Die Selbständigkeit der Einzelwissenschaften

[245] Zugleich traten nun die alten Völker, wie erwähnt, in das Stadium der Einzelwissenschaften. Intellektuelle Veränderungen so durchgreifender Art pflegen mit Abänderungen in der Stellung der Personen, welche ihre Träger sind, sowie der Einrichtung der wissenschaftlichen Anstalten verbunden zu sein. Neben die Philosophenschulen traten nun die von Fürsten und Staaten gegründeten wissenschaftlichen Anstalten. Alexandrien wurde durch die Schöpfungen einer großherzigen und weisen Politik Mittelpunkt der neuen geistigen Bewegung; die intellektuelle Herrschaft ging damit von Athen dorthin über. Denn es bedurfte von jetzt ab der Observatorien mit einem immer reicheren Apparat von Instrumenten, der zoologischen und botanischen Gärten, der Anatomien und ungeheuren Bibliotheken, um an der Spitze dieser positiven Wissenschaften zu bleiben. Was nun geschah, ist nicht geringer, als was die metaphysische Bewegung bisher geschaffen hatte. Wenn das Eintreten der neueren europäischen Völker in das Stadium der positiven Wissenschaften vom fünfzehnten Jahrhundert ab Renaissance ist, so werden in dieser die positiven Forschungen da aufgenommen, wo die Einzelwissenschaften der Alten den Faden ihrer[245] Arbeit hatten fallen lassen müssen, und niemand glaube, daß die Episode des italienischen Platonismus oder die Erneuerung des reinen Aristoteles in Italien und Deutschland den Kern der europäischen Renaissance, sofern sie intellektuelle Entwicklung ist, gebildet habe.

Jedoch bildete der Erwerb des metaphysischen Stadiums der alten Völker die Grundlage für die Leistungen dieser folgenden Zeit, in welcher das Schwergewicht des intellektuellen Fortschritts in den Einzelwissenschaften lag. – Die erste Bedingung dieses Fortschritts sind die erworbenen Begriffe. So hatte die griechische Metaphysik die Begriffe von Substanz und Atom hervorgebracht, die von Ursache und Bedingung oder Grund unterschieden und den Begriff von Form auf den einzelnen Gebieten durchgeführt. Sie hatte Grundverhältnisse, wie die Beziehung zwischen Struktur, Funktion und Zweck in einem Organismus oder zwischen Leistung und Anteil an Herrschaft und Gütern in einem politischen Ganzen aufgezeigt. – Die zweite Bedingung lag in der Entwicklung von grundlegenden, wenn auch an Evidenz ungleichen Sätzen. Solche waren: es gibt keinen Übergang aus dem Nichts zum Sein oder aus diesem zurück in das Nichts; es kann nicht dasselbe in derselben Beziehung behauptet und verneint werden; räumliche Bewegung hat den leeren Raum zur Voraussetzung. – Endlich lag eine wichtige Bedingung in dem logischen Bewußtsein. Die Arbeit an der Unterwerfung des Wirklichen unter die Erkenntnis hatte die griechischen Geister während der sophistischen Epoche in eine revolutionäre Bewegung gebracht, in deren Strudel einmal die ganze griechische Wissenschaft unterzugehen drohte. Die wissenschaftliche Gesetzgebung der Aristotelischen Logik überwand diese Revolution und ermöglichte erst den ruhigen Fortschritt der positiven Wissenschaften. In ihr lag die Voraussetzung für den Aufbau der mathematischen Wissenschaften, wie sie ein Euklid zeigt. Nur ihrer Hilfe verdankt man es, daß zu derselben Zeit, in welcher Metaphysiker und Physiker über die Möglichkeit eines Kriteriums der Wahrheit stritten, das Elementarwerk des Euklid hervortreten konnte, welches in der unangreifbaren Verkettung seiner Beweise den Widerspruch der ganzen Welt herauszufordern schien und das klassische Vorbild von Evidenz geworden ist.

Die Schranken dieser Metaphysik machten sich folgerecht auch in diesem Stadium der Einzelwissenschaften geltend; die neuen Richtungen, welche die Einzelwissenschaften teilweise einschlugen, wurden nicht gleichmäßig festgehalten. In der Mathematik wurde das Werkzeug für exakte Wissenschaft entwickelt, das den Arabern und den germanisch-romanischen Völkern die Aufschließung der Natur ermöglichen sollte. Auch nahm die Anwendung von Instrumenten, welche[246] eine Messung ermöglichen, sowie des Experiments, welches Erscheinungen nicht nur beobachtet, sondern unter veränderten Bedingungen willkürlich hervorruft, beständig zu. Einen hervorragenden Fall von zusammenhängender experimenteller Behandlung eines Problems bilden die Untersuchungen des Ptolemäus über die Brechung der Lichtstrahlen bei ihrem Durchgang durch Mittel ungleicher Dichtigkeit; hier werden die Strahlen von der Luft in Wasser und Glas, von Wasser in Glas unter verschiedenen Einfallswinkeln geleitet. Die am meisten fundamentalen Vorstellungen, zu denen nun die Wissenschaften von der Natur gelangten, sind in den statischen Arbeiten des Archimedes enthalten. Er entwickelte auf vorherrschend mathematischem Wege, von dem Satze aus, daß gleichschwere Körper, die in gleicher Entfernung wirken, sich im Gleichgewicht befinden, das allgemeine Hebelprinzip und legte den Grund zu der Hydrostatik. Aber dem Archimedes blieb die Dynamik ganz fremd, und er fand im Altertum keine Nachfolger.220 Nicht minder charakteristisch ist die gänzliche Abwesenheit von chemischer Wissenschaft in diesem Stadium der Einzelwissenschaften bei den alten Völkern. Die Aristotelische Lehre von den vier sogenannten Elementen ist abgeleitet aus der mehr fundamentalen von vier Grundeigenschaften, wenn auch die vier Elemente selber eine Erbschaft aus älterer Zeit waren. Der Gegenstand dieser Theorie waren also nur prädikative Bestimmungen und ihre Kombinationen; sie zerlegt nicht in Subjekteinheiten, d.h. Substanzen. So wirkt sie nicht direkt auf experimentelle Arbeiten hin, welche die gegebenen. Objekte aufzulösen versucht hätten. Die Atomenlehre hatte nur eine ideelle Zerlegung der Materie vollzogen, und ihre Vorstellung von einander qualitativ gleichen Einheiten mußte in bezug auf die Entstehung chemischer Grundvorstellungen zunächst eher hindernd wirken. Aus den Bedürfnissen der medizinischen Kunst erwuchs der Versuch des Asklepiades von Bithynien, die Vorstellung von Korpuskeln der Betrachtung des Organismus anzunähern221 sowie die Anweisung zur Herstellung einiger chemischer Präparate, deren die Ärzte sich bedienten, wie sie bei Dioskorides vorliegt. Im Gegensatz zu so vereinzelten Anfängen machten die Naturwissenschaften, welche von geometrischer Konstruktion oder von Zweckvorstellungen geleitet wurden, wie Astronomie, Geographie und Biologie, regelmäßige Fortschritte.

So entstand schon den alten Völkern in dieser Epoche der Einzelwissenschaften ein Bild des Kosmos von einer unermeßlichen Weite[247] und doch zugleich von wissenschaftlicher Genauigkeit, welches das Gerüst für ihr Studium der Geisteswissenschaften bildete. Eratosthenes, Hipparch, Ptolemäus umfassen die kreisenden Massen der Gestirne und die Erdkugel. Ein erster Versuch der Gradmessung ist bemüht, den Umfang der Erde annähernd zu bestimmen; Eratosthenes begründet die Geographie als Wissenschaft. Die Übersicht über die Pflanzenbedeckung der Erde und die Tierwelt auf ihr, wie sie Aristoteles und Theophrast erreicht hatten, wird nun durch Fortschritte in der Zergliederung des tierischen und menschlichen Körpers ergänzt, welche besonders tief in die Erkenntnis der Gefäße eindringen.

Die Kenntnis von der Verteilung des Menschengeschlechts auf der Erde sowie den Verschiedenheiten desselben war durch den Eroberungszug Alexanders und die Ausbreitung des römischen Imperium nunmehr außerordentlich erweitert. Infolge hiervon wird der Einfluß von Boden und Klima auf die geistigen und sittlichen Verschiedenheiten der Menschheit in den Kreis der Untersuchung gezogen. Das Material der Geisteswissenschaften wird in den Grenzen des nun der Geschichte anheimgefallenen griechischen Lebens mit kritischem Bewußtsein untersucht und gesammelt. Einzelne Systeme der Kultur, vor allem die Sprache, werden einer Zergliederung unterworfen. Die vergleichende Betrachtung der Staaten ist zum festen Besitz der Wissenschaft geworden. Auf sie gestützt, unternimmt Polybius, das große weltgeschichtliche Phänomen, welches den Horizont seiner Zeit erfüllt, Roms Aufsteigen zur Weltherrschaft, der Erklärung zu unterwerfen. In seinem Werke liegt ein Versuch vor, die politische Wissenschaft, wie wir sie an Aristoteles in ihrer Stärke und ihren Grenzen charakterisiert haben, zur Grundlage einer erklärenden Geschichtswissenschaft zu machen. Seine vergleichende Zergliederung der Verfassungen (wie sie in den Fragmenten des 6. Buches erhalten ist) findet in der gemischten römischen Verfassung ein Gleichgewicht der Gewalten verwirklicht, vermöge dessen jede einzelne dieser Gewalten unter der Kontrolle der anderen steht und so in ihren Überschreitungen gehemmt wird. Hierzu treten ihm als erklärende Gründe der römischen Machtentfaltung eine glückliche Organisation des Staates in bezug auf materielle Mittel, durch die Rom erreicht, was z.B. Sparta trotz seiner ebenfalls gemischten Verfassung nicht erreichen konnte, sowie ein auf Verehrung der Götter gegründeter Rechtssinn. Die Weltbeschreibung des Plinius kann wenigstens in Rücksicht ihres Planes, bei großer Oberflächlichkeit der Ausführung, als der Abschluß der großen Arbeit der alten Völker Europas gelten, den Kosmos von den Bewegungen der Massen im Weltraum bis zu der Verbreitung und dem geistigen Leben des Menschengeschlechts auf der[248] Erde zu umfassen. Und zwar verfolgt er besonders gern die Wirkung des Naturzusana menhangs auf die menschliche Kultur. In der Morgendämmerung griechischen Geisteslebens war der Begriff des Kosmos aufgegangen; nun war in den großen Arbeiten eines Eratosthenes, Hipparch und Ptolemäus, von deren umfassendem Geiste wir noch einen Hauch in dem Plan des Plinius empfinden, den Jugendträumen dieser Völker im Alter die Erfüllung geworden.

Jedoch die Kultur der alten Welt zerbrach, ohne daß die Einzel-wissenschaften zu einem Ganzen sich verknüpft hätten, welches wirklich die Stelle der Metaphysik hätte ausfüllen können. Es gab wohl Skeptizismus, aber es gab keine Erkenntnistheorie, welche doch erst den Zusammenhang der Einzelwissenschaften neu zu organisieren vermag, wenn die große Illusion der metaphysischen Grundlegung der Wissenschaften sich aufgelöst hat. Was der Geist auf seinem Eroberungszug durch die ganze Welt nicht zu erringen vermocht hatte, sichere Begründung seiner Gedanken wie seines Handelns, das findet er nun, zurückgekehrt, in sich selber.[249]

220

Vgl. die ausgezeichnete Darlegung in den Recherches historiques sur le principe d'Archimède par M. Ch. Thurot (revue archéol. 1868-69).

221

Über Asklepiades vgl. Lasswitz, Vierteljahrsschrift für wissensch. Philos. III, 425 ff.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 245-250.
Lizenz:
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