[56] Die preußische Bourgeoisie, die als der entwickeltste Teil der ganzen deutschen Bourgeoisie hier ein Recht hat, diese mit zu repräsentieren, fristet ihre politische Existenz durch einen Mangel an Mut, der in der Geschichte, selbst dieser wenig couragierten Klasse, seinesgleichen nicht findet und nur durch die gleichzeitigen auswärtigen Ereignisse einigermaßen entschuldigt wird. Im März und April 1848 hatte sie das Heft in der Hand; aber kaum begannen die ersten selbständigen Regungen der Arbeiterklasse, als die Bourgeoisie sofort Angst bekam und sich unter den Schutz derselben Bürokratie und desselben Feudaladels zurückflüchtete, die sie eben noch mit Hülfe der Arbeiter besiegt hatte. Die Periode Manteuffel war die unvermeidliche Folge. Endlich kam – ohne Zutun der bürgerlichen Opposition – die »Neue Ära«. Der unverhoffte Glücksfall verdrehte den Bürgern die Köpfe. Sie vergaßen ganz die Stellung, die sie sich durch ihre wiederholten Verfassungsrevisionen, ihre Unterwerfung unter die Bürokratie und die Feudalen (bis zur Wiederherstellung der feudalen Provinzial- und Kreisstände), ihr fortwährendes Zurückweichen von Position zu Position selbst gemacht hatten. Sie glaubten jetzt, wieder das Heft in der Hand zu haben, und vergaßen ganz, daß sie selbst alle die ihnen feindlichen Mächte wiederhergestellt hatten, die, seitdem erstarkt, ganz wie vor 1848 die wirkliche Staatsgewalt in Besitz hielten. Da kam die Armeereorganisation wie eine brennende Bombe zwischen sie gefahren.
Die Bourgeoisie hat nur zwei Wege, sich politische Macht zu verschaffen. Da sie eine Armee von Offizieren ohne Soldaten ist und sich diese Soldaten nur aus den Arbeitern schaffen kann, so muß sie entweder sich die Allianz der Arbeiter sicherstellen oder sie muß den ihr nach oben gegenüberstehenden Mächten, namentlich dem Königtum, die polnische Macht stückweise abkaufen. Die Geschichte der englischen und französischen Bourgeoisie zeigt, daß kein anderer Weg existiert.[56]
Nun hatte die preußische Bourgeoisie – und zwar ohne allen Grund – alle Lust verloren, eine aufrichtige Allianz mit den Arbeitern zu schließen. Im Jahre 1848 war die, damals noch in den Anfängen der Entwickelung und Organisation begriffene, deutsche Arbeiterpartei bereit, für sehr billige Bedingungen die Arbeit für die Bourgeoisie zu tun, aber diese fürchtete: die geringste selbständige Regung des Proletariats mehr als den Feudaladel und die Bürokratie. Die um den Preis der Knechtschaft erkaufte Ruhe schien ihr wünschenswerter als selbst die bloße Aussicht des Kampfes mit der Freiheit. Seitdem war dieser heilige Schrecken vor den Arbeitern bei den Bürgern traditionell geworden, bis endlich Herr Schulze-Delitzsch seine Sparbüchsenagitation begann. Sie sollte den Arbeitern beweisen, daß sie kein größeres Glück haben könnten, als zeitlebens, und selbst in ihren Nachkommen, von der Bourgeoisie industriell ausgebeutet zu werden; ja daß sie selbst zu dieser Ausbeutung beitragen müßten. Indem sie durch allerhand industrielle Vereine sich selbst einen Nebenverdienst und damit den Kapitalisten die Möglichkeit zur Herabsetzung des Arbeitslohns verschafften. Obwohl nun die industrielle Bourgeoisie sicher neben den Kavallerielieutenants die ungebildetste Klasse deutscher Nation ist, so war doch bei einem geistig so entwickelten Volk wie dem deutschen eine solche Agitation von vornherein ohne alle Aussicht auf dauernden Erfolg. Die einsichtigeren Köpfe der Bourgeoisie selbst mußten begreifen, daß daraus nichts werden konnte, und die Allianz mit den Arbeitern fiel abermals durch.
Blieb das Feilschen mit der Regierung um politische Macht, wofür bares Geld – aus der Volkstasche natürlich – bezahlt wurde. Die wirkliche Macht der Bourgeoisie im Staate bestand nur in dem, noch dazu sehr verklausulierten – Steuerbewilligungsrecht. Hier also mußte der Hebel angesetzt werden, und eine Klasse, die sich so vortrefflich aufs Abdingen verstand, mußte hier sicher im Vorteil sein.
Aber nein. Die preußische bürgerliche Opposition – ganz im Gegensatz namentlich zu dem klassischen Bürgertum Englands im 17. und 18. Jahrhundert – verstand die Sache dahin: daß sie Macht erfeilsche, ohne Geld dafür zu zahlen.
Vom rein bürgerlichen Standpunkt aus und unter voller Berücksichtigung der Verhältnisse, unter denen die Armeereorganisation vorgebracht wurde, was war da die richtige Politik der bürgerlichen Opposition? Sie mußte es wissen, wenn sie ihre Kräfte kannte, daß sie, die eben noch aus der Manteuffelschen Erniedrigung – und wahrlich ohne ihr eigenes Zutun – emporgehoben worden war, sicher nicht die Macht hatte, die faktische Durchführung des Planes zu hindern, die ja auch ins Werk gesetzt wurde.[57] Sie mußte wissen, daß mit jeder fruchtlos hingegangenen Session die neue, faktisch bestehende Einrichtung schwerer zu beseitigen war; daß also die Regierung von Jahr zu Jahr weniger bieten würde, um die Zustimmung der Kammer zu erlangen. Sie mußte wissen, daß sie noch lange nicht soweit war, Minister ein- und absetzen zu können, daß also, je länger der Konflikt dauerte, je weniger zu Kompromissen geneigte Minister sie sich gegenüber haben würde. Sie mußte endlich wissen, daß es vor allem ihr eignes Interesse war, die Sache nicht auf die Spitze zu treiben. Denn ein ernstlicher Konflikt mit der Regierung mußte, bei dem Entwicklungsstande der deutschen Arbeiter, notwendig eine unabhängige Arbeiterbewegung ins Leben rufen und ihr damit wieder für den äußersten Fall das Dilemma vorführen: entweder eine Allianz mit den Arbeitern, aber diesmal unter weit ungünstigeren Bedingungen als 1848, oder aber auf die Knie vor der Regierung und: pater, peccavi!
Die liberale und fortschrittliche Bourgeoisie mußte demnach die Armeereorganisation mitsamt der davon unzertrennlichen Erhöhung des Friedensstandes einer unbefangenen sachlichen Prüfung unterwerfen, wobei sie wahrscheinlich zu ungefähr denselben Resultaten gekommen wäre wie wir. Sie durfte dabei nicht vergessen, daß sie die vorläufige Einführung der Neuerung doch nicht hindern und ihre schließliche Feststellung nur verzögern konnte, solange der Plan so viel richtige und brauchbare Elemente enthielt. Sie mußte also vor allen Dingen sich hüten, von vornherein in eine direkt feindliche Stellung gegen die Reorganisation zu kommen; sie mußte im Gegenteil diese Reorganisation und die dafür zu bewilligenden Gelder benutzen, um sich dafür von der »Neuen Ära« möglichst viel Äquivalente zu kaufen, um die 9 oder 10 Millionen neue Steuern in möglichst viel politische Gewalt für sich selbst umzusetzen.
Und was war da nicht alles noch zu tun! Da war die ganze Manteuffelsche Gesetzgebung über die Presse und das Vereinsrecht; da war die ganze, aus der absoluten Monarchie unverändert übernommene Polizei- und Beamtengewalt; die Beseitigung der Gerichte durch Kompetenzkonflikte; die Provinzial- und Kreisstände; vor allem die unter Manteuffel herrschende Auslegung der Verfassung, gegenüber welcher eine neue konstitutionelle Praxis festzustellen war; die Verkümmerung der städtischen Selbstregierung durch die Bürokratie; und noch hundert andere Dinge, die jede andere Bourgeoisie in gleicher Lage gern mit einer Steuervermehrung von 1/2 Taler pro Kopf erkauft hätte und die alle zu haben waren, wenn man einigermaßen geschickt verfuhr. Aber die bürgerliche Opposition dachte anders. Was die Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit anging, so hatten Manteuffels[58] Gesetze gerade dasjenige Maß festgestellt, worin die Bürger sich behaglich fühlten. Sie konnten ungehindert gelind gegen die Regierung demonstrieren; jede Vermehrung der Freiheit brachte ihnen weniger Vorteil als den Arbeitern, und ehe die Bourgeoisie den Arbeitern Freiheit zu einer selbständigen Bewegung gab, ließ sie sich lieber etwas mehr Zwang von seiten der Regierung antun. Ebenso war es mit der Beschränkung der Polizei- und Beamtengewalt. Die Bourgeoisie glaubte, durch das Ministerium der »Neuen Ära« die Bürokratie sich schon unterworfen zu haben, und sah es gern, daß diese Bürokratie freie Hand gegen die Arbeiter behielt. Sie vergaß ganz, daß die Bürokratie weit stärker und lebenskräftiger war als irgendein bürgerfreundliches Ministerium. Und dann bildete sie sich ein, daß mit dem Fall Manteuffels das Tausendjährige Reich der Bürger eingetreten sei und daß es sich nur noch darum handle, die reife Ernte der bürgerlichen Alleinherrschaft einzuheimsen, ohne einen Pfennig dafür zu zahlen.
Aber die vielen zu bewilligenden Gelder, nachdem schon die paar Jahre seit 1848 soviel Geld gekostet, die Staatsschuld so vermehrt und die Steuern so erhöht hatten! – Meine Herren, Sie sind die Deputierten des jüngsten konstitutionellen Staats der Welt, und Sie wissen nicht, daß der Konstitutionalismus die teuerste Regierungsform der Welt ist? fast noch teurer als der Bonapartismus, der – après moi le déluge – die alten Schulden durch immer neue deckt und so in zehn Jahren die Ressourcen eines Jahrhunderts diskontiert? Die goldenen Zeiten des gefesselten Absolutismus, die Ihnen noch immer vorschweben, kommen nie wieder.
Aber die Verfassungsklauseln wegen Forterhebung einmal bewilligter Steuern? – Jedermann weiß, wie verschämt die »Neue Ära« im Geldfordern war. Dadurch daß man, für wohlverbriefte Gegenkonzessionen, die Ausgaben für die Reorganisation ins Ordinarium setzte, dadurch war noch wenig vergeben. Es handelte sich um die Bewilligung neuer Steuern, wodurch diese Ausgaben zu decken waren. Hier konnte man knausern, und dazu konnte man sich kein besseres Ministerium wünschen als das der Neuen Ära. Man behielt doch das Heft noch in der Hand, soweit man es vorher besaß, und man hatte sich neue Machtmittel auf andern Gebieten erobert.
Aber die Stärkung der Reaktion, wenn man ihr Hauptwerkzeug, die Armee, verdoppelte? – Dies ist ein Gebiet, wo die Fortschrittsbürger mit sich selbst in die unauflöslichsten Konflikte geraten. Sie verlangen von Preußen, es soll die Rolle des deutschen Piemont spielen. Dazu gebärt eine starke schlagfertige Armee. Sie haben ein Ministerium der Neuen Ära, das[59] im stillen dieselben Ansichten hegt, das beste Ministerium, das sie, unter den Umständen, haben können. Sie verweigern diesem Ministerium die verstärkte Armee. – Sie führen tagtäglich, von Morgen bis Abend, Preußens Ruhm, Preußens Größe, Preußens Machtentwickelung auf der Zunge; aber sie verweigern Preußen eine Armeeverstärkung, die nur im richtigen Verhältnis zu derjenigen steht, welche die übrigen Großmächte seit 1814 bei sich eingeführt haben. – Weshalb das alles? Weil sie fürchten, diese Verstärkung werde nur der Reaktion zugute kommen, werde den heruntergekommenen Offiziersadel heben und überhaupt der feudalen und bürokratisch-absolu tistischen Partei die Macht geben, mit einem Staatsstreich den ganzen Konstitutionalismus zu begraben.
Zugegeben, daß die Fortschrittsbürger recht hatten, die Reaktion nicht zu stärken, und daß die Armee der sicherste Hinterhalt der Reaktion war. Aber gab es denn je eine bessere Gelegenheit, die Armee unter die Kontrolle der Kammer zu bringen, als grade diese Reorganisation, vorgeschlagen von dem bürgerfreundlichsten Ministerium, das Preußen in ruhigen Zeiten je erlebt hatte? Sobald man sich bereit erklärte, die Armeeverstärkung unter gewissen Bedingungen zu bewilligen, war es da nicht grade möglich, über die Kadettenhäuser, die Adelsbevorzugung und alle anderen Klagepunkte ins reine zu kommen und Garantien zu erlangen, welche dem Offizierkorps einen mehr bürgerlichen Charakter gaben? Die »Neue Ära« war sich nur über eins klar: daß die Armeeverstärkung durchgesetzt werden müsse. Die Umwege, auf denen sie die Reorganisation ins Leben schmuggelte, bewiesen am besten ihr böses Gewissen und ihre Furcht vor den Abgeordneten. Hier mußte mit beiden Händen zugegriffen werden; eine solche Chance für die Bourgeoisie war in hundert Jahren nicht wieder zu erwarten. Was ließ sich nicht alles im Detail aus diesem Ministerium herausschlagen, wenn die Fortschrittsbürger die Sache nicht knauserig, sondern als große Spekulanten auffaßten!
Und nun gar die praktischen Folgen der Reorganisation auf das Offizierkorps selbst! Es mußten Offiziere für die doppelte Anzahl Bataillone gefunden werden. Die Kadettenhäuser reichten bei weitem nicht mehr aus. Man war so liberal wie noch nie vorher in Friedenszeiten; man offerierte die Lieutenantsstellen gradezu als Prämien an Studenten, Auskultatoren und alle gebildeten jungen Leute. Wer die preußische Armee nach der Reorganisation wiedersah, kannte das Offizierkorps nicht mehr. Wir sprechen nicht von Hörensagen, sondern von eigener Anschauung. Der spezifische Lieutenantsdialekt war in den Hintergrund gedrängt, die jüngeren Offiziere sprachen ihre natürliche Muttersprache, sie gehörten keineswegs einer[60] geschlossenen Kaste an, sondern repräsentierten mehr als je seit 1815 all; gebildeten Klassen und alle Provinzen des Staats. Hier war also die Position durch die Notwendigkeit der Ereignisse schon gewonnen; es handelte sich nur noch darum, sie zu behaupten und auszunutzen. Statt dessen wurde alles das von den Fortschrittsbürgern ignoriert und fortgeredet, als ob alle diese Offiziere adlige Kadetten seien. Und doch waren seit 1815 nie mehr bürgerliche Offiziere in Preußen als grade jetzt.
Beiläufig gesagt, schreiben wir das flotte Auftreten der preußischen Offiziere vor dem Feind im schleswig-holsteinischen Kriege hauptsächlich dieser Infusion frischen Blutes zu. Die alte Klasse Subalternoffiziere allein hätte nicht gewagt, so oft auf eigene Verantwortung zu handeln. In dieser Beziehung hat die Regierung recht, wenn sie der Reorganisation einen wesentlichen Einfluß auf die »Eleganz« der Erfolge zuschreibt; in welcher anderen Hinsicht die Reorganisation den Dänen furchtbar war, ist für uns nicht ersichtlich.
Endlich der Hauptpunkt: die Erleichterung eines Staatsstreichs durch die Verstärkung der Friedensarmee? – Es ist ganz richtig, daß Armeen die Werkzeuge sind, womit man Staatsstreiche macht, und daß also jede Armeeverstärkung auch die Durchführbarkeit eines Staatsstreichs vermehrt. Aber die für einen Großstaat erforderliche Armeestärke richtet sich nicht nach der größeren oder geringeren Aussicht auf Staatsstreiche, sondern nach der Größe der Armeen der anderen Großstaaten. Hat man A gesagt, so muß man auch B sagen. Nimmt man ein Mandat als preußischer Abgeordneter an, schreibt man Preußens Größe und europäische Machtstellung auf seine Fahne, so muß man auch zustimmen, daß die Mittel hergestellt werden, ohne welche von Preußens Größe und Machtstellung keine Rede sein kann. Können diese Mittel nicht hergestellt werden, ohne Staatsstreiche zu erleichtern, desto schlimmer für die Herren Fortschrittsmänner. Hätten sie sich nicht 1848 so lächerlich feig und ungeschickt benommen, die Periode der Staatsstreiche wäre wahrscheinlich längst vorbei. Unter den obwaltenden Umständen aber bleibt ihnen nichts übrig, als die Armeeverstärkung in der einen oder andern Form schließlich doch anzuerkennen und ihre Bedenken wegen Staatsstreichen für sich zu behalten.
Indes hat die Sache doch noch andere Seiten. Erstens war es immer geratener, mit einem Ministerium der »Neuen Ära« über die Bewilligung dieses Staatsstreichinstruments zu verhandeln als mit einem Ministerium Bismarck. Zweitens macht selbstredend jeder weitere Schritt zur wirklichen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht die preußische Armee ungeschickter zum Werkzeug für Staatsstreiche. Sobald unter der ganzen[61] Volksmasse das Verlangen nach Selbstregierung und die Notwendigkeit des Kampfes gegen alle widerstrebenden Elemente einmal durchgedrungen war, mußten auch die 20- und 21jährigen jungen Leute von der Bewegung erfaßt sein, und selbst unter feudalen und absolutistischen Offizieren mußte ein Staatsstreich immer schwerer mit ihnen durchzuführen nein. Je weiter die politische Bildung im Lande fortschreitet, je mißliebiger wird die Stimmung der eingestellten Rekruten werden. Selbst der jetzige Kampf zwischen Regierung und Bourgeoisie muß davon bereits Beweise geliefert haben.
Drittens ist die zweijährige Dienstzeit ein hinreichendes Gegengewicht gegen die Vermehrung der Armee. In demselben Maße wie die Armeeverstärkung für die Regierung die materiellen Mittel zu Gewaltstreichen vermehrt, in demselben Maß verringert die zweijährige Dienstzeit die moralischen Mittel dazu. Im dritten Dienstjahr mag das ewige Einpauken absolutistischer Lehren und die Gewohnheit des Gehorchens momentan und für die Dauer des Dienstes bei den Soldaten etwas fruchten. Im dritten Dienstjahr, wo der einzelne Soldat fast nichts Militärisches mehr zu lernen hat, nähert sich unser allgemeiner Wehrpflichtiger schon einigermaßen dem auf lange Jahre eingestellten Soldaten des französisch-östreichischen Systems. Er bekommt etwas vom Berufssoldaten und ist als solcher in allen Fällen weit leichter zu verwenden als der jüngere Soldat. Die Entfernung der Leute im dritten Dienstjahre würde die Einstellung von 60000 bis 80000 Mann mehr sicher aufwiegen, wenn man vom Staatsstreichgesichtspunkte ausgeht.
Nun aber kommt noch ein anderer und der entscheidende Punkt dazu. Wir wollen nicht leugnen, daß Verhältnisse eintreten könnten – dazu kennen wir unsere Bourgeoisie zu gut –, unter denen selbst ohne Mobilisierung, mit dem einfachen Friedensstand der Armee, ein Staatsstreich dennoch möglich wäre. Das ist aber nicht wahrscheinlich. Um einen großen Coup zu machen, wird man fast immer mobilmachen müssen. Und da tritt die Wendung ein. Die preußische Friedensarmee mag unter Umständen ein reines Werkzeug in den Händen der Regierung zur Verwendung im innern werden; die preußische Kriegsarmee sicher nie. Wer je Gelegenheit hatte, ein Bataillon erst auf Friedensfuß und dann auf Kriegsfuß zu sehen, kennt den ungeheuren Unterschied in der ganzen Haltung der Leute, im Charakter der ganzen Masse. Die Leute, die als halbe Knaben in die Armee eingetreten waren, kommen jetzt als Männer wieder zu ihr zurück; sie bringen einen Vorrat von Selbstachtung, Selbstvertrauen, Sicherheit und Charakter mit, der dem ganzen Bataillon zugute kommt. Das Verhältnis der Leute zu den Offizieren, der Offiziere zu den Leuten wird gleich ein anderes. Das[62] Bataillon gewinnt militärisch ganz bedeutend, aber politisch wird es – für absolutistische Zwecke – völlig unzuverlässig. Das konnte man noch beim Einmarsch in Schleswig sehen, wo zum großen Erstaunen der englischen Zeitungskorrespondenten die preußischen Soldaten überall an den politischen Demonstrationen offen teilnahmen und ihre durchaus nicht orthodoxen Gesinnungen ungescheut aussprachen. Und dies Resultat – die politische Verderbnis der mobilen Armee für absolutistische Zwecke – verdanken wir hauptsächlich der Manteuffelschen Zeit und der »neuesten« Ära. Im Jahre 1848 war es noch ganz anders.
Das ist eben eine der besten Seiten an der preußischen Wehrverfassung, vor wie nach der Reorganisation: daß mit dieser Wehrverfassung Preußen weder einen unpopulären Krieg führen noch einen Staatsstreich machen kann, der Dauer verspricht. Denn selbst wenn die Friedensarmee sich zu einem kleinen Staatsstreich gebrauchen ließe, so würde doch die erste Mobilmachung und die erste Kriegsgefahr genügen, um die ganzen »Errungenschaften« wieder in Frage zu stellen. Ohne die Ratifikation der Kriegsarmee wären die Heldentaten der Friedensarmee beim »innern Düppel« von nur kurzer Bedeutung; und diese Ratifikation wird je länger, je schwerer zu erlangen sein. Reaktionäre Blätter haben gegenüber den Kammern die »Armee« für die wahre Volksvertretung erklärt. Sie meinten damit natürlich nur die Offiziere. Wenn es je dahin käme, daß die Herren von der »Kreuz-Zeitung« einen Staatsstreich machten, wozu sie die mobile Armee nötig haben, sie würden ihr blaues Wunder erleben an dieser Volksvertretung, darauf können sie sich verlassen.
Darin aber liegt am Ende auch nicht die Hauptgarantie gegen den Staatsstreich. Die liegt darin: daß keine Regierung durch einen Staatsstreich eine Kammer zusammenbringen kann, die ihr neue Steuern und Anleihen bewilligt; und daß, selbst wenn sie eine dazu willige Kammer fertigbrächte, kein Bankier in Europa ihr auf solche Kammerbeschlüsse hin Kredit gelten würde. In den meisten europäischen Staaten wäre das anders. Aber Preußen steht nun einmal seit den Versprechungen von 1815 und den vielen vergeblichen Manövern bis 1848, Geld zu bekommen, in dem Rufe, daß man ihm ohne rechtsgültigen und unantastbaren Kammerbeschluß keinen Pfennig borgen darf. Selbst Herr Raphael von Erlanger, der doch den amerikanischen Konföderierten geborgt hat, würde einer preußischen Staatsstreichregierung schwerlich bares Geld anvertrauen. Das hat Preußen einzig und allein der Borniertheit des Absolutismus zu verdanken.
Hierin liegt die Stärke der Bourgeoisie: daß die Regierung, wenn sie in Geldnot kommt – und das muß sie früher oder später sicher –, genötigt ist, [63] selbst sich an die Bourgeoisie um Geld zu wenden, und diesmal nicht an die politische Repräsentation der Bourgeoisie, die am Ende weiß, daß sie zum Bezahlen da ist, sondern an die hohe Finanz, die an der Regierung ein gutes Geschäft machen will, die die Kreditfähigkeit einer Regierung an demselben Maßstabe mißt wie die jedes Privatmannes und der es total gleichgültig ist, ob der preußische Staat viel oder wenig Soldaten braucht:. Diese Herren diskontieren nur Wechsel mit drei Unterschriften, und wenn neben der Regierung nur das Herrenhaus, ohne das Abgeordnetenhaus, darauf unterschrieben hat oder ein Abgeordnetenhaus von Strohmännern, so sehen sie das für Wechselreiterei an und danken für das Geschäft.
Hier hört die Militärfrage auf, und die Verfassungsfrage fängt an. Einerlei durch welche Fehler und Verwickelungen, die bürgerliche Opposition ist jetzt einmal in die Stellung gedrängt: Sie muß die Militärfrage durchfechten, oder sie verliert den Rest von politischer Macht, den sie noch besitzt. Die Regierung hat bereits ihr ganzes Budgetbewilligungsrecht in Frage gestellt. Wenn nun die Regierung früher oder später doch ihren Frieden mit der Kammer machen muß, ist es da nicht die beste Politik, einfach auszuharren, bis dieser Zeitpunkt eintritt?
Nachdem der Konflikt einmal so weit getrieben – unbedingt ja. Ob mit dieser Regierung auf annehmbaren Grundlagen ein Abkommen zu schließen, ist mehr als zweifelhaft. Die Bourgeoisie hat sich durch Überschätzung ihrer eigenen Kräfte in die Lage versetzt, daß sie an dieser Militärfrage erproben muß, ob sie im Staate das entscheidende Moment oder gar nichts ist. Siegt sie, so erobert sie zugleich die Macht, Minister ab- und einzusetzen, wie das englische Unterhaus sie besitzt. Unterliegt sie, so kommt sie auf verfassungsmäßigem Wege nie mehr zu irgendwelcher Bedeutung.
Aber der kennt unsre deutschen Bürger schlecht, der der Ansicht wäre, daß eine solche Ausdauer zu erwarten steht. Die Courage der Bourgeoisie in politischen Dingen steht immer in genauem Verhältnis zu der Wichtigkeit, die sie in dem gegebenen Land in der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt. In Deutschland ist die soziale Macht der Bourgeoisie weit geringer als in England und selbst in Frankreich; sie hat sich weder mit der alten Aristokratie alliiert wie in England, noch diese mit Hülfe der Bauern und Arbeiter vernichtet wie in Frankreich. Die Feudalaristokratie ist in Deutschland noch immer eine Macht, eine der Bourgeoisie feindliche und obendrein mit den Regierungen verbündete Macht. Die Fabrikindustrie, die Basis aller sozialen Macht der modernen Bourgeoisie, ist in Deutschland weit weniger entwickelt als in Frankreich und England, so enorm auch ihre Fortschritte seit 1848 sind. Die kolossalen Kapitalansammlungen in einzelnen[64] Ständen, die in England und selbst Frankreich häufig vorkommen, sind in Deutschland seltener. Daher kommt der kleinbürgerliche Charakter unserer ganzen Bourgeoisie. Die Verhältnisse, in denen sie lebt, die Gesichtskreise, die sie sich bilden kann, sind kleinlicher Art; was Wunder, daß ihre ganze Denkweise ebenso kleinlich ist! Woher soll da der Mut kommen, eine Sache bis aufs Äußerste durchzufechten? Die preußische Bourgeoisie weiß sehr gut, in welcher Abhängigkeit sie, für ihre eigene industrielle Tätigkeit, von der Regierung steht. Konzessionen und Verwaltungskontrolle drücken wie ein Alp auf sie. Bei jeder neuen Unternehmung kann die Regierung ihr Schwierigkeiten in den Weg legen. Und nun gar auf dem politischen Gebiet! Während des Konflikts über die Militärfrage kann die Bourgeoiskammer nur verneinend auftreten, sie ist rein auf die Defensive verwiesen; indessen geht die Regierung angreifend vor, interpretiert die Verfassung auf ihre Weise, maßregelt die liberalen Beamten, annulliert die liberalen städtischen Wahlen, setzt alle Hebel der bürokratischen Gewalt in Bewegung, um den Bürgern ihren Untertanenstandpunkt klarzumachen, nimmt tatsächlich eine Position nach der andern und erobert sich so eine Stellung, wie sie selbst Manteuffel nicht Platte. Inzwischen geht das budgetlose Geldausgeben und Steuererheben seinen ruhigen Gang, und die Armeereorganisation gewinnt mit jedem Jahr ihres Bestehens neue Stärke. Kurz, der in Aussicht stehende endliche Sieg der Bourgeoisie erhält von Jahr zu Jahr einen revolutionäreren Charakter, und die täglich sich mehrenden Detailsiege der Regierung auf allen Gebieten erhalten mehr und mehr die Gestalt vollendeter Tatsachen. Dazu kommt eine von Bourgeoisie wie Regierung vollständig unabhängige Arbeiterbewegung, die die Bourgeoisie zwingt, entweder den Arbeitern sehr fatale Konzessionen zu machen oder gefaßt zu sein, im entscheidenden Augenblick ohne die Arbeiter agieren zu müssen. Sollte die preußische Bourgeoisie unter diesen Umständen den Mut haben, auszuharren bis aufs Äußerste? Sie müßte sich seit 1848 wunderbar verbessert haben – in ihrem eignen Sinn –, und die Kompromißsehnsucht, die sich in der Fortschrittspartei seit Eröffnung dieser Session tagtäglich ausseufzt, spricht nicht dafür. Wir fürchten, die Bourgeoisie wird auch diesmal keinen Anstand nehmen, sich selbst zu verraten.[65]
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