[686] 334
Des sorglos hinlebenden Menschensohns
Durstige Lebenslust wächst wie ein Schlinggewächs;
Er stürmt dahin von Sein zu Sein,
Gleichwie ein Affe, der im Walde Früchte sucht.
Wen diese niedre Lebenslust,
Die Weltbeherrscherin, beherrscht,
Dem schießen Qualen quellend auf,
Wie Flechtengras im Wiesengrund.
Doch wer sie, diese Lebenslust,
Die schwer bezwingbar ist, bezwingt,
An dem kann haften keine Qual,
Wie Wasser nicht den Lotus netzt.
337
Was Herrliches will sagen ich
Euch allen, die ihr um mich seid:
Des Wollens Wurzel grabet aus,
Gleichwie der Wurzelgräber gräbt!
Damit euch nicht, wie Wasser Schilf,
Der Tod zerreiße wieder neu.
338
Gleichwie ein wurzelunversehrter starker Baum,
Wenn auch gefällt, von neuem wiederum erwächst,
So auch erwächst das Leiden immer wiederum
Aus seiner unversehrten Wurzel Lebenslust.
[687] 339
Wer Dutzenden von Lustströmen,
Die mächtig durch sein Mark rinnen,
Von Willensgier betöret folgt,
Den Tollen fegt die Flut hinweg.
340
Die Fluten fließen überall,
Aufschießend steht das Unkraut da;
Habt ihr dies Unkraut wachsen sehn,
Reißt weise ihm die Wurzel aus.
341
In des Begehrens Flusse hinfließend,
Befriedigen die Wesen ihre Lust,
Die reizberückten, Wohlsein wünschenden
Gehn wieder zu Geburt und Alter hin.
Von Lebenslust umzingelt ist das Volk,
Rennt rund herum, gehetztem Hasen gleich:
In Daseinsbanden schmachten alle,
Sie leiden wieder, immer wieder lange schon.
Von Lebenslust umzingelt ist das Volk,
Rennt rund herum, gehetztem Hasen gleich;
Wohlan: die Lebenslust verneine
Ein Mönch, der seine Heiligung ersehnet.
344
Wer nach Nibbānam seinen Willen hingewandt,
Willenserlöst ist er und dennoch willensvoll;
Seht ihn, betrachtet einen solchen:
Erlöst ist er und eilt zum Bunde hin!
345
Nicht jenes Band benennen fest die Weisen,
Das man aus Stahl, aus Holz, aus Hanf verfertigt:
Des Willens Wunschbegier nach Gold und Schätzen,
Nach Kindern, Weibern inbrünstig Verlangen,
[688] 346
Das, wahrlich, nennen festes Band die Weisen,
Zu Boden zerrend, zähe, schwer zu lösen.
Dies Band durchschneidend ziehn sie fort vom Hause,
Die Wunschlosen, der Liebe Glück verlassend.
347
Die Giergebundnen leben in den Fluten
Wie in dem selbstgewirkten Netz die Spinne;
Durchreißend dieses schreiten hin die Weisen,
Die Wunschlosen, das ganze Leid verlassend.
348
Vergangnes lasse, lasse Künftiges,
Lass' Gegenwärtiges, Weltüberwinder!
Mit überall erlöstem Herzen
Gehst nimmer zu Geburt und Alter hin.
349
Des Absichtvollen, brennend Wünschenden,
Wild aufgeregt nach Wohlsein Spähenden
Gierige Lebenslust wächst immer mehr und mehr,
Er schweißet eifrig feste Fessel sich.
350
Doch wer voll Einsicht froh beruhigt weilt,
Das Weh mit klarem Geiste stets bedenkt,
Der, wahrlich, wird zernichtigen,
Der wird zerhaun das zähe Todesband.
351
Vollendung habe ich erreicht,
Bin furcht- und schuld-los, willensrein,
Zerstört hab' ich das Weltgerüst,
Das letzte Dasein leb' ich nun.
352
Vom Wollen rein, von Schuld erlöst,
Klar kennend dieser Lehre Sinn
Verstehe man den ganzen Text,
So wie den Anfang auch den Schluß;
Ein solcher lebt zum letzten Mal,
Den »Weisheithehren« heißt man ihn.
[689] 353
Allüberwinder, Allerkenner bin ich,
Von allen Dingen ewig abgeschieden,
Verlassend alles, lebenswahngeläutert,
Durch mich allein belehrt, wen kann ich nennen?
354
Alle Gaben überwältigt Wahrheitgabe,
Alle Würzen überwältigt Wahrheitwürze,
Alle Wonnen überwältigt Wahrheitwonne –
Willenswendung überwältigt alles Wehe.
355
Zugrunde richtet Reichtums Glück
Den Narren, der nicht Rettung sucht;
Aus Gier nach Reichtum schädigt er
Die andern als sein eigen Selbst.
356
Unkrautverzehrt liegt da das Land,
Und gierverzehrt ist dieses Volk:
Gierlosen milde Gabe weihn
Trägt wahrlich hocherhabne Frucht.
357
Unkrautverzehrt liegt da das Land,
Und haßverzehrt ist dieses Volk:
Haßlosen milde Gabe weihn
Trägt wahrlich hocherhabne Frucht.
358
Unkrautverzehrt liegt da das Land,
Und wahnverzehrt ist dieses Volk:
Wahnlosen milde Gabe weihn
Trägt wahrlich hocherhabne Frucht.
359
Unkrautverzehrt liegt da das Land,
Und wunschverzehrt ist dieses Volk:
Wunschlosen milde Gabe weihn
Trägt wahrlich hocherhabne Frucht.
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