Kshurikâ-Upanishad.

[632] »Die Geheimlehre von der kshurikâ sc. dhâraṇâ, von der wie ein Messer (kskura) abschneidenden Fixierung«, heisst dieses Stück, welches neben den aus andern Upanishad's bekannten Zügen der Yogapraxis (der Ort und die Art des Sitzens v. 2; die Zurückziehung des Manas von den Sinnendingen und Einschliessung desselben im Herzen, v. 3; die drei Arten der Atemregelung, pûraka, kumbhaka, recaka, v. 4-5, vgl. unten, S. 650) einen eigentümlichen Gedanken enthält, dessen Einzelheiten bei der Unsicherheit der Lesarten, grammatischen Unkorrektheit der Diktion und Mangelhaftigkeit des Kommentares oft schwer zu deuten sind.

Der Yogin hat sich nicht nur von allen Aussendingen, sondern auch von seiner eigenen Leiblichkeit loszulösen, und diese Loslösung erscheint als eine sukzessive Abschneidung der einzelnen Teile des Leibes, welche mittels des Manas als Messer (kshura, v. 11, – schwer vereinbar mit der Einschliessung des Manas im Herzen, v. 3) dadurch vollbracht wird, dass man auf die einzelnen Körperteile seine Aufmerksamkeit fixiert (dhâraṇâ) und sich eben dadurch gegen dieselben sukzessive abschliesst (nirodha; in v. 6-7 soll zu dve ergänzt werden dhâraṇe und zu trayas, wie der Schol. behauptet, nirodhâḥ). So löst man sich sukzessive von den grossen Fusszehen, den Unterbeinen, Knien, Schenkeln, Anus und Penis los und gelangt zum Nabel; von hier auf der Sushumnâ (schon Chând. 8,6,6, wenn auch nicht mit diesem Namen, als die 101ste Hauptader erwähnt) zum Herzen und weiter in den Hals, wo die Sushumnâ allen andern Adern als Un terlage (taitilam, Kopfkissen) dient und von zweien derselben, Iḍâ und Pi galâ, speziell umgeben und geschützt wird. Wieder schneidet man mit dem Manas-Messer alle andern Adern ab und fährt auf der Sushumnâ aufwärts und hinaus, indem man alle guten und bösen Zustände (bhâva) in ihr zurücklässt, gleichsam das Sushumnâ-Kissen mit ihnen ausstopft (v. 20; vgl. Sâ khyakârikâ v. 40 bhâvair adhivâsitam li garn). Indem man in dieser Weise alle Körperteile durch meditierende Fixierung derselben abschneidet, bricht man alle Fesseln des Samsâra und braucht nicht mehr wieder geboren zu werden (v. 21-24). – Auffallend ist namentlich der Gebrauch von dhâraṇâ, welches sonst Fesselung des Manas, hier aber Konzentration der Aufmerksamkeit auf die einzelnen Körperteile zum[633] Zweck der Losschneidung von ihnen bedeutet, sowie der schon erwähnte, damit zusammenhängende Widerspruch, dass das Manas im Herzen eingeschlossen wird (v. 3) und doch zugleich das Messer (kshura) sein soll, mit dem man die Körperteile einzeln abschneidet, wovon die ganze Upanishad den Namen erhalten hat.


1. Ich will, zur Yogavollbringung

Die schneidhafte Fixierung hier

Verkünden; wer sie als Yogin

Erlangt, wird nicht geboren mehr.


2. Denn dies als Vedahauptinhalt

Sprach als Gebot Svayambhû aus:

Einen lautlosen Ort wählend,

Dazu des Sitzens rechte Art,


3. Die Glieder zieht wie Schildkröten

Ein, das Manas ins Herz verschliesst;

Der Moren Zwölfheit1 anwendend

Unter Om-Sagen nach und nach


4. Den ganzen Leib mit Hauch anfüllt,

Alle Pforten desselben schliesst,

Zum Herzen mählich hinneigend

Brust, Hüften, Angesicht und Hals.


5. So lässt der Yogin einströmen

Den Hauch, der durch die Nase geht;

Nachdem der Hauch im Leib weilte,

Lässt er ihn langsam wieder aus.


6. Durch stet'ge Moren festmachend

Den Hauch, erst in die grossen Zehn,

Dann in zwei Knöchel, zwei Waden,

Drei rechts, drei links2, vertiefend sich,


7. Dann in die Kniee und Schenkel,

Anus und Penis, zweimal drei3,

Kehrt endlich in des Hauchs Standort

Er in der Nabelgegend ein.


8. Da ist die Ader Sushumnâ,

Viele Adern umgeben sie.[634]

Zartrote, gelbe und schwarze,

Und hochrote bis dunkelrot.


9. Er aber in die feinzarte,

Weisse Ader soll schlüpfen ein,

In ihr der Lebenshauch aufwärts,

Wie am Faden die Spinne klimmt.


10. So kommt er zu des Purusha

Rotlotosgleichem, grossem Sitz,

Den als »kleine Lotosblüte«

Vedântatexte schildern uns.


11. Durch ihn dringend zum Hals steigt er,

Immer in jener Ader, auf.

Dann greift zum Manas als scharfem,

Erkenntnisblankem Messer er,


12. Wetzt es und schneidet von Grund aus

Die Gestalten und Namen ab,

Und gibt durch Manas, das scharfe,

Für ewig sich dem Yoga hin.


13. Wie Indra's Donnerkeil, rühmlich,

Preist als fest man Gelenk und Bein,

Bis er durch Denkkraft, durch Yoga,

Durch Fixierung sie schneidet ab.


14. Versetzend sich in die Schenkel,

Löst Hauch er und Gelenke ab,

Durch Yoga, wiederholt vierfach,

Ohne Zaudern sie schneidend ab.


15. Dann versammelt im Halsinnern

Der Yogin seiner Adern Schar,

Von ihnen hundert und eine

Gelten als die vortrefflichsten.


16. Wo zur Linken hält Wacht Iḍâ

Und zur Rechten die Pi galâ,

Ist der Hauptort zwischen ihnen;

Wer den kennt, vedakundig ist.


17. Sushumnâ, staublos, einmündend

In Brahman, dem sie ist verwandt,[635]

Ist das Kopfkissen, auf welchem

Die zweiundsiebzigtausend ruh'n.


18. Alles spaltet der Denk-Yoga,

Die Sushumnâ er spaltet nicht.

Mit der Yogakraft blitzscharfem

Messer, das wie das Feuer glänzt,


19. Der Adern hundert soll spalten

Wer weise ist hienieden schon.

Und gleichwie mit Jasminblüten

Ein Kopfkissen wird parfümiert,


20. So die Ader mit Zuständen,

Gut-und-bösen, staffier' er aus.

Also bereitet zieht hin er,

Von künftiger Geburt befreit.


21. Darum, im Geist wohl bewusst sich,

Einen lautlosen Ort er wählt,

Befreit von Welthang und Rücksicht,

Wahr-Yoga-kundig nach und nach.


22. Wie der Vogel, den Strick brechend,

Ohne Furcht in die Lüfte steigt,

So die Seele, den Strick brechend,

Übersteigt den Samsâra dann.


23. Wie die Flamme, gebrannt habend,

Beim Auslöschen zunichte wird,

So der Yogin, verbrannt habend

Alle Werke, zunichte wird.


24. Wer als Yogin mit dem Messer,

Durch Hauchzwang spitz, durch Moren scharf,

Gewetzt am Stein der Entsagung,

Den Strick durchschneidet, bleibt befreit


25. Unsterblichkeit erlangt einer,

Der sich frei von Begierden macht,

Wer, von Wünschen sich lossagend,

Den Strick durchschneidet, bleibt befreit.


Fußnoten

1 Vgl. Nâdabindu v. 8-11, unten S. 644.


2 »Jedesmal drei Hemmungen (nirodhâḥ) vollziehend« (Schol.).


3 »Jedesmal drei Hemmungen (nirodhâḥ) vollziehend« (Schol.).

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 632-636.
Lizenz:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Das Leiden eines Knaben

Das Leiden eines Knaben

Julian, ein schöner Knabe ohne Geist, wird nach dem Tod seiner Mutter von seinem Vater in eine Jesuitenschule geschickt, wo er den Demütigungen des Pater Le Tellier hilflos ausgeliefert ist und schließlich an den Folgen unmäßiger Körperstrafen zugrunde geht.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon