Paramahaṅsa-Upanishad.

[702] Haṅsa, die wandernde (wilde) Gans, deren Umherschweifen schon im Ṛigveda (1,163,10. 3,8,9) und öfter in den Upanishad's (Chând. 4,1. Çvet. 1,6. 3,18) erwähnt wird, dient als Symbol einerseits der wandernden Seele, anderseits des heimatlos umherpilgernden Parivrâjaka, welcher im Stadium seiner höchsten Vollendung Paramahaṅsa »höchster Wandervogel« heisst. Von ihm entwirft unsere Upanishad ein schönes und anschauliches Bild, indem sie schildert, wie derselbe auf die Welt und allen Hang zu ihr verzichtet hat, um in dem Bewusstsein der Einheit mit Brahman, mit dem Bhagavân, einen vollen Ersatz für dieselbe zu finden. Unter dem Bhagavân kann hier nicht mit Nârâyaṇa, der sich auf Chând. 7 beruft, Sanatkumâra, sondern nur, wie Ça karânanda bemerkt, Hiraṇyagarbha, d.h. das persönlich aufgefasste Brahman verstanden werden (vgl. die Worte zu Anfang: »all sein Denken ist allezeit bei mir, darum bin auch ich allezeit in ihm«). Die Schilderung, welche der Bhagavân von dem vollendeten Asketen entwirft, stimmt im wesentlichen mit der der vorhergehenden Upanishad's überein, macht aber im ganzen den Eindruck, einer spätern Zeit anzugehören, in welcher, wie die eingelegten Verse sowie auch die Warnungen am Schlusse zu verstehen geben, der Stand des Sannyâsin und seine Freiheit vom Gesetze gelegentlich schon als Deckmantel zügelloser Gelüste benutzt werden mochte.


1. Welches ist jener Weg der Yogin's, der Parama haṅsa's? Und welches ist ihr Verhalten? – So befragte den Bhagavân, ihm sich nahend, Nârada.

Da sprach der Bhagavân:

Jener Weg der Paramahaṅsa's ist schwer in der Welt zu finden und nicht vielbetreten. Wenn ihn aber einer betritt, der ist in steter Reinheit verharrend, der ist ein vedischer Mann, so meinen die Weisen, ist ein grosser Mann. All sein Denken ist allezeit bei mir; darum bin auch ich allezeit in ihm.[703]

Er aber tut von sich Kinder, Freunde, Weib, Verwandte die Haarlocke und Opferschnur, das Vedastudium und alle Werke, er verzichtet auf die ganze Welt und greift zum Lendentuch, zu Stab und Decke, nur noch bestrebt, seinen Leib zu erhalten und andern hilfreich beizustehn. –

Aber dieser ist noch nicht der höchste; und fragst du, wer der höchste ist, – der ist es, 2. welcher als Paramahaṅsa nicht Stab, nicht Haarlocke, nicht Opferschnur, nicht Decke mehr trägt, nicht mehr nach Kälte und Hitze, nach Lust und Schmerz, nach Ehre und Unehre fragt, sondern frei ist von den sechs Wogen [des Samsâra: Hunger, Durst, Kummer, Wahn, Alter und Tod], indem er Tadel, Stolz, Eifersucht, Trug, Hochmut, Wunsch, Hass, Lust, Schmerz, Verlangen, Zorn, Habgier, Wahn, Freude, Ärger, Selbstsucht und alles dergleichen dahinten lässt; und weil von ihm sein eigner Leib nur als ein Aas wird angesehen, so wendet er sich von diesem verkommenen Leibe, welcher die Ursache ist von Zweifel, Verkehrtheit und Irrtum, für immer ab, richtet auf jenes [Brahman] beständig sein Erkennen, nimmt in ihm selber seinen Stand und weiss von ihm dem Ruhigen, Unwandelbaren: »jener Zweitlose, ganz aus Wonne und Erkenntnis Bestehende bin ich selbst, er ist meine höchste Stätte, meine Haarlocke, meine Opferschnur!« Dann ist durch die Erkenntnis der Einheit des Âtman und Paramâtman die Scheidewand zwischen beiden eingerissen, und das ist die wahre Verbindungszeit (auch: Dämmerungsandacht, sandhyâ).


3. Wer, alle Lüste aufgebend,

Im Zweitlosen, im Höchsten steht,

Erkenntnis nur als Stab tragend,

Der heisst mit Recht Einstabiger (Asket).


Doch wer, des Wissens bar, weil er

Den Hochstab trägt, von allem isst,

Der fährt zur furchtbarsten Hölle,

Die da heisst »grosse Brüllerin«.


Wer diesen Unterschied versteht, der ist ein Paramahaṅsa.

4. Sein Kleid ist der Weltraum, er kennt nicht Verehrung, nicht Manenspende, nicht Tadel noch Lob, nicht Opferruf,[704] sondern lebt, wie es eben kommt1, als Bettler. Er lockt nicht an, und er stösst nicht ab; für ihn gibt es keine Vedasprüche mehr, keine Meditation, keine Verehrung, kein Sichtbares und kein Unsichtbares, kein Gesondertes und kein Ungesondertes, kein Ich, kein Du und keine Welt. Ohne Behausung lebt er als Bettler; mit Gold und dergleichen befasst er sich nicht, kein Sichtbares gibt es für ihn und kein Anschauen. – Aber durch blosses Anschauen, meint ihr, schade er sich nicht? – Wohl schadet er sich dadurch. Weil er ein Asket ist, darum, wenn er das Gold mit Lust anschaut, wird er zum Brahmanmörder; weil er ein Asket ist, darum, wenn er das Gold mit Lust berührt, wird er zum Paulkasa; weil er ein Asket ist, darum, wenn er das Gold mit Lust ergreift, wird er zum Seelenmörder. Darum soll der Asket das Gold nicht mit Lust ansehen, berühren, ergreifen; von allen Wünschen, die ihm in den Sinn kommen, soll er sich wegwenden. Im Schmerze unentwegt, in der Lust ohne Verlangen, in der Begierde entsagend, allerwärts weder am Schönen noch Unschönen hängend, ist er ohne Hass und ohne Freude. Aller Sinne Regung ist zur Ruhe gekommen, nur in der Erkenntnis verharrt er, festgegründet im Âtman. Das ist der wahre Yogin, ist der Wissende; sein Bewusstsein ist erfüllt mit dem, dessen einziger Geschmack vollkommene Wonne ist. Dieses Brahman bin ich, so weiss er und hat das Ziel erreicht, – dieses Brahman bin ich, so weiss er und hat das Ziel erreicht.

Fußnoten

1 Vgl. Bṛih. 3,5. Gauḍap. 2,37 (oben S. 437 Anm., 587).

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 702-705.
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