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[667] 235
Verwelktem Blatte gleichst du heute,
Des Todes Diener harren deines Kommens schon,
Du stehst am Rande deines Lebens,
Für Reisezehrung aber hast du nicht gesorgt.
236
Erglühe selbst als eigne Leuchte,
Entbrenne eilig, werde weisheitfroh,
Von allem Unreinen geläutert
Enteilest du ins Reich der Heiligen.
237
Zu Jahren bist du nun gekommen,
Bist nun dem Tode nah und näher,
Kein weitrer Aufenthalt wird dir nunmehr zuteil,
Für Reisezehrung aber hast du nicht gesorgt.
238
Erglühe selbst als eigne Leuchte,
Entbrenne eilig, werde weisheitfroh,
Von allem Unreinen geläutert
Wirst nimmer du Geburt und Alter schaun.
239
Der Weise treibe nach und nach,
Allmählich und zur rechten Zeit,
Geschicktem Silberschmiede gleich,
Des eignen Herzens Flecken aus.
[668] 240
Wo auf dem Eisen sich der Rost erhebt,
Zerfrißt von dort er weiter das Metall:
So auch erfährt durch eigne Taten
Der Übermütige Verderbens Unheil.
241
Nichtübung ist des Spruches Fluch,
Des Hauses Fluch Bequemlichkeit,
Die Eitelkeit der Schönheit Fluch,
Und Trägheit Fluch dem Wachsamen.
242
Besudelt ist ein schamlos Weib,
Besudelt, wer aus Absicht gibt,
Besudelt jede böse Tat
In diesem und in jenem Sein;
243
Doch schlimmere Besudelung,
Ja, allerschlimmste gibt es noch:
Verblendung ist das tiefste Schwarz!
Von diesem Makel reinigt euch
Und werdet, Jünger, fleckenlos.
244
Der Unverschämte, Listige,
Der Streitbold, Schreier, Bramarbas,
Der Krähenfreche, Dummdreiste,
Der lebt gar leicht in seinem Schmutz;
245
Doch schwer lebt, wer bescheiden ist,
Wer stets dem Reinen zugetan,
Wer frei von Schmutz und Übermut
Einsichtig lautres Leben führt.
246
Wer Lebewesen niederschlägt,
Wer Lug und Trug beharrlich treibt,
Wer nimmt, was ihm nicht angehört,
Wer seines Nächsten Weib verführt,
[669] 247
Wer Rausch begehrend trinkt und trinkt
Und sich der Schlemmerei ergibt:
Der gräbt hier in der Welt sich selbst
Durch solches Tun die Wurzeln aus.
248
Dies wisse nur, o Menschensohn:
Verderblich ist der leichte Sinn!
Auf daß nicht Gier und blinder Wahn
Dich lange ketten an das Leid.
249
Almosenspeise gibt das Volk
Je nach Belieben, gut und schlecht:
Der Mönch, der neidisch mißgestimmt
Auf andrer Speis' und Trank hinblickt,
Dem wird bei Tag nicht, nicht bei Nacht
Zuteil der Selbstvertiefung Glück;
250
Wer aber alle Gier vertilgt,
Mit Stumpf und Stiel vernichtet hat,
Dem wird bei Tag, dem wird bei Nacht
Zuteil der Selbstvertiefung Glück.
251
Kein Feuer brennt wie Lustbegier,
Kein Fallstrick hält so fest wie Haß,
Kein Netz verstrickt wie Unverstand,
Kein Fluß rast wie der Durst dahin.
252
Des Nächsten Fehler sieht man leicht,
Die eigenen jedoch gar schwer;
Die Schwächen andrer deckt man auf
So viel als möglich, recht mit Lust,
Behutsam birgt man eigene,
Wie Würfelspieler ihre List.
[670] 253
Wer auf der andern Schwächen blickt
Und immer nur auf Tadel sinnt,
Des Willenswahn nimmt zu und zu,
Fern ist der Willenswendung er.
254
Im Luftraum bleibet keine Spur,
Das Äußre heiligt keinen Mönch,
Die Menschheit lacht in Wahnes Lust,
Vollendete sind frei von Wahn.
255
Im Luftraum bleibet keine Spur,
Das Äußre heiligt keinen Mönch,
Das Dasein währt nicht ewiglich,
Die Auferwachten wanken nicht.
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