Viertes Kapitel

[8] Da sonach Alles, von dem ein volles Wissen besteht, sich nicht anders, als dieses Wissen es besagt, verhalten kann, so wird alles zur beweisbaren Wissenschaft gehörende Wissen ein nothwendiges sein, und beweisbar ist das Wissen, was man dadurch inne hat, dass man dessen Beweis besitzt. Der Beweis ist aber ein Schluss aus Nothwendigem. Es ist also zu untersuchen, aus welchen Bestimmungen ein Beweis sich ergiebt und wie diese beschaffen sein müssen. Vorher werde ich aber noch angeben, was ich unter: »von Allem«, unter: »An sich« und unter: »das Allgemeine« verstehe.

Unter »Von Allem« verstehe ich das, was nicht blos von einigen gilt und von anderen nicht und was nicht blos zu einer Zeit gilt und zu einer andern Zeit nicht. Wenn also das Geschöpf von allen Menschen gilt und es wahr ist, dass dieser ein Mensch ist, so ist auch wahr, dass er ein Geschöpf ist und dass wenn er jetzt das eine ist, er auch jetzt das andere ist; und dass wenn in jeder Linie der Punkt enthalten ist, dieses sich ebenso in jeder Linie zu jeder Zeit so verhält. Man kann dies daran erkennen, dass wenn gefragt worden, ob nicht etwas von Allen gelte, man die Einwürfe dagegen so macht, dass es entweder bei Einigen oder zu einer Zeit nicht gelte.

An sich nennt man alle Bestimmungen, welche in dem Was eines Gegenstandes enthalten sind, wie z.B. die Linie in dem Dreieck und der Punkt in der Linie;[8] (denn das Wesen der Gegenstände besteht aus diesen Bestimmungen und sie sind in dem Begriffe, welcher ihr Was angiebt, enthalten.) Ebenso wohnt diesen Bestimmungen, die dem Gegenstande einwohnen, dieser Gegenstand selbst in deren Begriffe, welcher ihr Was angiebt, ein. So ist das Gerade und das Krumme in der Linie enthalten und das ungerade und Gerade in der Zahl und auch das Einfache und Zusammengesetzte, das Gleichseitige und Ungleichseitige; aber ebenso wohnt allen diesen Bestimmungen in ihrem Begriffe, welcher ihr Was angiebt, dort die Linie und hier die Zahl ein. Ebenso nenne ich das, was bei allen andern Gegenständen denselben in dieser Weise einwohnt das An sich, was aber nicht so beiderseitig einwohnt, nenne ich das »Nebensächliche«; wie z.B. das Musikalische und das Weisse in dem Geschöpf. Auch ist An-sich das, was nicht von einem andern Unterliegenden ausgesagt wird, wie dies z.B. bei dem »Gehenden« geschieht, wo ein Anderes ist, was geht und weiss ist; dagegen ist das Wesen und alles, was das Was angiebt, nicht an einem Anderen als das, was es ist. Ich nenne also dasjenige, an-sich, was nicht von einem andern Unterliegenden ausgesagt wird; dagegen ist das, was von einem solchen ausgesagt wird, das Nebensächliche. – Auch nenne ich noch in anderer Weise An sich dasjenige, was jedem Gegenstande durch ihn selbst einwohnt, und das, was ihm nicht durch sich selbst einwohnt, das Nebensächliche. Wenn es z.B. während jemand geht, blitzt, so ist dies ein Nebensächliches, weil das Blitzen nicht durch das Gehen geschehen ist, sondern es hat sich nur, wie man sagt, so getroffen. Ist aber etwas durch solches geschehen, so ist dies ein An sich; z.B. wenn etwas, was geschlachtet wird, stirbt, so geschieht es in Folge des Schlachtens an sich, weil es durch das Schlachten stirbt und weil es sich nicht blos so trifft, dass das Geschlachtete stirbt. Dasjenige also, was bei dem voll Wissbaren das An sich genannt wird, indem es dem Ausgesagten einwohnt und das Ausgesagte in ihm, ist durch sich und aus Nothwendigkeit. Denn es kann nicht sein, dass es seinem Gegenstande überhaupt nicht, oder nicht als Entgegengesetztes einwohne; so wohnt z.B. der Linie das Gerade oder das Krumme und der Zahl das Gerade oder[9] Ungerade nothwendig ein, da das Gegentheilige entweder eine Beraubung oder Verneinung innerhalb derselben Gattung ist, wie z.B. das Gerade bei Zahlen, so weit es von ihnen ausgesagt wird, das Nicht-Ungerade ist. Ist es also nothwendig, dass das An sich von einem Gegenstande derselben Gattung entweder bejaht oder verneint werden muss, so muss das An sich auch nothwendig einwohnen.

Das »Von Allem« und das »An sich« soll also in dieser Weise bestimmt sein. Allgemein nenne ich aber das, was in allem Einzelnen und auch in ihren an sich und als solches enthalten ist. Daraus erhellt, dass jedes Allgemeine nothwendig in den es betreffenden Dingen enthalten ist. Das An sich und das Als solches sind dasselbe; so ist z.B. der Punkt und das Gerade in der Linie an sich enthalten und in ihr als Linie. Eben so sind in dem Dreieck als solchem zusammen zwei rechte Winkel enthalten und das Dreieck an sich ist in seinen Winkeln zweien rechten gleich. Das Allgemeine ist dann in dem Gegenstande enthalten, wenn es an dem nächsten besten und an dem obersten sich darlegen lässt. So ist das »zwei rechte Winkel enthalten« kein Allgemeines der Figur, da man zwar an einer Figur zeigen kann, dass sie zwei rechte Winkel enthalte, aber nicht an jeder, wie es sich trifft. Auch benutzt der Beweisende nicht jede beliebige Figur, denn das Viereck ist auch eine Figur, aber es enthält keine zwei rechten Winkel. Ein gleichschenkliches Dreieck, was man zufällig trifft, enthält zwar auch zwei rechte Winkel, aber es ist nicht das oberste Dreieck, sondern das Dreieck überhaupt ist früher. Wenn also an dem ersten besten Dreieck gezeigt wird, dass es zwei rechte Winkel enthalte, oder wenn dies an sonst einen andern Dreieck ebenso geschieht, so wohnt diese Bestimmung dem obersten Gegenstande als eine allgemeine ein und der Beweis dieses Allgemeinen geschieht an sich, während er bei den andern Dreiecken in gewisser Weise nicht an sich geschieht; denn diese Bestimmung ist nicht blos ein Allgemeines von dem gleichschenklichen Dreieck, sondern auch von andern Dreiecken.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 8-10.
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