Zweite Vorlesung

[16] [In welche dieser Epochen die gegenwärtige Zeit fallen möge? Grundmaxime eines solchen Zeitalters. Der angeborne Verstand desselben, der ihm als Kriterium aller Realität dienet. Allgemeine Schilderung seines daraus erfolgenden Welt- und Glaubenssystems. Seine Erhebung der Erfahrung zum Höchsten, sein wissenschaftlicher Skepticismus, seine artistischen, politischen, moralischen und religiösen Grundsätze.]


Ehrwürdige Versammlung!


Zuvörderst einen gutmüthigen Rückblick auf die vorige Stunde, der da wünscht, mit so gutem Herzen aufgenommen zu werden, als er aus gutem Herzen kommt. – Man will bemerkt haben, dass mehrere Mitglieder dieser Versammlung dem grössten Theile desjenigen, was ich im Anfange des vorigen Vortrages gesagt, nicht ganz haben folgen können. Inwiefern dies noch einen anderen Grund haben sollte, als allein die Unbekanntschaft mit der Sprache, der Stimme, der Manier des Vortragenden, und die Neuheit der ganzen Situation, welches alles durch einige Minuten des Gewöhnens erst überwunden werden musste: so erlauben Sie mir zur Beruhigung und zum Troste, wenn der Fall auch in der Zukunft wieder vorkommen sollte, folgendes hinzuzufügen. – Gerade dasjenige, was diese Mitglieder, jenen Nachrichten zufolge, nicht ganz gefasst, haben sollen, gehörte weniger zur Sache, als es durch die Regeln der Kunst, die wir hier treiben, die Kunst des Philosophirens, gefordert wurde. Es diente uns, um einen Eingang und Anfang zu finden in dem Umkreise des übrigen gesammten Wissens, aus welchem wir unsern Gegenstand herausheben; und um den Ort der Trennung aus diesem System des Wissens genau zu bestimmen: es gehörte zu der Rechenschaft, welche wir Kennern und Meistern über unser Verfahren schuldig waren. Jede andere Kunst, als die Dichtkunst, Musik, Malerei, wird geübt, ohne dass die Ausübung zugleich die Regeln angebe, nach welcher sie verfährt; nur die sich selbst schlechthin durchsichtige Kunst des Philosophirens darf keinen Schritt thun, ohne zugleich die Gründe anzugeben, warum sie also einherschreitet; und in ihr geht die Theorie und die Ausübung Hand in Hand. So musste ich letzthin verfahren, und so werde ich bei ähnlichen Gelegenheiten wiederum verfahren müssen. So aber jemand ohne weiteren Beweis voraussetzen will, dass[16] ich wohl richtig und nach den Regeln meiner Kunst verfahren werde, und so jemand das, was ich als Grundstein des Gebäudes hingestellt, ruhig und unbefangen an seinem eigenen Wahrheitsgefühle erproben will: so entgeht einem solchen durch den Verlust jener zur Rechenschaft gehörigen Theile nichts Wesentliches; und es würde für seinen Zweck vollkommen hinreichend seyn, wenn er aus dem vorigen Vortrage folgendes wohl verstanden und es wahr gefunden, und es im Gedächtnisse behalten hätte, um das künftige daran zu knüpfen.

Wenn er wohl verstanden, und wahr gefunden und im Gedächtnisse behalten hätte folgendes: Das Leben der menschlichen Gattung hängt nicht ab vom blinden Ohngefähr, noch ist es, wie die Oberflächlichkeit gar oft sich vernehmen lässt, sich selbst allenthalben gleich, so dass es immer gewesen wäre, so wie es jetzt ist, und immer so bleiben werde: sondern es geht einher und rückt vorwärts nach einem festen Plane, der nothwendig erreicht werden muss, und darum sicher erreicht wird. Dieser Plan ist der: dass die Gattung in diesem Leben mit Freiheit sich zum reinen Abdruck der Vernunft ausbilde. Ihr gesammtes Leben zertheilt sich, – gesetzt, dass man auch die strenge Ableitung dieser Zertheilung nicht scharf gefasst oder vergessen hätte, – es zertheilt sich in fünf Hauptepochen: diejenige, da die Vernunft als blinder Instinct herrscht; diejenige, da dieser Instinct in eine äusserlich gebietende Autorität verwandelt wird diejenige, da die Herrschaft dieser Autorität, und mit ihr der Vernunft selber zerstört wird; diejenige, da die Vernunft und ihre Gesetze mit klarem Bewusstseyn begriffen werden; endlich diejenige, da durch fertige Kunst alle Verhältnisse der Gattung nach jenen Gesetzen der Vernunft gerichtet und geordnet werden; und um diese Stufenfolge auch durch ein sinnliches Mittel recht fest an Ihr Gedächtniss zu knüpfen, bedienten wir uns des allbekannten Bildes vom Paradiese. Ferner, auch wenn man noch folgendes wüsste: in irgend eine dieser fünf Epochen muss unser gegenwärtiges Zeitalter, welchem eigentlich die ganze angestellte Betrachtung gilt, fallen; der Grundbegriff dieser Epoche nun muss vorzüglich vor dem der übrigen vier, die[17] wir, ausser inwiefern wir ihrer zur Erklärung der gewählten bedürfen, fallen lassen, herausgehoben, und aus ihm die Phänomene des Zeitalters, als seine nothwendigen Folgen, entwickelt werden, und an dieser Stelle muss der zweite Vortrag anheben.

Und so hebe er denn an, und zwar mit der Erklärung auf welchem Standpuncte des gesammten Erdenlebens der Gattung, nach meinem Erachten, das uns gegenwärtige Zeitalter stehe. – Ich für meine Person halte dafür, dass die gegenwärtige Zeit gerade in dem Mittelpuncte der gesammten Zeit stehe; und falls man die beiden ersten Epochen unserer früheren Aufzählung, in denen die Vernunft zuerst unmittelbar durch den Instinct, sodann mittelbar als Instinct durch die Autorität herrscht, als die Eine Epoche der blinden Vernunftherrschaft, und ebenso die beiden letzter. derselben Aufzählung, in denen die Vernunft zuerst ins Wissen, und sodann vermittelst der Kunst in das Leben eintritt, gleichfalls als die Eine Epoche der sehenden Vernunftherrschaft charakterisiren wollte: – so vereinigt die gegenwärtige Zeit die Enden zweier in ihrem Princip durchaus verschiedener Wellen: der Welt der Dunkelheit und der der Klarheit, der Welt des Zwanges und der der Freiheit, ohne doch einer von beiden zuzugehören. Oder auch, die gegenwärtige Zeit steht meines Erachtens in der Epoche, welche nach meiner früheren Aufzählung die dritte war, und die ich mit folgenden Worten charakterisirt habe: die Epoche der Befreiung, unmittelbar von der gebietenden äusseren Autorität, mittelbar von der Botmässigkeit des Vernunftinstincts und der Vernunft überhaupt in jeglicher Gestalt: das Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit, und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit. – Unsere Zeit steht meines Erachtens in dieser Epoche; es versteht sich mit den Einschränkungen die ich auch schon oben beigefügt, dass ich dadurch nicht alle dermalen lebende Individuen, sondern nur diejenigen zu treffen begehre, welche Producte der Zeit sind, und in denen ihr Zeitalter sich rein und klar ausspricht.

Dies sey denn nun gesagt, und gesagt mit diesem Einenmale[18] für immer. Einmal sagen musste ich es, denn dieses mein erklärtes Erachten ist der einige Grund, warum ich für meine Entwickelung gerade dasjenige Princip erfasse, welches ich erfassen werde, liegen lassend die übrigen vier, da ich ausserdem entweder alle fünf, oder doch wenigstens irgend ein anderes, als das gewählte, entwickeln müsste. Auch konnte ich es nur sagen, keinesweges beweisen. Dieser Beweis liegt ausserhalb des Gebiets des Philosophen, und fällt anheim dem Welt- und Menschenkenner; und dieser begehre ich an dieser Stelle nicht zu seyn. Gesagt habe ich es mit diesem Einenmale für immer; ich gehe von nun an ruhig und unbefangen, wie es dem Philosophen gebührt, an das als nothwendiges Grundprincip irgend eines Zeitalters schon oben aus dem Begriffe des irdischen Lebens überhaupt abgeleitete, keinesweges aber von uns erdichtete höhere Princip, und folgere aus demselben auf die Gestalt und die Phänomene eines Lebens aus diesem Princip, was da folgen mag. Ob nun das Ihren Augen gegenwärtige wirkliche Leben also aussieht, wie dasjenige, welches mir a priori, und geleitet lediglich durch die Regeln des Schlusses, aus dem Princip erfolgt, diese Beurtheilung fällt, wie schon erinnert, Ihnen anheim, und Sie urtheilen auf Ihre eigene Verantwortung; und was sie darüber auch sagen mögen, oder nicht sagen mögen, so will ich wenigstens keinen Theil daran haben. Habe ich es nach Ihrem Urtheile getroffen, so ist das recht und gut; habe ichs nichts getroffen, so haben wir doch wenigstens philosophirt, und wenn auch nicht über das gegenwärtige, denn doch immer über eins der möglichen und nothwendigen Zeitalter philosophirt, und so unsere Mühe nicht ganz verloren.

Das gegenwärtige Zeitalter, habe ich gesagt, schlechtweg, und ohne weitere Bestimmung; und es ist vorläufig ganz hinlänglich, wenn diese Worte also ohne weitere Bestimmung eben nur von der Zeit verstanden werden, in der wir, die wir dermalen leben, und mit einander denken und reden, da sind und leben. – Es ist hier noch gar nicht meine Absicht, bestimmte Jahrhunderte, oder auch Jahrtausende abzustecken seit denen etwa dasjenige, was ich für das gegenwärtige Zeitalter[19] halte, angebrochen sey. Offenbar lässt sich das Zeitalter nur an denjenigen Nationen beurtheilen und erkennen, die auf der Spitze der Cultur ihrer Zeiten stellen; da aber die Cultur von Volk zu Volk gewandert ist, so dürfte gar leicht mit dieser Cultur auch dasselbe Eine Zeitalter wandern von Volk zu Volk bei aller Veränderung des Klimas und des Bodens bleibend in seinem Princip unveränderlich Eins und dasselbe; und es dürfte also, vermöge des Zwecks, alle Völker zu einer einzigen grossen Gemeine zu vereinigen, die Zeit des Begriffs einen beträchtlichen Theil der chronologischen Zeit hindurch auf derselben Stelle anhalten, und den Zeitenfluss gleichsam zum Stillstande nöthigen. Besonders dürfte das letztere der Fall seyn mit einem Zeitalter, wie das von uns zu beschreibende, in welchem durchaus widerwärtige Welten aneinander treffen und sich bekämpfen, und langsam ein Gleichgewicht, und dadurch das freiwillige Absterben der allen Zeit zu erringen streben. Hierüber das nöthige und vor Misverständnissen verwahrende aus der Geschichte der wirklichen Welt beizutragen, wird erst sodann nützlich und zweckmässig seyn, nachdem wir uns erst mit dem Princip des Zeitalters genauer bekannt gemacht haben, und bei dieser Gelegenheit gelernt haben werden, wie die Weltgeschichte eigentlich zu befragen sey, und was wir in ihr zu suchen haben. Nicht, ob die oben von uns gesagten Worte vor Jahrhunderten schon die Wirklichkeit geschildert haben würden, falls sie damals jemand gesagt hätte, noch ob sie nach Jahrhunderten ebenso die Wirklichkeit schildern werden; sondern nur, ob sie dieselbe heute schildern, ist die Frage, worüber das Endurtheil Ihnen angetragen wird. –

So viel zur Vorerinnerung über unsere nächste Aufgabe, das Princip des vorausgesetzten Zeitalters zu entwickeln; jetzt an die Lösung dieser Aufgabe. Als Befreiung vom Zwange der blinden Autorität wozu der Vernunftinstinct bearbeitet worden, habe ich dieses Princip angegeben: Befreiung, also der Zustand da die Gattung sich erst allmählig frei macht, bald in diesem bald in jenem Individuum, bald von diesem bald von jenem Objecte, in Rücksicht dessen die Autorität sie[20] in Fesseln legte, keinesweges aber schon durchaus frei ist; sondern höchstens nur in denen es ist, oder sich wähnt, welche an der Spitze des Zeitalters stehen, und die übrigen anführen, leiten und zu sich herauf zu erheben suchen. Das Werkzeug dieser Befreiung von der Autorität ist der Begriff; denn das Wesen des dem Begriffe entgegengesetzten Instincts besteht darin, dass er blind ist, und das Wesen der Autorität, vermittelst welcher er im vorhergegangenen Zeitalter herrschte, darin, dass sie blinden Glauben und Gehorsam forderte. Demnach ist die Grundmaxime derer, die auf der Höhe des Zeitalters stehen, und darum das Princip des Zeitalters selber, dieses: durchaus nichts als seyend und bindend gelten zu lassen, als dasjenige, was man verstehe und klärlich begreife.

In Absicht dieser Grundmaxime, – dieselbe gerade so, wie wir sie ausgesprochen haben, und ohne weitere Nebenbestimmung genommen, – ist dieses dritte Zeitalter demjenigen, welches darauf folgen soll, dem vierten, dem Zeitalter der Vernunftwissenschaft, vollkommen gleich, und arbeitet gerade durch diese Gleichheit ihm vor. Auch vor der Wissenschaft ist durchaus nichts gültig, als das Begreifliche. Nur ist in Absicht der Anwendung dieses Princips zwischen den beiden Zeitaltern der Gegensatz, dass das dritte, welches wir nun in der Kürze das der leeren Freiheit nennen wollen, sein stehendes und schon vorhandenes Begreifen zum Maassstabe des Seyns macht; hingegen das der Wissenschaft umgekehrt das Seyn zum Maassstabe, keinesweges des ihm schon vorhandenen, sondern des ihm anzumuthenden Begreifens. Jenem ist nichts, als das, was es nun eben begreift; dieses will begreifen, und begreift – alles was da ist. Dieses, das Zeitalter der Wissenschaft, durchdringt mit seinem Begriffe schlechthin alles ohne Ausnahme, sogar das übrigbleibende absolut unbegreifliche, als das unbegreifliche; das erste, das begreifliche, um danach die Verhältnisse des Geschlechts zu ordnen; das zweite, das unbegreifliche, um sicher zu seyn, dass alles begreifliche erschöpft ist, indem es sich in den Besitz der Grenzen des Begreiflichen gesetzt hat: jenes, das Zeitalter der leeren Freiheit weiss nur[21] nichts davon, dass man erst mit Mühe, Fleiss und Kunst begreifen lernen müsse, sondern es hat ein gewisses Maass von Begriffen, und einen bestimmten gemeinen Menschenverstand schon fertig und bei der Hand, die ihm ohne die mindeste Arbeit eben angeboren sind, und braucht nun diese Begriffe und diesen Menschenverstand als den Maassstab des geltenden und seyenden. Es hat vor dem Zeitalter der Wissenschaft den grossen Vortheil, dass es alle Dinge weiss, ohne je etwas gelernt zu haben, und über alles, was ihm vorkommt, sofort und ohne weiteren Anstand urtheilen kann, ohne jemals der vorhergehenden Prüfung zu bedürfen. Was ich durch den unmittelbar mir beiwohnenden Begriff nicht begreife, das ist nicht, sagt die leere Freiheit; was ich durch den absoluten und in sich selber zu Ende gekommenen Begriff nicht begreife, das ist nicht, sagt die Wissenschaft.

Sie sehen, dass dieses Zeitalter auf einen vorhandenen Begriff und einen angeborenen Verstand fusset, der ihm über sein ganzes Welt- und Glaubenssystem unwiderruflich entscheidet; und wir müssten ohne Zweifel dieses sein Glaubenssystem mit Einem Blicke übersehen, und dem vorausgesetzten Zeitalter den innigsten Geist seines Lebens aus allen seinen Hüllen herausziehen, und ihn zur Schau stellen können, wenn wir nur jenen angeborenen Begriff und Verstand, als die Wurzel alles übrigen, gehörig erkennen. Diese Erkenntniss uns zu verschaffen sey von jetzt an unsere Aufgabe, und ich lade Sie zu diesem Behuf ein zur Auffassung eines tiefer liegenden Satzes.

Nemlich das dritte Zeitalter befreit sich von dem, mit einem gebietenden Zwange ihm aufgelegten Vernunftinstincte. Dieser Vernunftinstinct aber geht, wie wir gleichfalls schon oben angemerkt haben, durchaus nur auf die Verhältnisse und das Leben der Gattung als solcher, keinesweges auf das Leben des blossen Individuums Auf das letztere geht der blosse Naturtrieb der Selbsterhaltung und des persönlichen Wohlseyns (welcher letztere aus dem ersten folgt). Demnach kann einem Zeitalter, das von dem ersteren, dem Vernunftinstincte sich losmacht, ohne die Vernunft in einer anderen Gestalt an die[22] Stelle desselben zu bekommen, durchaus nichts Reelles übrigbleiben, als das Leben des Individuums, und was damit zusammenhängt und darauf sich bezieht. Setzen wir diese wichtige und für das künftige entscheidende Folgerung weiter auseinander.

Durchaus nur auf das Leben und die Verhältnisse der Gattung gehe der Vernunftinstinct, und überhaupt die Vernunft in jeglicher Gestalt: haben wir gesagt. Nemlich – dieses ist ein Salz, dessen Beweis hier nicht geführt werden kann, sondern der aus der höheren Philosophie, wo er streng erwiesen wird, hier nur als Lehnsatz herbeigezogen wird, – es ist nur Ein Leben, auch in Absicht des Subjects, das da lebt, d.h. es ist überall nur Ein lebendiges, die Eine lebende Vernunft: keinesweges also, wie man die Einheit der Vernunft auch wohl gewöhnlich aussagt und zugesteht, dass die Vernunft sey die Eine, allenthalben sich selbst gleiche und mit sich selber übereinstimmende Kraft und Eigenschaft vernünftiger Wesen, welche Wesen sodann doch für sich selbst bestehen sollen, und zu deren Daseyn jene Eigenschaft der Vernunft, als ein fremdes Ingrediens, ohne welches sie allenfalls auch hätten bestehen können, nur hinzukommt; sondern also, dass die Vernunft sey das einzig mögliche, auf sich selber beruhende und sich selber tragende Daseyn und Loben, wovon alles, was als daseyend und lebendig erscheint, nur die weitere Modification, Bestimmung, Abänderung und eigene Gestaltung ist. Ihnen, E. V., ist dieser Satz nicht einmal neu, sondern er lag schon in der durch die vorige Vorlesung gegebenen Beschreibung der Vernunft, worauf ich Sie besonders aufmerksam machte, und dieselbe bei sich festzusetzen Sie ersuchte. – Dass ich diesen Satz noch weiter auseinandersetze, um ihn wenigstens historisch klar zu machen, da ich ihn hier nicht beweisen kann: – es ist der grösste Irrthum und der wahre Grund aller übrigen Irrthümer welche mit diesem Zeitalter ihr Spiel treiben wenn ein Individuum sich einbildet, dass es für sich selber daseyn und leben, und denken und wirken könne, und wenn einer glaubt er selbst, diese bestimmte Person, sey das Denkende zu seinem Denken da er doch nur ein einzelnes Gedachtes[23] ist aus dem Einen allgemeinen und nothwendigen Denken. Sollte ich mit dieser Behauptung ein ungeheures Paradoxon ausgesprochen zu haben scheinen, so wird mich dieses keinesweges befremden; ich weiss zu gut dass dieser Schein nur dadurch entstehen könne, weil man vom gegenwärtigen Zeitalter nur zum gegenwärtigen Zeitalter sprechen kann, dass darin eben, falls ich mich nicht irre, der Grundcharakter desselben besteht, dass es jenen Satz nicht weiss, oder denselben, falls er ihm gesagt wird, höchst unglaublich und paradox findet. Widersprochen kann diesem Satze schlechthin aus keinem anderen Grunde werden, als aus dem Grunde des persönlichen Selbstgefühls, dessen Daseyn, als einer Thatsache des Bewusstseyns wir keinesweges abläugnen, indem wir es eben so gut in uns empfinden, als irgend ein anderer. Nur läugnen wir gar ernstlich ab die Gültigkeit dieses Gefühls da, wo von Wahrheit und eigentlicher Existenz die Rede ist, in der festen Ueberzeugung, dass über diese Fragen ganz etwas anderes entscheiden müsse, als die durchaus täuschenden Thatsachen des Bewusstseyns; und wir sind auf dem angemessenen Standpuncte vollkommen fähig, diese unsere Abläugnung durch entscheidende Gründe zu rechtfertigen. Sagen aber, und historisch mittheilen mussten wir diesen Satz, weil wir nur vermittelst desselben über das Zeitalter hinauskommen; keiner aber es charakterisiren, oder eine Charakteristik desselben begreifen kann, der nicht darüber hinaus ist; und ersuchen muss ich Sie, und denselben vorläufig zu leihen, bis ich auf eine populäre Weise Sie von Ihrer eigenen stillschweigenden Voraussetzung desselben überführe, welches in der nächsten Stunde geschehen soll.

Dieses erwähnte Eine und sich selber gleiche Leben der Vernunft wird, – wovon gleichfalls die höhere Philosophie den Grund, sowie die Art und Weise angiebt, – es wird, sage ich, lediglich durch die irdische Ansicht und in derselben, zu verschiedenen individuellen Personen zerspaltet, welche Personen nun durchaus nicht anders, als in dieser irdischen Ansicht und vermittelst derselben, keinesweges aber an sich und unabhängig von der irdischen Ansicht, da sind und existiren.[24] Sehen Sie hier den wahren Ursprung der verschiedenen individuellen Personen aus der Einen Vernunft, und den Grund der Nothwendigkeit, in dem Glauben an diese persönliche Existenz zu verharren für alle die, welche nicht durch die Wissenschaft sich über die irdische Ansicht emporgehoben haben.

(Damit ja nicht dieser Satz auf eine meinem Sinne ganz zuwiderlaufende Weise misverstanden werde, setze ich, aber bloss im Vorbeigehen, und ohne allen Zusammenhang mit meinem gegenwärtigen Vorhaben folgendes hinzu: die irdische Ansicht dauert, als Grund und Träger des ewigen Lebens, wenigstens in der Erinnerung auch ins ewige Leben fort, somit alles, was in dieser Ansicht liegt, daher auch alle individuelle Personen, in welche durch diese Ansicht die Eine Vernunft zerspaltet wurde; weit entfernt daher, dass aus meiner Behauptung etwas gegen die individuelle Fortdauer folge, giebt diese Behauptung vielmehr den einzigen haltbaren Beweis für sie her. Und dass ich es kurz zusammenfasse und entschieden ausdrücke: die Personen dauern in alle Ewigkeit fort, wie sie hier existiren, als nothwendige Erscheinungen der irdischen Ansicht, aber sie können in aller Ewigkeit nicht werden, was sie nie waren, oder sind, Wesen an sich.)

Gehen wir nach dieser kurzen Ausbeugung zurück zu unserem Vorhaben. Das erwähnte Eine und sieh selber gleiche Leben der Vernunft, welche in der irdischen Ansicht sich spaltet in verschiedene Individuen, und darum im Ganzen als Leben der Gattung erscheint, wird laut des obigen zu allererst durch den Vernunftinstinct begründet, und also hingestellt, wie es seinem eigenen inneren Gesetze zufolge seyn soll: und dieses zwar so lange, bis die Wissenschaft eintritt und jenes innere Gesetz in allen seinen Bestimmungen klar einsieht, und es einleuchtend demonstrirt und construirt; und nach der Wissenschaft die Kunst es wirklich also aufbauet. In diesem Grundgesetze liegen alle höheren, allein auf das Eine, und so wie das Eine hier erscheint, die Gattung, gehenden Ideen; welche Ideen über die Individualität hinwegsetzen, und eigentlich dieselbe im Gründe und Boden vernichten. Wo aber dieses[25] Grundgesetz nicht auf irgend eine Weise waltet, da kann es zu dem Einen, oder zur Gattung gar nicht kommen, sondern es bleibt lediglich die Individualität, als das allein vorhandene und herrschende übrig. Ein Zeitalter, welches von jenem Vernunftinstincte, als dem ersten Princip des Lebens der Gattung, sich befreit, und die Wissenschaft, als das zweite Princip desselben Lebens, noch nicht besitzt, muss sich in diesem Falle befinden; ihm kann durchaus nichts übrigbleiben, als die blosse nackte Individualität. Die Gattung, gerade das einzige, was da wahrhaft existirt, verwandelt sich ihm in eine blosse leere Abstraction, die da nicht existire, ausser in dem durch die Kraft irgend eines Individuums künstlich gemachten Begriffe dieses Individuums; und es hat gar kein anderes Ganzes, und ist kein anderes zu denken fähig, ausser ein aus Theilen zusammengestücktes, keinesweges aber ein in sich gerundetes organisches Ganze.

Dieses, einem solchen Zeitalter allein übrigbleibende individuelle und persönliche Leben ist bestimmt durch den Trieb der Selbsterhaltung und des Wohlseyns; weiter aber als bis zu diesem Triebe geht im Menschen die Natur nicht. Sie, welche dem Thiere noch einen besonderen Instinct für die Mittel seiner Erhaltung und seines Wohlseyns gab, liess hierin den Menschen beinahe ganz leer ausgehen, und verwies ihn darüber an seinen Verstand und seine Erfahrung; und es konnte nicht fehlen, dass sich diese letzteren im Verlaufe der Zeiten während der ersten beiden Epochen ausbildeten, und allmählig zu einer stehenden Kunstfertigkeit erwuchsen, – nemlich der Kunstfertigkeit, die Selbsterhaltung und das persönliche Wohlseyn möglichst zu befördern. Diese Art von Vernunft, E. V., diese Masse von Begriffen, nemlich die in dem allgemeinen Zeitbewusstseyn liegenden Resultate der Kunstfertigkeit dazuseyn, und wohlzuseyn, werden es seyn, welche das dritte Zeitalter vorfindet; diese Art von Verstand wird der gemeine und gesunde Menschenverstand seyn, der ihm ohne Arbeit und Mühe, als ein väterliches Erbtheil zukommt, und mit seinem Hunger und seinem Durste zugleich ihm angeboren wird, und welchen es nun als den sicheren Maassstab alles seyenden und geltenden anwendet.[26]

Unsere nächste Aufgabe ist gelöset, der Verstand des dritten Zeitalters ist, so wie wirs versprachen, leibhaftig aus seiner Verhüllung hervorgezogen und an den hellen Tag befördert, und es kann uns nun nicht fehlen, auch sein Welt- und Glaubenssystem ihm nachzubauen, so bündig, als es selber dasselbe je aufbauen mag. Zuvörderst ist die oben angegebene Grundmaxime des Zeitalters weiterbestimmt; und es ist klar, dass es auf seine aufgestellte Prämisse: was ich nicht begreife, das ist nicht, sofort folgern müsse: nun begreife ich überall nichts, als was sich auf mein persönliches Daseyn und Wohlseyn bezieht; darum ist auch nichts weiter; und die ganze Welt ist eigentlich nur darum da, damit Ich daseyn und wohlseyn könne. Wovon ich nicht begreife, wie es sich auf diesen Zweck beziehe, das ist nicht, und geht mich nichts an.

Diese Denkart waltet nun entweder nur praktisch, als verborgene und nicht zu deutlichem Bewusstseyn erhobene, dennoch aber wirkliche und wahrhafte Grundtriebfeder des gewöhnlichsten Handelns im Zeitalter; oder sie erhebt sich zur Theorie. So lange sie nur das erste ist, kann man sie nicht recht fassen und zum Geständnisse bringen, und sie behält allenthalben Schlupfwinkel und Ausflüchte genug; auch macht sie noch nicht eigentlich Epoche, sondern nur den Anfang einer neuen Entwickelung. Sobald sie aber, theoretisch werdend, sich selber begreift, und sich zugesteht und sich liebt und billigt, und stolz ist auf sich selber, und für das höchste und einzig wahre gelten will, wird sie als Epoche klar, spricht sich in allen ihren Phänomenen aus, und lässt sich bei ihrem eigenen Bekenntnisse fassen. Wir lieben die Sachen an ihrem klarsten Ende anzugreifen, und wollen daher von dem letzteren Puncte aus die Beschreibung des dritten Zeitalters beginnen.

Eben darum, weil, wie schon oben gesagt worden, dem Menschen nicht also wie dem Tiere ein besonderer Instinct für die Mittel seiner Erhaltung und seines Wohlseyns gegeben worden, und weil ebensowenig aus Ideen a priori, die allein auf das Eine und ewige Leben der Gattung sich beziehen, hierüber etwas ausgemacht werden kann; so bleibt in diesem[27] Gebiete nichts anderes übrig, als dass man versuche, oder andere auf ihre eigene Unkosten versuchen lasse, was da wohl bekommen werde, und was übel, und es sich für ein andermal merke. Es ist daher aber ganz natürlich und nothwendig, dass von einem Zeitalter, dessen ganzes Weltsystem lediglich durch die Mittel der persönlichen Existenz erschöpft wird, die Erfahrung, als die einzig mögliche Quelle aller Erkenntniss, angepriesen werde, indem ja allerdings jene Mittel, welche allein dieses Zeitalter erkennen will und kann, nur durch die Erfahrung erkannt werden. In der blossen Erfahrung, – von welcher sodann sorgfältig die Beobachtung und das Experiment unterschiedenen werden muss, denen sichs ein Begriff a priori, nemlich dasjenige, wonach gefragt wird, beigemischt ist, – in der blossen Erfahrung kommt nichts vor, als die Mittel der sinnlichen Erhaltung; und umgekehrt, diese Mittel können allein durch die Erfahrung erkannt werden: daher giebt allein die Erfahrung dem Zeitalter seine Welt, und wiederum deutet seine Welt hin auf die Erfahrung, als ihren einigen Urquell, und so geht beides durcheinander auf. Darum ist ein solches Zeitalter genöthigt, alles von der Erfahrung unabhängige Apriori, oder die Behauptung, dass schlechthin aus der Erkenntniss selber, ohne alle Beimischung sinnlicher Gegenstände, neue Erkenntnissquelle und fliessen, durchaus abzuläugnen und zu verlachen. Wären ihm Ideen einer höheren Welt und ihrer Ordnung aufgegangen, so würde es leicht begreifen, dass diese durchaus in keiner Erfahrung begründet seyen, indem sie über alle Erfahrung hinausgehen. Oder hätte es auch nur das Glück, ganz thierisch zu seyn, so hätte es nicht nöthig, die Begriffe seiner Welt, d.h. die Mittel seiner sinnlichen Erhaltung, erst mühsam durch die Erfahrung aufzusuchen, sondern es hätte dieselben im thierischen Instincte a priori; indem in der That der weidende Stier auf der Wiese diejenigen Gräser unberührt lässt, die seiner Natur zuwider sind, ohne sie je gekostet und ihre Schädlichkeit durch die Erfahrung gefunden zu haben, und die ihm zuträglichen gleichfalls ohne alles vorhergehende Probiren zu sich nimmt: mithin wenn man ihm Erkenntnis zuschreiben will, allerdings eine Erkenntniss schlechthin a[28] priori und unabhängig von aller Erfahrung besitzt. Nur in dem Mittelzustande zwischen Menschheit und Thierheit wird dasjenige, worin unsere Gattung dem Thiere nachsteht, und über dessen Entbehrlichkeit sie, ohne ihr Apriori für eine ewige Welt, das geringste Insect beneiden müsste, – wird, sage ich, die Erfahrung zur Krone und zum Preise der Menschheit herauferhoben, und kühn aus ausfordernd tritt ein solches Zeitalter auf, und fragt: es möchte doch nur wissen, wie irgend eine Erkenntniss ausser durch Erfahrung möglich sey – gleich als ob bei dieser Frage wohl ein jeder erschrecken und in sich gehen, und keine andere Antwort geben würde als die begehrte.

Inwiefern dieses Zeitalter nun doch etwa inconsequenterweise, und weil dergleichen Dinge ja auch in der Erfahrung vorhanden, und zufolge dieser Erfahrung in den Schulen gelehrt werden, die Möglichkeit einiger über die Kenntniss der blossen Körperwelt hinausliegenden Wissenschaft zugiebt, wird es ihm der Gipfel der Klugheit seyn, an allem zu zweifeln, und bei keinem Dinge über das Für oder das Wider Partei zu nehmen: in diese Neutralität, diese unerschütterliche Parteilosigkeit, diese unbestechbare Gleichgültigkeit für alle Wahrheit wird es die ächte und vollkommene Weltweisheit setzen, und die Beschuldigung, dass jemand ein System habe, wird ihm als eine Schmach erscheinen, wodurch die Ehre und der gute Name eines Menschen unwiederbringlich zu Grunde gerichtet werde. Jene wissenschaftlichen Spitzfindigkeiten sind ja nur dazu erfunden, damit junge Leute niederen Standes, die nicht Gelegenheit daher, die grosse Welt zu sehen, an ihnen spielend ihre Fähigkeiten für die künftige Praktik des Lebens entwickeln; zu diesem Behuf ist jede Meinung und jede Thesis, die affirmative so wie die negative, gleich gut, und es ist ein lächerlicher Verstoss, Scherz für Ernst zu nehmen, und für irgend eine jener Thesen, als für etwas bedeutendes, sich zu interessiren.

In Absicht seiner Entwicklung auf die Natur, und des Gebrauches ihrer Kräfte und Producte wird ein solches Zeitalter überall nur auf das unmittelbar und materiell nützliche, zur[29] Wohnung, Kleidung und Speise dienliche sehen, auf die Wohlfeilheit, die Bequemlichkeit, und wo es am höchsten sich versteigt, auf die Mode; jene höhere Herrschaft aber über die Natur, wodurch der widerstrebenden das majestätische Gepräge der Menschheit als Gattung, ich meine das der Ideen, aufgedrückt wird, und in welcher Herrschaft das eigentliche Wesen der schönen Kunst besteht, wird es nicht kennen, oder, falls es durch einzelne geistvolle Individuen daran gemahnt würde, sie verlachen, als eine Thorheit und Schwärmerei; und so wird sich ihm auch die etwa in ihrem mechanischen Theile noch übriggebliebene Kunst zu einem neuen Gebiet für die Mode, und zum Werkzeug eines wandelbaren, und darum keinesweges der Ewigkeit der Idee angemessenen Luxus umschaffen. In Absicht der gesetzlichen Verfassung der Staaten und der Regierung der Völker, wird ein solches Zeitalter entweder, von seinem Hasse gegen das Alle getrieben, auf luftige und gehaltleere Abstractionen Staatsverfassungen aufzubauen, und durch weitschallende Phrasen, ohne eine feste und unerbittliche äussere Gewalt, entartete Geschlechter zu regieren unternehmen; oder es wird, von seinem Abgotte, der Erfahrung, gehalten, bei jedem grossen oder kleinen Vorfalle, schon im voraus überzeugt, dass es sich selber nichts aussinnen könne, eilen, die Chronikenbücher der Vorwelt nachzuschlagen, zu lesen, wie diese sich in ähnlichen Lagen benommen, und daher das Gesetz seines Verfahrens sich holen; und auf diese Weise seine politische Existenz aus den bunt aneinander gereihten Stücken verschiedener abgestorbener Zeitalter zusammensetzen, laut dadurch bekennend sein eigenes klares Selbstbewusstseyn seiner Nullität. In Absicht der Sittlichkeit wird es das für die einzige Tugend anerkennen, dass man seinen eigenen Nutzen befördere, anfügend höchstens, entweder ehrenhalber oder aus Inconsequenz, den des anderen, – es versteht sich, wenn er dem unseren nicht entgegen ist; und für das einzige Laster, seines Vortheils zu verfehlen. Es wird behaupten, – und da es ihm nicht schwerfallen kann, für jede mögliche Handlung eine unedle Triebfeder zu finden, indem es ja das Edle durchaus nicht kennt, – es wird sogar beweisen, dass wirklich alle Menschen,[30] die jemals gelebt haben und leben, also gedacht und gehandelt haben, und dass es überhaupt gar keinen anderen Antrieb im Menschen gebe, als den des Eigennutzes, beklagend diejenigen, welche noch etwas anderes in ihm annehmen – als arme Thoren, welche die Welt und die Menschen nur noch nicht kennen. Was endlich die Religion anbetrifft, so wird auch diese sich ihm in eine blosse Glückseligkeitslehre verwandeln, bestimmt uns zu erinnern, dass man mässig geniessen müsse, um recht lange und recht vieles zu geniessen; ein Gott wird ihm nur dazu daseyn Müssen, damit er unser Wohlseyn besorge, und bloss unsere Bedürftigkeit wird es seyn, die ihn ins Daseyn gerufen und ihn zu dem Entschlusse gebracht, existiren zu wollen. Was es von dem übersinnlichen Inhalte eines etwa vorhandenen Religionssystems allenfalls noch beibehalten will, wird diese Schonung ganz allein dem Bedürfnisse eines Zaums für den ungezügelten Pöbel, dessen der Gebildete nicht bedarf, und dem Mangel eines zweckmässigeren Ergänzungsmittels der Polizei und des gerichtlichen Beweises verdanken. In Summa, und um es mit Einem Worte auszusprechen: ein solches Zeitalter steht auf seiner Höhe, wenn ihm nun klar geworden, dass die Vernunft, und mit ihr alles über das blosse sinnliche Daseyn der Person hinausliegende, lediglich eine Erfindung sey gewisser müssiger Menschen, die man Philosophen nennt.

So viel zu des dritten Zeitalters allgemeiner Schilderung, deren Grundzüge wir in den späteren Betrachtungen einzeln aufstellen und weiter entwickeln werden. Nur noch eine, die Form betreffende charakteristische Eigenheit desselben darf hier nicht übergangen werden, die folgende: dieses Zeitalter wird in seinen ächtesten Repräsentanten seiner Sache so sicher und so unerschütterlich gewiss seyn, dass es darin sogar von der eigentlichen Wissenschaft nicht übertroffen zu werden vermag. Es wird mit unaussprechlichem Mitleid und Bedauern herabsehen auf die früheren Zeitalter, in denen die Menschen noch so blödsinnig waren, durch ein Gespenst von Tugend und durch den Traum einer übersinnlichen Welt den ihnen schon vor dem Munde schwebenden Genuss sich entreissen zu lassen; auf diese Zeitalter der Finsterniss und des Aberglaubens, als [31] sie noch nicht gekommen waren, diese Repräsentanten der neuen Zeit, und noch nicht die Tiefe des menschlichen Herzens von allen Seiten durchsucht und erforscht hatten; und noch nicht die grosse überraschende Entdeckung gemacht haben, und dieselbe noch nicht laut angekündigt und überall verbreitet hatten, dass dieses Herz im Grunde und Boden nur Koth sey. Es wird nicht widerlegen, sondern nur bemitleiden und gutmüthig, belächeln diejenigen, welche zu seiner Zeit nicht seiner Meinung sind, und sich nicht irre machen lassen in der menschenfreundlichen Hoffnung, dass auch diese zu derselben Ansicht sich noch einst emporschwingen dürfen, wie sie nur durch Alter und Erfahrung gereift seyn werden, oder wenn sie dasjenige, was die Repräsentanten Geschichte nennen, ebenso ausführlich studirt haben werden. Nur darin, welches für die Repräsentanten freilich verlorengeht, wird die Wissenschaft ihrer Meister, dass sie die Denkart jener vollkommen versteht, sie nachconstruirt aus ihren Theilen, sie wiederherstellen könnte, falls sie etwa unglücklicherweise aus der Welt verlorenginge, und sogar dieselbe vollkommen richtig findet aus ihrem Standpuncte. So kommt, falls wir im Namen der Wissenschaft reden sollen, die abgeleitete Unerschütterlichkeit jener Denkart gerade daher, dass dieselbe aus ihrem Standpuncte ganz richtig sieht, und so oft sie auch die Kette ihrer Schlüsse wiederum durchsehen möge, doch niemals eine Lücke in derselben entdecken wird. Ist überall all nichts, denn die sinnliche Existenz der Personen, ohne alles höhere Leben der Gattung und der Einheit, so kann es ausser der Erfahrung durch aus keine Quelle der Erkenntniss geben, denn offenbar werden wir über die sinnliche Existenz allein durch die Erfahrung belehrt; und eben darum muss auch jede andere angebliche Quelle, und was aus derselben abfliessen soll, nothwendig Traum seyn und Hirngespinnst: – wobei nur noch bloss die factische Möglichkeit, also zu träumen und aus dem Hirne herauszuspinnen, was in dem Hirne keinesweges enthalten ist, zu erklären übrigbliebe, welcher Erklärung sie sich jedoch weislich enthalten werden zufrieden mit der Erfahrung, dass nun einmal also geträumt werde. Dass aber wirklich nichts sey ausser der sinnlichen Existenz[32] der Persönlichkeit, wissen sie ganz gewiss daher, weil sie, so oft sie auch und so tief sie ihr eigenes Inneres ergründet, in demselben nie etwas anderes wahrgenommen haben, als das Gefühl ihrer persönlich sinnlichen Existenz.

Und sonach, und zufolge alles Gesagten, beruht diese Denkart keinesweges auf einem Fehler des Denkens und des Urtheilens, welchen man dadurch, dass man dem Zeitalter den Fehlschluss, den es macht, nachweise, und es an diejenigen Regeln der Logik, gegen die es etwa verstösst, erinnere, verbessern könnte; sondern diese Denkart beruht auf dem ganzen mangelhaften Seyn des Zeitalters und derjenigen, in denen es zum Durchbruch gekommen. Nachdem jenes und diese einmal sind, was sie sind, so müssen sie nothwendig auch denken also, wie sie denken; und sollten sie auf andere Weise denken, so müssten sie vor allem vorher etwas anderes werden.

Es ist, um mit der einzigen tröstenden Ansicht, die es dabei giebt, zu beschliessen – es ist ein Glück, dass selbst die entschiedensten Verfechter jener Denkart gegen ihren Dank und Willen in der That noch immer etwas besseres sind, als wofür ihre Worte sie ausgeben; und dass der Funke des höheren Lebens im Menschen, so unbeachtet er auch daliegen möge, doch nie erlischt, sondern mit stiller geheimer Gewalt fortglimmt, bis ihm Stoff gegeben werde, an dem er sich entzünde und in helle Flammen ausbreche. Diesen Funken des höheren Lebens wenigstens zu reizen und, inwiefern es möglich ist, ihm Stoff zu geben, ist auch einer der Zwecke der gegenwärtigen Vorträge, E. V.[33]

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 7, Berlin 1845/1846, S. 16-34.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters
Philosophische Bibliothek Band 247: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Die beiden »Freiherren von Gemperlein« machen reichlich komplizierte Pläne, in den Stand der Ehe zu treten und verlieben sich schließlich beide in dieselbe Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet ist. Die 1875 erschienene Künstlernovelle »Ein Spätgeborener« ist der erste Prosatext mit dem die Autorin jedenfalls eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.

78 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon