[384] Wir behalten uns vor, weiterhin die Frage zu untersuchen, ob ein solcher Vorschlag auf allgemeine, gleichmäßige und stufenweise Herabsetzung der Dienstzeit durch internationalen Vertrag Aussicht auf Annahme hat. Wir wollen einstweilen von der Voraussetzung ausgehn, er sei angenommen worden. Wird er dann vom Papier in die Wirklichkeit übersetzt, wird er von allen Seiten ehrlich durchgeführt werden?
Im ganzen und großen sicher. Erstens wird sich eine irgendwie der Mühe werte Umgehung nicht verheimlichen lassen. Zweitens aber werden schon die Bevölkerungen selbst für die Ausführung sorgen. Kein Mensch bleibt freiwillig in der Kaserne, wenn er über die gesetzliche Zeit dort behalten wird.
Was die einzelnen Länder angeht, so werden Österreich und Italien sowie die Staaten zweiten und dritten Ranges, die die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, einen solchen Vertrag als eine befreiende Tat begrüßen und mit Vergnügen buchstäblich einhalten. Über Rußland werden wir im nächsten Abschnitt sprechen. Wie aber steht es mit Frankreich? Und Frankreich ist hier unbedingt das entscheidende Land.
Hat Frankreich den Vertrag einmal unterzeichnet und ratifiziert, dann ist kein Zweifel, daß es ihn im ganzen und großen wird halten müssen. Wir wollen aber zugeben, daß die in den besitzenden Klassen und in dem noch nicht sozialistischen Teil der Arbeiterklasse bestehende Revancheströmung momentan die Oberhand bekommen und direkte oder auf Wortklauberei begründete Überschreitungen der Vertragsgrenzen herbeifuhren kann. Solche Überschreitungen können aber nie von Bedeutung sein, denn sonst würde man in Paris vorziehn, den Vertrag zu kündigen. Bei solchen kleinen Übervorteilungen aber ist Deutschland in der glücklichen Lage, großmütig ein Auge zudrücken zu können. Trotz aller sehr anerkennenswerten Anstrengungen Frankreichs, eine Wiederholung der Niederlagen[384] von 1870 unmöglich zu machen, ist ihm Deutschland noch um weit mehr voraus, als sich auf den ersten Blick zeigt. Erstens ist da der mit jedem Jahr wachsende Überschuß der Bevölkerung Deutschlands, der jetzt schon über zwölf Millionen beträgt. Zweitens der Umstand, daß in Preußen das gegenwärtige Militärsystem schon seit über siebzig Jahren besteht, daß es bei der Bevölkerung sich eingelebt hat, daß es bei einer langen Reihe von Mobilmachungen in allen Details erprobt worden, daß alle dabei vorkommenden Schwierigkeiten und die Art ihrer Überwindung praktisch durchgemacht und bekannt sind – Vorteile, die auch den übrigen deutschen Heereskörpern zugute kommen. In Frankreich dagegen muß die erste allgemeine Mobilmachung noch probiert werden, und das bei einer für diesen Zweck viel verwickelteren Organisation. Drittens aber ist in Frankreich die undemokratische Einrichtung der Einjahrig-Freiwilligen auf unüberwindliche Hindernisse gestoßen; die dreijährigen Soldaten haben die einjährigen Privilegierten einfach aus der Armee herausschikaniert. Dies beweist, wie tief das öffentliche politische Bewußtsein und die von ihm geduldeten politischen Institutionen Deutschlands unter denen Frankreichs stehn. Was aber politisch ein Mangel, ist in diesem Fall militärisch ein Vorteil. Es ist außer allem Zweifel, daß kein Land, im Verhältnis zur Bevölkerung, eine solche Menge junger Leute durch seine Mittel- und Hochschulen schickt, wie gerade Deutschland, und da bietet das Institut der Einjährig-Freiwilligen, undemokratisch und politisch verwerflich wie es ist, der Heeresleitung ein vortreffliches Mittel, die Mehrzahl dieser in allgemeiner Hinsicht schon genügend vorgebildeten jungen Leute auch militärisch zum Offiziersdienst auszubilden. Der Feldzug von 1866 brachte dies zuerst zur Anschauung, seitdem aber und besonders seit 1871 ist diese Seite der kriegerischen Stärke Deutschlands ganz besonders, fast bis zum Exzeß gepflegt worden. Und wenn auch unter den deutschen Reserveoffizieren so viele neuerdings ihr möglichstes getan haben, ihren Stand lächerlich zu machen, so ist doch kein Zweifel, daß sie, in der Masse genommen, ihren französischen Berufsgenossen, Mann gegen Mann, in militärischer Beziehung überlegen sind und, was die Hauptsache, daß Deutschland unter seinen Reservisten und Landwehrmännern einen weit höheren Prozentsatz von zum Offiziersdienst qualifizierten Leuten besitzt als irgendein andres Land.
Dieser eigentümliche Reichtum an Offizieren befähigt Deutschland, im Augenblick der Mobilmachung eine unverhältnismäßig größere Zahl von bereits im Frieden vorbereiteten Neuformationen aufzustellen als irgendein andres Land. Nach der – soviel ich weiß – sowohl im Reichstag wie in der[385] Militärkommission unwidersprochen gebliebenen Behauptung Richters (»Freisinnige Zeitung«, 26. November 1892), wird jedes deutsche Infanterieregiment ein mobiles Reserveregiment, zwei Landwehrbataillone und zwei Ersatzbataillone für den Krieg zu stellen imstande sein. Also je drei Bataillone liefern zehn, oder die 519 Bataillone der 173 Friedensregimenter verwandeln sich im Krieg in 1730 Bataillone, wobei noch Jäger und Schützen ungerechnet sind. Und das in einer so kurzen Zeit, wie kein andres Land dies nur annähernd erreichen kann.
Die französischen Reserveoffiziere, wie mir einer von ihnen zugab, sind weit weniger zahlreich; sie sollen aber ausreichen, um die Cadres der nach amtlichen Veröffentlichungen vorgesehenen Neuformationen zu füllen. Dazu gestand der Mann, daß die Hälfte dieser Offiziere nicht viel tauge. Die fraglichen Neuformationen reichen aber nicht entfernt an das, was nach dem Gesagten Deutschland zu leisten imstande ist. Und dann sind die Offiziere, die Frankreich stellen kann, sämtlich verwendet, während Deutschland deren noch immer übrig behält.
In allen früheren Kriegen fehlten nach ein paar Monaten Feldzug die Offiziere. Bei allen andern Ländern wird das auch jetzt noch der Fall sein. Deutschland allein ist an Offizieren unerschöpflich. Und da sollte man es den Franzosen nicht durch die Finger sehn können, wenn sie ihre Leute hier und da zwei bis drei Wochen über die Vertragszeit exerzieren lassen?[386]