XIV (Adhyâya 38).

Vers 1356-1382 (B. 1-27).

[95] Der Heilige sprach:


1. (1356.) Als Höchstes will ich dir weiter verkündigen die Wissenschaft, welche von allen Wissenschaften die oberste ist, und durch deren Erkenntnis alle Muni's von hier zur höchsten Vollendung eingegangen sind.

2. (1357.) Indem sie, auf diese Wissenschaft gestützt, zur Wesenseinheit mit mir gelangt sind, werden sie bei der Neuschöpfung der Welt nicht wiedergeboren und brauchen beim Weltuntergang nicht zu zittern.

3. (1358.) Mein Mutterschoss ist das grosse Brahman [hier die Prakṛiti bedeutend], in dieses lege ich den Keim, und daraus geschieht die Entstehung aller Wesen, o Bhârata.

4. (1359.) Was auch immer für Gestalten in allen Mutterschössen entstehen mögen, für sie alle ist der Mutterschoss das grosse Brahman, und ich bin der den Keim verleihende Vater.

5. (1360.) Sattvam, Rajas und Tamas, das sind die Guṇa's, welche aus der Prakṛiti hervorgehen; sie sind es, o Grossarmiger, welche[96] in dem Leibe den unvergänglichen Träger des Leibes gebunden halten.

6. (1361.) Unter diesen ist das Sattvam vermöge seiner Makellosigkeit erhellend und leidlos, es bindet durch die Berührung mit der Lust und durch Berührung mit der Erkenntnis, o Untadeliger.

7. (1362.) Das Rajas, wisse, ist seinem Wesen nach Leidenschaft und entspringt aus Berührung mit der Begierde (tṛishṇâ); es bindet, o Kuntîsohn, den Leibträger durch die Berührung mit den Werken.

8. (1363.) Das Tamas, wisse, entspringt aus dem Nichtwissen und wirkt betäubend auf alle Leibträger; es bindet dieselben, o Bhârata, durch Unbesonnenheit, Schlaffheit und Schlaf.

9. (1364.) Das Sattvam bringt in Berührung mit der Lust, das Rajas mit dem Werke, o Bhârata, das Tamas hingegen umhüllt das Bewusstsein und bringt daher in Berührung mit der Unbesonnenheit.

10. (1365.) Das Sattvam entsteht, o Bhârata, indem es Rajas und Tamas überwältigt, das Rajas, indem es Sattvam und Tamas, das Tamas, indem es Sattvam und Rajas überwältigt.

11. (1366.) Wenn durch alle [Sinnes-]Pforten in diesem Leibe das Licht als Erkenntnis eindringt, dann nimmt das Sattvam überhand, das muss man wissen.

12. (1367.) Begierde, Tätigkeit, Unternehmen von Werken, Unruhe, Verlangen, diese sind[97] es, welche entstehen, wenn das Rajas überhand nimmt, o Bester der Bharata's.

13. (1368.) Verdunkelung, Untätigkeit, Unbesonnenheit, Verblendung, diese entstehen, wenn das Tamas überhand nimmt, o Kuruspross.

14. (1369.) Wenn der Verkörperte dahinscheidet, nachdem das Sattvam überhand genommen hat, dann gelangt er zu den fleckenlosen Welten der Weisesten.

15. (1370.) Stirbt einer unter der Herrschaft des Rajas, so wird er unter werkhaften Menschen wiedergeboren; kommt er um unter der Herrschaft des Tamas, so wird er in dumpfen Mutterschössen wiedergeboren.

16. (1371.) Die Frucht des guten Werkes gilt für sattvahaft und fleckenlos, die Frucht des Rajas ist Leiden, die Frucht des Tamas Nichtwissen.

17. (1372.) Aus dem Sattvam entsteht Wissen, aus dem Rajas Begierde, aus dem Tamas Unbesonnenheit und Verblendung, sowie das Nichtwissen.

18. (1373.) Nach oben gehen die im Sattvam Stehenden, in der Mitte weilen die Rajashaften, die in der Betätigung des untersten Guṇna lebenden Tamashaften gehen nach unten.

19. (1374.) Wenn einer als Einsichtiger erkennt, dass kein anderer Täter als die Guṇa's vorhanden ist, und wenn er den weiss, der[98] erhaben über die Guṇa's ist, der geht in meine Wesenheit ein.

20. (1375.) Der Verkörperte, diese drei Guṇa's, die der Ursprung des Körpers sind, hinter sich lassend, wird von Geburt, Tod, Alter und Leiden befreit und erlangt die Unsterblichkeit.


Arjuna sprach:


21. (1376.) Mit welchen Merkmalen, o Herr, ist der behaftet, der diese drei Guṇa's überschritten hat? Welcher Art ist sein Wandel und wie kann er über diese drei Guṇa's hinausgelangen?


Der Heilige sprach:


22. (1377.) Wenn einer, o Pâṇḍusohn, Erhellung, Tätigkeit und Verblendung [die Ausserungen der drei Guṇa's] nicht hasst, wo sie ihm entgegentreten, und nicht ersehnt, wo sie ihm fehlen,

23. (1378.) wenn er, gleichwie ein Müssiger dasitzend, durch die Guṇa's nicht aus der Fassung gebracht wird, und in der Erkenntnis, dass nur die Guṇa's es sind, die ihr Wesen treiben, abseits steht, ohne bewegt zu werden,

24. (1379.) wenn er gleichmütig in Leid und Lust in sich feststehend, Erdklumpen, Steine und Gold für einerlei haltend, Liebes und Unliebes für gleich erachtend, standhaft bleibt und gleichgültig dagegen, ob man ihn tadelt oder lobt,[99]

25. (1380.) wenn er gleichmütig ist bei Ehre und Unehre, gleichmütig zwischen den Parteien der Feinde und Freunde und auf alle Unternehmungen verzichtet, ein solcher hat die Guṇa's überwunden.

26. (1381.) Und wer mit unentwegter hingebender Verehrung mir anhängt, der ist, nachdem er jene Guṇa's überwunden hat, tauglich zur Brahmanwerdung.

27. (1382.) Denn ich bin das Fundament des unsterblichen, unvergänglichen Brahman, der ewigen Satzung und der ungetrübten Seligkeit.


So lautet in der Bhagavadgîtâ die Hingebung an die Unterscheidung der drei Guṇa's (guṇa-traya-vibhâga-yoga).

Quelle:
Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des Mahâbhâratam. Leipzig 1911, S. 95-100.
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