Fünfzehnter Gesang.

[82] Der Erhabene sprach


Wurzelaufwärts, zweigeabwärts, so steht der ew'ge Feigenbaum,

Dessen Blätter Veda-Lieder; den Veda kennt, wer diesen kennt.

Abwärts und aufwärts gehen dessen Zweige,

Qualitäterwachsen, Sinnendinge sprossend;

Nach unten auch die Wurzeln sich verbreiten,

Die durch der Taten Band die Menschen fesseln.

Seine Gestalt erfaßt man nicht auf Erden,

Nicht End' noch Anfang, noch des Baumes Dauer;

Wenn dieser Baum mit seinen mächt'gen Wurzeln

Durch der Entsagung hartes Schwert gefällt ist,

Dann muß man suchen jene höchste Stätte,

Von der die Wandrer nimmer wiederkehren,

Denkend: Ich geh' zu jenem ersten Urgeist,

Von dem seit alters alles Werden ausgeht.

Von Stolz und Torheit frei, Welthangbesieger,

Im höchsten Selbst nur lebend, ohn' Begehren,

Befreit von Lust und Leid der Gegensätze,

Geht unbeirrt man so zur ew'gen Stätte.

Den Ort erhellt die Sonne nicht, der Mond nicht und das Feuer nicht;

Von wo man nimmer wiederkehrt, ja, meine höchste Wohnstatt ist's.

Ein Teil von mir in dieser Welt als Einzelseele lang schon lebt,

Die Sinne samt dem innern Sinn zieht er an sich aus der Natur.

Wenn er als Herr den Leib erlangt und wenn er wieder tritt hinaus,

Die Sinne fassend geht er hin, gleichwie der Wind die Düfte faßt.[83]

Gehör, Gesicht, Gefühl, Geschmack, Geruch, sowie den innern Sinn,

Als Herr bemeisternd steht er da und genießet die Sinnenwelt.

Ob er hinaus geht oder bleibt und genießt, qualitätbegabt,

Törichte Menschen sehn ihn nicht, des Wissens Aug' nur läßt ihn schaun.

Andächt'ge, die sich drum bemühn, die schaun ihn in dem eignen Selbst,

Doch Toren, Unbereitete, ob sie sich mühn auch, sehn ihn nicht.

Der Glanz, der in der Sonne ist und diese ganze Welt erhellt,

Der in dem Mond, im Feuer ist, das, wisse, ist mein eigner Glanz.

Eindringend in die Erde trag' die Wesen ich mit meiner Kraft,

Die Pflanzen all laß ich gedeihn als Soma, der im Saft besteht.

Zum Feuer werdend dring' ich ein in der belebten Wesen Leib,

Mit Hauch und Aushauch fest vereint koch' ich vierfache Speise dort1.

In eines jeden Herz bin ich gedrungen,

Erinnrung, Wissen und Bestreiten wirk' ich,

Durch alle Veden bin ich zu erkennen,

Bin Vedenkenner, schaffe den Vedânta2.

Zwei Arten Geist gibt's in der Welt, – einer vergeht, der andre nicht;

Der erste sind die Wesen all, den andern nennt man »Gipfelhoch«.

Der höchste Geist ein andrer ist, er wird das höchste Selbst genannt,

Er dringet in die Dreiwelt ein und trägt sie als der ew'ge Herr.

Weit mehr als der vergängliche, mehr als der unvergängliche

Bin ich – drum heiß' ich in der Welt und in der Schrift der höchste Geist.

Wer von Betörung frei mich so erkennet als den höchsten Geist,

Der weiß alles und ehret mich von ganzem Herzen, Bhârata!

Geheimnisvollste Wissenschaft ist so von mir verkündet dir;

Wer sie erfaßt, ist weisheitsvoll und hat, fürwahr, das Ziel erreicht.

1

D.h. verdaue ich die vierfache Speise, nämlich Getrunkenes, Gelecktes, Gekautes und Verschlungenes; vgl. Deussen, Der Gesang des Heiligen, S. 103.

2

»Das Ende des Veda« – Bezeichnung der Upanishaden, wie auch der auf diesen fußenden systematischen Philosophie des Idealismus.

Quelle:
Bhagavadgita: Des Erhabenen Sang. Jena 1959, S. 82-84.
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