44.

[350] Ist bis dahin die griechische Ethik ein Spiegelbild des Verlaufs der griechischen Kultur überhaupt, so bleibt aber in ihr ein dauernder Charakterzug bestehen, der, nachdem zuerst Aristoteles die sittlichen Ideen vom Himmel auf die Erde verpflanzt hatte, auf jeder der Stufen der griechischen Kultur wiederkehrt und so als der bleibende Zug des Griechentums selbst betrachtet werden kann. Er besteht subjektiv in der Glückseligkeit als dem Zweck des sittlichen Strebens, objektiv hat er seinen Sitz in der menschlichen Seele. Damit ist nun aber zugleich die Sittlichkeit als ein Gebiet bezeichnet, das an sich, da in der Seele das Gute und das Böse, Glück und Unglück als wechselnde Bestandteile vereint sind, das Sittliche dem Reich des ewig Dauernden entzieht, in welches ihn der platonische Idealismus erhoben hat. Mit dem Menschen selbst ist das sittliche Leben in das Gebiet der schwankenden und wechselnden Erscheinungen verwiesen, welche die empirische Welt zusammensetzen. Damit drängt die griechische Ethik bei ihrem Ende wiederum einer befriedigenden Lösung dieses Widerspruchs mit ihrem Ausgangspunkt zu, und sie findet schließlich diese Lösung in der[350] inmitten dieser empirischen Widersprüche sich immer und immer wieder hervordrängenden Verbindung des äußeren Handelns mit der Gottesidee, also in der Rückkehr zu einer Grundlage, in der sich der platonische Idealismus als das Unveränderliche in allem Wechsel dieser Wandlungen erhält. So lenkt die griechische Ethik bei ihrem Ende mit innerer Notwendigkeit zu ihrem Ausgangspunkte zurück. Sie wird im Neuplatonismus zur religiösen Stimmung, die sich gegen alle Schwankungen des äußeren Lebens und der seelischen Erregungen als das unabänderlich Dauernde behauptet, und hier findet der neue Idealismus in der neuen Religion, die sich ihm in dem Christentum als die Siegerin im Kampfe der religiösen Richtungen der Zeit offenbart, jene Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, die einst der platonische Idealismus in der Volkssitte mit dem sie tragenden religiösen Kultus gefunden hatte.

Doch die weltlichen Motive, die das wirkliche Leben durchdringen und die die antike Philosophie in die verbreiteten philosophischen Weltanschauungen hinübergetragen hatte, ließen sich nicht auf die Dauer zurückdrängen. Indem der Nominalismus, welcher den platonisierenden scholastischen Realismus bekämpfte, die transzendenten Ideen mehr und mehr, wie der Wechsel des Namens es andeutet, durch Mächte der sinnlichen Wirklichkeit ersetzte, wandelte sich das Christentum in eine Religion um, die an sich einer übersinnlichen Welt angehörte und als solche auch die sittlichen Gesetze in diese übersinnliche Welt verwies. Für die Beziehung dieser übersinnlichen Welt der Religion zum menschlichen Denken und Handeln, die zuerst mit folgerichtiger Klarheit der aristotelische Realismus als den alleinigen Inhalt des Sittlichen bezeichnet hatte, blieben nur zwei Wege offen: der eine, den schließlich das katholische Glaubenssystem als den unbedingt gebotenen feststellte, betrachtet[351] die innerhalb der sinnlichen Welt wirksame Religion als eine dieser Welt selbst angehörige, die in der Autorität der Kirche als der Stellvertreterin und Verwalterin der übersinnlichen religiösen Güter auch das Richteramt über das sittliche Denken und Tun des Menschen zu üben habe. Indem die Reformation diesen Zwang der Autorität aus dem sittlichen Leben verbannte, blieb ihr dann wieder ein doppelter Weg übrig, der von ihren verschiedenen Konfessionen und deren Vertretern eingeschlagen wurde. Sie konnte in die religiöse Gemeinschaft, die in diesem Fall zugleich als eine sittliche betrachtet wurde, die Wahrung der sittlichen Gesetze verlegen: diesen Weg ist der Calvinismus gegangen und hat daraus dann die weitere Folgerung gezogen, daß er, dem Beispiel der in der Gesamtkirche zur Herrschaft gelangten individualistischen Ausprägung des Autoritätsprinzips folgend, den Willen der religiös-sittlichen Gemeinschaft einem persönlichen, dem Papsttum in kleinerem Umfange nachgebildeten Gemeindehaupt übertrug. Oder sie konnte, wie es der Protestantismus Luthers tat, das sittliche Gewissen des einzelnen Menschen zum Richter über sein Denken und Handeln erheben. Seine letzte philosophische Gestaltung hat dieser Standpunkt der sittlichen Freiheit des einzelnen in dem kantischen Idealismus gefunden, der die Gottesidee und das Sittengesetz in dem Sinne zur Einheit verband, daß ihm das Sittengesetz selbst als das entscheidende Zeugnis für die transzendente Wirklichkeit der Gottheit galt.

Nachdem die antike Wissenschaft in ihrer Rückkehr zur Einheit von Religion und Sitte auf der einen und zum platonischen Idealismus auf der andern Seite ihren Kreislauf vollendet, hat aber mit dem Sieg des Christentums und der Wiedererstehung einer dem religiösen Bewußtsein angepaßten Erneuerung des platonischen Idealismus eine Wiederholung dieses Kreislaufs in der deutschen Mystik und in dem Protestantismus[352] begonnen. Sie setzt in der Renaissanceperiode ein, und wir sind noch heute in ihr begriffen, ohne ihren Abschluß anders als in dem Sinne voraussagen zu können, daß auch er dereinst einmal nur unter der Erhaltung der bleibenden Güter des menschlichen Lebens eintreten kann. Der Beweis für dieses Ende, das demnach entweder eine Erneuerung oder einen Untergang der Kultur bedeuten würde, liegt nun gerade in jenem Verhältnis zwischen den subjektiven und den objektiven Kulturwerten, die in der modernen Kulturentwicklung und demzufolge in der Geschichte der neueren Philosophie in fortwährend sich steigerndem Maße zum Ausdruck kommen. In dem aller Entwicklung immanenten Gesetz, daß die sinnlichen Substrate des geistigen Lebens die geistigen Inhalte vorbereiten müssen, wie es uns in dieser ganzen Entwicklung in der lange dauernden Herrschaft der Naturbegriffe über die Philosophie entgegentritt, liegt es aber begründet, daß auch die subjektive Schätzung der Lebensinhalte, die zunächst alle ethischen Werte bestimmt, ihre Maßstäbe den subjektiven Wirkungen entnimmt, die das äußere Leben in den materiellen Inhalten des Daseins auf das Leben des einzelnen ausübt. Darum bleibt alle Ethik, solange die Normen, nach denen sie sich richtet, rein auf sich selbst gestellt sind, notwendig der individuellen, also der subjektiven sinnlichen Schätzung der sittlichen Werte anheimgegeben. Damit ist zugleich gesagt, daß die Ethik aus sich selbst oder aus dem, was sie etwa als unmittelbare Inhalte sittlicher Gesetze feststellen könnte, niemals einen Aufschluß über den wahren Inhalt des Sittlichen gewinnen kann, sondern daß sie diesen als einen objektiv gegebenen, damit aber als eine Voraussetzung anerkennen muß, aus der sie erst die weitere Entwicklung der sittlichen Gesetze zu schöpfen hat.[353]

Quelle:
Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 350-354.
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