische Wissenschaft verdankt. In diesem Sinne kann man geradezu die antike Geometrie als eine aus der Synthese eines an sich in den verschiedensten Formen kombinierbaren Materials geometrischer Inhalte mit der auf sie angewandten aristotelischen Syllogistik hervorgegangene Wissenschaft bezeichnen.

Ein vierter und letzter Punkt, in welchem ich die Verstrickung der modernen Logik in psychologistische Verirrungen nachgewiesen zu haben glaube, besteht endlich in der Bedeutung die ich dem Satz des Grundes als einem rein logischen Prinzip anwies. Sie knüpft an die alte scholastische Dualität der Begriffe ratio und causa an. Diese Dualität ist bekanntlich von Spinoza in seiner oft gebrauchten Formel »ratio sive causa« in eine Identität umgewandelt worden, die der metaphysischen »Deus sive natura« durchaus entspricht. Ist bei ihm in jenem logischen Doppelbegriff die rein logische Bedeutung der ratio in ihrer Gegenüberstellung zur causa als der Verknüpfungsform der »res extensa« noch vollkommen erhalten geblieben, so hat dagegen Leibniz diese schattenhafte Dualität in eine wirkliche Identität umgewandelt, die bei ihm auf einem merk–würdigen Vorurteil beruht, das seine Quelle gleichzeitig in seiner monistischen Metaphysik und in seiner einseitigen Auffassung der logischen Axiome hat. So strenge er nämlich[271] bei den letzteren das fortwährende Ineinanderwirken des Satzes der Identität mit dem des Widerspruchs betonte, so wenig war er imstande, dem Satz des Grundes neben beiden eine selbständige axiomatische Stellung einzuräumen. Hatten ihn dazu seine logisch-mathematischen Arbeiten zur Symbolik des logischen Denkens geführt, so blieb ihm für den Satz des Grundes nur die halb empirische halb logische Stellung übrig, der er in der Bezeichnung desselben als des »principium rationis sufficientis« Ausdruck gab. Damit war aber derselbe von vornherein als ein logisch-empirischer Hilfsbegriff der logischen Axiome gekennzeichnet oder, wie wir das nämliche ausdrücken können, er hat ihn nur noch als Prinzip der Kausalität, d.h. der Anwendung der eigentlichen logischen Axiome auf die Erfahrung anerkannt. So ist es denn merkwürdigerweise dieser hervorragende Logiker gewesen, der dem Kausalprinzip seine dominierende Stellung in der modernen Logik angewiesen, damit aber auch die bisherige allgemeinere Bedeutung des logischen Satzes vom Grunde beseitigt hat. Von Leibniz ist dann diese Auffassung mit dem entsprechenden Attribut der »causa sufficiens« auf die folgende Philosophie übergegangen, und darin hat schließlich diese spezifische Form des Psychologismus, die in der Vertauschung des an sich rein logischen Axioms vom Grunde mit dem empirischen Kausalprinzip besteht, ihre letzte Quelle. Gegen diese bin ich von der ersten Auflage meiner Logik an aufgetreten, indem ich nachzuweisen suchte, daß das rein logische Axiom in dem Aufbau der allgemeinen logischen Prinzipien nicht zu entbehren sei. Vorangegangen war in dieser Beziehung der moderne Idealismus von Fichte bis Hegel, die in ihren dialektischen Entwicklungen der logischen Axiome dem Satz des Grundes in seiner Identität und Widerspruch in einer logischen Synthese zusammenfassenden Bedeutung seine berechtigte Stellung anwiesen.[272] So ist es denn merkwürdigerweise geschehen, daß die modernen, den Psychologismus bekämpfenden Logiker gelegentlich eben diese Einreihung des Grundes unter die logischen Axiome als ein besonderes Symptom eines Psychologismus ansahen, während sie im Gegenteil selbst in diesem Fall Vertreter eines freilich sehr verbreiteten psychologistischen Irrtums sind, indem sie sich der Verwechselung des rein logischen Prinzips mit seiner empirischen Anwendung im sogenannten Kausalgesetz schuldig machen. Sie bekämpfen den rein logischen Wert des Prinzips der Ratio, weil sie diese nur in der Form der bereits durch spezifische Erfahrungsinhalte getrübten Causa anerkennen.

Quelle:
Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 260-273.
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