1. Marie Beaumarchais

[176] Wir lernen diese Jungfrau aus Goethes Clavigo kennen. An ihn schließen wir uns an, nur daß wir sie etwas weiter bis in die Zeit hinein begleiten, wo sie das dramatische Interesse verliert, wo allmählich die Wirkung des Leides abnimmt. Ihre Geschichte ist kurz: Clavigo hat sich mit ihr verlobt, und er hat sie verlassen. Diese Auskunft genügt dem, welcher gewohnt ist, die Erscheinungen des Menschenlebens ähnlich zu betrachten, wie man die Raritäten eines Kunstkabinetts sich ansieht: je kürzer, desto besser! desto mehr kann man zu sehen bekommen. Auf dieselbe Weise läßt es sich in aller Geschwindigkeit erzählen, daß Tantalus ewig dürstet, und daß Sisyphus ein Felsstück den Berg hinaufwälzt. Hat man Eile, so wäre es ja nur Zeitverlust, länger dabei zu verweilen; bekommt man ja doch nicht mehr zu wissen, da man schon weiß, worauf das Ganze hinausläuft. Was »in guter Gesellschaft« größere Aufmerksamkeit beansprucht, muß von andrer Art und anderm Zuschnitt sein. Ein Kreis guter Freunde und Freundinnen hat sich um den Theetisch versammelt; die Maschine singt schon einen ihrer letzten Töne; die Frau des Hauses bittet den Fremden, sein Herz zu erleichtern; zu dem Ende läßt sie Zuckerwasser und Silberzeug bringen. Jetzt hebt er an: »Es ist eine weitläufige Geschichte.« Freilich ist es ein ganz ander Ding: eine weitläufige Geschichte, ein ausgesponnener Roman, und dagegen solch ein kleines avertissimento. Ob es auch für Marie Beaumarchais eine kurze Geschichte sei, mag eine andre Frage sein. So viel steht fest: weitläufig ist sie an sich nicht. Jene Geschichten pflegen doch eine mäßige Länge zu haben, während eine kurze Geschichte zuweilen die rätselhafte Eigenschaft besitzt, daß sie, aller ihrer Kürze ungeachtet, länger währt, als die weitläufigste Tagesgeschichte oder Novelle.

Schon im vorhergehenden habe ich daran erinnert, daß das reflektierte, hin und her erwogene Leid nicht sichtbar im Äußern erscheint, das heißt keinen verweilenden, schönen Ausdruck darin findet. Die innere Unruhe erlaubt diese Durchsichtigkeit nicht; das Äußere wird vielmehr von innen heraus verzehrt. Soweit das Innere sich dennoch im[176] Äußern verkündigen sollte, so wäre es etwas durch eine gewisse krankhafte Disposition, welche aber niemals Gegenstand künstlerischer Darstellung werden kann, da das Interesse des Schönen ihr gänzlich abgeht. Goethe hat dies durch ein paar eingestreute Winke angedeutet. Erst dadurch aber, daß man die Sache rein dichterisch und ästhetisch erwägt, überzeugt man sich, ob das, was die bloße Beobachtung lehrt, auch ästhetische Wahrheit habe; alsdann erst wird man zu einem tiefer gegründeten Bewußtsein gelangen. Handelt es sich nun um künstlerische Darstellung eines ähnlichen Leides, so wird es sich alsbald zeigen, daß das Äußere im Verhältnis zu ihm ganz zufällig ist; ist dem aber also, so ist das Künstlerisch-Schöne hiermit aufgegeben. Ob die Betreffende groß oder klein sei, bedeutend oder unbedeutend, schön oder weniger schön, alles dies ist indifferent. Die Frage, ob es richtiger sein werde, ihren Kopf sich nach dieser oder jener Seite, oder zur Erde neigen zu lassen, den Augen einen schwermütig starren Blick zu geben, oder einen solchen, der wehmütig trauernd an den Boden geheftet ist, das ist alles gleichgültig: eines drückt das reflektierte Leid nicht entsprechender aus, als das andre. Die Pointe bei dem reflektierten Leide bleibt, daß dieses beständig seinen Gegenstand sucht; dieses Suchen ist seine Unruhe, ja sein Leben. Aber dieses Suchen ist eine unablässige Fluktuation. Wäre das Äußere in jedem Momente ein vollkommener Ausdruck für das Innere, so müßte man zur Darstellung des reflektierten Leides eine ganze Succession von Bildern vor sich haben, deren jedes das Leid abspiegelte; aber keines dieser Bilder würde eigentlich künstlerischen Wert bekommen, sofern es ja nicht schön wäre, sondern eben nur – wahr. Man müßte dann diese Bilder betrachten, wie man den Sekundenzeiger an einer Uhr betrachtet: das verborgene Wert bleibt unsichtbar, während doch die innere Bewegung sich fort und fort dadurch äußert, daß das Äußere sich unaufhörlich ändert. Aber diese Veränderlichkeit läßt sich nicht künstlerisch darstellen, und ist doch die Pointe des Ganzen.

Wenn z.B. unglückliche Liebe ihren Grund in erlittenem Betruge hat, so besteht der Schmerz und das persönliche Leiden darin, daß dieses seinen Gegenstand nicht finden kann. Ist der Betrug ein[177] klarbewußter, und hat die Betreffende sich überzeugt, daß alles auf Trug und Lug hinauskommt, so ist freilich das Leid hiermit nicht vorüber, fortan jedoch nur unmittelbares, kein reflektiertes Leid. Aber jene Frage, ob denn alles Betrug gewesen, bildet die »Unruhe« in dem perpetuum mobile des Leides. Gewißheit über das äußere Faktum sich zu verschaffen, ist schon schwierig genug; und doch ist hiermit die Sache keineswegs zu Ende. Für die Liebe ist nämlich der Betrug ein absolutes Paradoxen, und daraus ergibt sich mit Notwendigkeit die Reflexion. Die verschiedenen Faktoren der Liebe können bei dem einen und dem andern in höchst verschiedener Weise sich verschmolzen haben, und so die Liebe bei diesem nicht dieselbe sein, wie bei jenem: hier mag das Egoistische, welches sich immer mit einmengt, mehr überwiegen, dort das Sympathische. Welcher Art aber die Liebe auch sein mag, ein Betrug bleibt ihr immer ein Paradoxon, welches sie sich gar nicht denken kann, und zuletzt doch einmal denken wird. Der egoistisch stolzen Liebe erscheint von vornherein jeder Betrug als etwas Unmögliches. Es kümmert sie nicht, zu erfahren, was man dafür oder dawider sagen könne, wie der Betreffende etwa zu entschuldigen oder zu verteidigen sein möge: sie ist absolut sicher, weil zu stolz, um zu glauben, daß jemand wagen sollte sie zu hintergehen. Die sympathische Liebe schließt in sich den Glauben, der Berge versetzt, dessen unerschütterlicher Gewißheit gegenüber jede Verteidigung nichts bedeutet, sowie auch jede Anklage für sie nichts beweist gegen den innern Fürsprecher, welcher, nicht aus diesen oder jenen Gründen, sondern kurzweg erklärt: es sei kein Betrug gewesen! Einer solchen Liebe begegnet man oder nur selten, oder nie im Leben. Gewöhnlich birgt die Liebe in sich beide Momente, und wird dadurch in Beziehung zum Paradoxen gebracht, rühmt sich in dem Maße, wie die verschiedenen Faktoren momentweise sich geltend machen, oft in widerspruchsvollster Weise – der leidigen Vorstellung derselben, ohne jedoch diese vollziehen zu können. Solche Kreuz- und Querzüge des Denkens sind unendlich, und hören erst auf, wenn das Individuum sie willkürlich abbricht und etwas andres zur Geltung bringt, also durch eine Willensentscheidung. Hiermit tritt aber der Einzelne unter ethische Bestimmungen, und beschäftigt uns nicht mehr[178] ästhetisch. Durch einen Entschluß gewinnt er alsdann, was er auf dem Wege der Reflexion nicht gewinnt: er kommt zum Ende, zur Ruhe.

Das Gesagte gilt von jeder infolge eines Betruges unglücklichen Liebe. Was bei unsrer Marie Beaumarchais die Reflexion beim Leide noch besonders hervorrufen muß, ist der Umstand, daß es nur eine Verlobung war, deren Bruch vorlag. Eine Verlobung ist eine Möglichkeit, noch keine Wirklichkeit; weil es aber nur eine Möglichkeit ist, so könnte es scheinen, als habe ihr Bruch nicht eine so einschneidende Wirkung, als müsse es der Betreffenden leichter werden, einen solchen Stoß zu verwinden. Zuweilen mag dies auch der Fall sein; auf der andern Seite führt aber gerade der Umstand, daß es nur eine Möglichkeit ist, die hier vernichtet wird, um so mehr die Versuchung mit sich, die Reflexion auf die Bahn zu bringen. Wird ein reales Verhältnis treulos gebrochen, so greift der Bruch gewöhnlich viel tiefer, jeder Nerv wird durchschnitten. Der Bruch ist eine vollendete Thatsache, welche nach allen Seiten abgeschlossen dasteht. Wo eine bloße Möglichkeit sich in nichts auflöst, da ist der augenblickliche Schmerz vielleicht nicht so groß; indessen pflegt das eine und andre Band, dies und jenes souvenir palpable zurückzubleiben, durch welches die Wunde immer aufs neue schmerzlich berührt wird. Die zerstörte Möglichkeit erscheint alsdann verklärt zu einer höheren Möglichkeit, welche der Phantasie der Liebenden vorschwebt. Eine solche neue Möglichkeit aber wieder hervorzuzaubern, wenn eine vorhin gegründete Realität zertrümmert würde, dazu liegt die Versuchung ferner, weil die schon eingetretene Wirklichkeit immer über eine bloße Möglichkeit hinausragt.

Clavigo hat sie also verlassen, treulos das Verlöbnis zerrissen. Gewohnt, in ihm mit ihrer ganzen Seele zu ruhen, hat sie, von ihm zurückgestoßen, nicht so viele Kraft, zu stehen: ohnmächtig sinkt sie in die Arme ihrer Umgebung. So scheint es Marie anfangs ergangen zu sein; freilich lassen sich, angenommen, daß sie die Reflexion (auf ihre persönliche Ehre, oder auf die des so innig von ihr geliebten, jetzt als Betrüger geschmähten Mannes) in ihr Leid aufnahm, auch andre Möglichkeiten denken, insbesondere, daß sie sich von allen zurückgezogen habe, um in ihrem Kummer sich zu verzehren.[179] Wir folgen Goethe. Ihre Umgebung ist keineswegs ohne Mitgefühl; man teilt ihren Schmerz, man hört einen teilnehmenden Ausruf: »Ach, davon nimmt sie ihren Tod!« Ästhetisch geredet, ist das nun durchaus richtig. Unglückliche Liebe kann derart sein, daß ein Selbstmord ästhetisch als berechtigt erscheint; nur darf sie alsdann nicht gerade durch Betrug unglücklich geworden sein. Wo dieses der Fall wäre, verlöre der Selbstmord all sein »Erhabenes« und spräche eine Konzession aus, die zu gewähren schon der Stolz verbeut. Nähme sie aber dann ihren Tod, so hieße das so viel als: er hat mich gemordet! ein Ausdruck, der zu der gewaltigen Bewegung ihres Innern vollkommen stimmt; ja, sie findet in demselben eine gewisse Linderung. Aber das Leben folgt nicht genau ästhetischen Kategorien, fügt sich nicht immer einem ästhetischen Normativ. Sie stirbt nicht. Hierdurch werden die Ihrigen gewissermaßen in Verlegenheit gesetzt. Die Versicherung, sie sterbe, beständig zu wiederholen, während sie doch lebt, das geht nicht länger, wie sie sich selbst gestehen; und doch meinten sie hiermit ihr etwas Tröstliches zu sagen. Also ändern sie die Methode, indem sie ihn fortan zu einem Betrüger, einem Schurken stempeln, der wahrlich nicht wert sei, um seinetwillen zu sterben: »Vergiß ihn, es war ja nur eine Verlobung, und du bist wieder jung, kannst wieder hoffen!« Hierdurch gerät sie zunächst in Feuer und Flammen; dieser pathetische Zorn harmoniert mit andern Stimmungen ihres Gemüts; ihr Stolz sättigt sich an dem Gedanken der Rache, das Ganze in ein Nichts zu verwandeln. »Was sei denn an ihm Sonderliches? Ihr Gefühl gegen ihn sei mehr Mitleiden gewesen, als Liebe!« So befinden sich die Umgebung und Marie wieder im Einklang; ihr gemeinsames Duett geht vorzüglich. Ja, man trägt neuen Stoff zur Flamme des Hasses und bläst eifrig hinein. Die Umgebung freut sich, wie Mariens Leidenschaft sich Lust macht in heftigen Worten, sich in überschwenglichen Entschließungen berauscht. Man bemerkt nicht, was sie niemanden, auch sich selbst kann gestehen mag, daß sie im nächsten Augenblicke Schwach und matt ist, daß schon die ängstigende Ahnung über sie kommt, ihr momentanes Kraftgefühl möge Täuschung sein. An theoretischen Vorstellungen, aufreizenden Reden läßt man's nicht fehlen, sieht aber keine praktische Wirkung.[180] Trotz ihrer energischen Worte faßt man Mißtrauen, ob alles wohl richtig stehe. Dabei wird man ungeduldig, wagt das Äußerste, bohrt den Sporn des Spottes ihr in die Seite, damit sie sich aufraffe. Zu spät!

Das Mißverständnis ist eingetreten. Daß Clavigo wirklich ein Betrüger sei, hat für die Umgebung nichts Demütigendes, wohl aber für Marie. Die ihr sich darbietende Rache, daß sie ihn verachte, hat eben nicht viel zu bedeuten. Ja, wenn er sie noch liebte! Aber das ist vorbei, und ihre Verachtung ist eine – Anweisung, die niemand honoriert. Auf der andern Seite liegt für Marie, aber auch für sie allein, etwas Schmerzliches darin, wenn er ein Betrüger war. Und doch entbehrt er in ihrem eignen Innern nicht ganz eines Fürsprechers. Sie fühlt, daß sie eine Stärke habe ahnen lassen, die im Grunde ihr doch abging. Und welchen Trost gewährt es schließlich, jemand zu verachten! So ist's denn besser, leidzutragen. Vielleicht trägt sie auch in ihrer Erinnerung die eine oder andre geheime Note zum Texte, welche für die Erklärung desselben von großer Bedeutung ist, geeignet, je nach Umständen ihn in günstigeres oder ungünstigeres Licht zu stellen. Indessen hat sie niemand eingeweiht, will es auch nicht. War es doch denkbar – vorausgesetzt nämlich, daß er kein Betrüger war –, daß er den gethanen Schritt bereute und zurückkehrte; oder, was noch herrlicher wäre, daß er ihn gar nicht zu bereuen brauchte, daß er sich absolut rechtfertigen oder alles erklären konnte. Und in diesem Falle würde es doch wohl zum Anstoß dienen, wenn sie Gebrauch davon gemacht, wenn sie ihm Mitwisser verschafft hätte in dem geheimsten Wachstum seiner Liebe, wodurch vielleicht die Herstellung des vorigen Verhältnisses unthunlich geworden wäre. Wenn sie dagegen sich wirklich davon überzeugen konnte, daß er nichts als ein Betrüger gewesen sei, nun, alsdann konnte alles ihr gleichgültig sein; und jedenfalls stand es ihr am besten an, zu schweigen.

So ist jetzt ihre Umgebung, ohne es zu wollen, ihr behilflich geworden, eine neue Leidenschaft zu entwickeln: Eifersucht auf ihr eignes Leid. Ihr Entschluß ist gefaßt; ist sie doch inne geworden, daß die Ihrigen nach keiner Seite mit ihrer Leidenschaft harmonieren. Sie nimmt den Schleier und geht ins Kloster; aber sie nimmt den[181] Schleier des Leides, welcher sie vor jedem fremden Blicke verhüllt. Ihr Äußeres ist stille; das Ganze ist vergessen; ihre Worte lassen nichts ahnen. Vor sich selbst legt sie das Gelübde des Leides und Kummers ab; und jetzt beginnt ihr einsames, tief verborgenes Leben. Sie schweigt gegen alle, mag nun die Liebe vorerst, oder der Stolz ihr das Gelübde abgenötigt haben; aber sie weiß auch schlechterdings nicht, womit sie anfangen sollte, oder wie. Nicht, weil neue Momente hinzugekommen sind, sondern weil die Reflexion gesiegt hat. Wollte sie nun jemand fragen: worüber sie traure? so würde sie entweder nichts zu antworten wissen, oder es machen, wie jener Weise, welchen man fragte: was Religion sei? und Bedenkzeit über Bedenkzeit verlangte, und so die Antwort schuldig blieb. Jetzt ist sie der übrigen Welt abgestorben, wie auch den Ihrigen, lebendig eingemauert. In wehmütiger Stimmung schließt sie auch die letzte Öffnung: sie fühlt, im nächsten Augenblicke ist sie auf ewig ferne von ihnen. Freilich brauchte sie nicht, gleich andern Eingemauerten zu fürchten, daß, wenn der geringe Vorrat an Brot und Wasser aufgebraucht sei, sie umkommen müsse. Sie hat Nahrung für lange Zeit, braucht ebensowenig Langeweile zu fürchten: an Beschäftigung fehlt's ihr nicht. Ihre Erscheinung ist still und ruhig und hat nichts Auffälliges; und hoch ist ihr Inneres nicht wie jener »verborgene Mensch des Herzens, unverrückt, im stillen und sanften Geiste,« vielmehr das unfruchtbare Hin und Her eines friedelosen Geistes. Sie sucht Einsamkeit, oder auch das Gegenteil. Bedarf sie doch jener, um von den Anstrengungen auszuruhen, die es ihr kostet, ihr Äußeres immer in eine bestimmte Form zu zwängen. Wie jemand, der lange in einer gezwungenen Stellung gestanden oder gesessen hat, mit Wohlbehagen sich aufrichtet und ausstreckt, gleich einem Aste, der, längere Zeit gewaltsam herabgebogen, bei Zerreißung des Strickes, sich fröhlich wieder in seine natürliche Lage aufschwingt, ebenso findet Marie ihre Erquickung. Oder sie sucht das gerade Entgegengesetzte, Geräusch, Zerstreuung, um, während jedermanns Aufmerksamkeit anderswohin gerichtet ist, sich mit sich selbst beschäftigen zu können; und was zunächst rings um sie vorgeht, Klänge einer Musik, lautes Gespräch, klingt ihr so entfernt, als säße sie auf einem Dachstübchen, weit[182] abgeschieden, ganz für sich. Und vermag sie vielleicht die Thränen nicht zurückzudrängen, dann ist sie sicher, mißverstanden zu werden; sie weint sich vielleicht recht aus. Lebt man in einer ecclesia pressa, so findet man schon darin einige Befriedigung, daß unser Gottesdienst in seiner Art sich zu äußern mit dem öffentlichen übereinstimmt. Nur den stilleren Umgang fürchtet sie: denn hierbei ist sie weniger unbeobachtet. Wie leicht wird ein Mißgriff begangen! wie schwer kann man's hindern, daß er dennoch bemerkt werde!

Während also nach außen nichts wahrnehmbar wird, arbeitet es desto mehr im Innern. Hier wird ein Verhör aufgenommen, das mit vollkommenem Rechte, ja mit besonderem Nachdrucke, ein peinliches heißen darf: alles wird herangezogen, seine Gestalt, Miene, Stimme, Wort, Mitunter soll es einem Richter in einem solchen peinlichen Verhöre begegnet sein, daß er, von der Schönheit der Angeklagten gefangen, dasselbe abbrach und nicht im stande war, es fortzusetzen. Vergeblich wartete das Gericht auf das Resultat, wiewohl der Untersuchungsrichter seine Pflicht keineswegs verabsäumte, überdies als ein solcher galt, der nächtens sowohl als tages ausdauern könne, wie kein andrer. Das Gericht schließt daraus, daß der Fall ein recht verwickelter sein müsse. Ebenso ergeht es unser Verschleierten wieder und wieder. Alles wird vorgestellt, wie es zugegangen, durchaus zuverlässig; So erfordert es Gerechtigkeit und – Liebe. Der Angeklagte wird citiert. »Da kommt er, wendet rasch um die Ecke, öffnet das Gartenpförtchen. Siehe, wie er eilt; ihn hat nach mir verlangt; ungeduldig wirst er alles zur Seite; ich höre seine raschen Schritte, rascher als meines Herzens Schlag; er kommt, er ist da!« Und das Verhör – es ist ausgefallen.

Die Fällung eines Urteils ist also immer mit großen Schwierigkeiten verbunden. Daß ein junges Mädchen kein Rechtsgelehrter ist, weiß jedermann. Aber warum sollte sie nicht ein Urteil fällen können? Allein, während dieses auf den ersten Blick sich wie ein Urteil ausnimmt, enthält es zugleich ein Mehreres, woraus man erkennt, daß es im Grunde keins ist, und im nächsten Augenblick ein gerade entgegengesetztes erfolgen kann. Das Interesse für den Angeklagten mengt sich immer wieder hinein und besticht das Urteil. Wie verklagen[183] und entschuldigen sich untereinander die Gedanken! Jetzt steht Clavigo vor ihr als der Betrüger, der Verabscheuungswerte, Fluchwürdige, welcher sie mir darum zur Glücklichsten gemacht habe, um sie nachher desto unglücklicher zu machen! – »Nein,« heißt es dann wieder, »ein Betrüger ist er doch nicht gewesen! Er liebte mich nicht mehr, und darum verließ er mich. Das war aber kein Betrug; im Gegenteil, wenn er, ohne mich zu lieben, bei mir blieb, ja, dann war er ein Betrüger. Dann hätte ich, wie eine Pensionistin, von der Liebe leben sollen, womit er vormals mich geliebt, von den Scherstein, die er mir vielleicht noch zugeworfen hätte, leben sollen, ihm zur Last, und mir selbst zur Qual. Feiges, elendes Herz, verachte dich selbst; lerne, groß zu sein, lerne es von ihm. Er hat mich inniger geliebt, als ich verstanden habe mich selbst zu lieben. Und ich sollte ihm zürnen? Nein, ich will fortfahren, ihn zu lieben, weil seine Liebe stärker, seine Gedanken stolzer waren, als meine Schwachheit und meine Feigheit. – Und kann eine Stimme wie die seine wohl betrügen? Sie war so ruhig, und doch so bewegt; als bräche sie sich zwischen Felsen hindurch einen Weg, so klang sie aus einem Innern hervor, dessen Tiefe ich kaum zu ahnen im stande war. Was ist denn die Stimme? Ist sie ein bloßer Anschlag der Zunge, ein Geräusch, das man nach eignem Belieben hervorbringen kann? Irgendwo in der Seele muß sie hoch daheim sein, irgendwo ihre Geburtsstätte haben. Ja, sie hatte eine solche, nämlich im Innersten seines Herzens, wo er mich liebte, wo er mich liebt! Wohl hatte er auch eine andre Stimme, bei deren frostigem Tone plötzlich jede Freude in mir verwittern, jeder heitre Gedanke hinsterben mußte. Aber war dies seine wahre Stimme? Nimmermehr! Ich fühle es, jene tief erschütternde Stimme, in welcher seine ganze Leidenschaft zitterte, die wollte, die konnte nicht betrügen. – Oder waren es böse Mächte, die über ihn Gewalt bekamen? – Doch nein, jene Stimme, welche mich auf ewig an ihn gefesselt hat, trog nicht. Ein Betrüger war er nicht, auch wenn ich ihn niemals verstanden habe.«

So wogt es unablässig in ihrem Innern, wo lichtere und dunklere Genien durch und wider einander ihr Wesen haben, halb Liebe, bald Haß und Rache, bald Vertrauen, bald Eifersucht und[184] Verzweiflung vorwiegen. Mit dem Verhöre wird sie niemals fertig, auch nicht mit dem Urteil; mit dem erstern nicht, weil beständig Anstöße und Stockungen eintreten, mit dem andern nicht, weil alles hier auf Stimmungen beruht. Ihren ganzen Gedankenstrom abzubrechen, ist sie durchaus nicht im stande; denn der hierzu erforderliche Wille ist fortwährend im Dienste der Reflexion; und er ist es doch, welcher der momentanen Leidenschaft erst Energie mitteilt.

Gesetzt, daß sie zuweilen geneigt wäre, von dem Ganzen sich loszureißen, so wäre dies wieder eine bloße Stimmung, und die Reflexion bliebe die Siegerin. Ihr Gemüt wird immer aufs neue fortgerissen. Könnte und wollte sie aber doch einen ganz neuen Anfang machen in Kraft ihres eignen Willens, so hätte sie sich aufs ethische Gebiet erhoben, wäre unserm Interesse aber hiermit entfallen, und wir würden sie mit Vergnügen den Moralisten, sowie allem ihr neu erblühenden häuslichen und bürgerlichen Glücke überlassen.

Vergegenwärtigen wir und noch einmal Marie Beaumarchais. Das Eigentümliche ihres Leides ist, wie oben bemerkt, die Unruhe, welche sie hindert, den Gegenstand des Leides ins Auge zu fassen. Ihr Schmerz kann sich nicht stillen, ihr fehlt der Friede, der notwendig ist für jedes Leben, wenn es seine Nahrung sich zueignen, und durch sie sich erquicken soll. Keine Illusion überschattet sie mit ihrer stillen Kühle, während sie den Schmerz einsaugt. Sie hat die Illusion der Kindheit verloren, als sie die der Liebe gewann: sie hat die der Liebe verloren, als Clavigo sie hinterging. Wäre es ihr möglich, die Illusion des Leides zu gewinnen, so wäre ihr geholfen. Dann würde ihr Kummer zur Mannesreife gedeihen, und sie selbst für den Verlornen Ersatz haben. Aber ihr Kummer gedeiht nicht; sie hat Clavigo nicht eigentlich verloren, er hat sie nur hintergangen. Jener Kummer bleibt immer wie ein zartes Kind mit seinem Geschrei, ein vater- und mutterloses Kind; denn falls Clavigo ihr entrissen wäre, so würde das Herzeleid im Andenken seiner Treue und Liebenswürdigkeit seinen Vater gehabt haben, und seine Mutter in Mariens Schwärmerei. Und sie hat nichts, womit sie es aufziehen kann; denn das Erlebte war wohl schön, aber hatte doch an sich selbst keine Bedeutung, es war nur Vorschmack des Zukünftigen.[185] Auch kann sie nicht hoffen, daß dieses Kind des Schmerzes sich in einen Sohn der Freude verwandeln, nicht hoffen, daß Clavigo zurückkehren werde. Wird sie doch nicht die Stärke besitzen, eine Zukunft zu tragen. Sie hat die frohe Zuversicht eingebüßt, mit welcher sie ihm unverzagt bis in den Abgrund gefolgt wäre, und dafür hundert Bedenklichkeiten eingetauscht. Höchstens würde sie nur im stande sein, das Vergangene mit ihm noch einmal zu durchleben. Als Clavigo sie verließ, lag vor ihr eine Zukunft, so schön, so bezaubernd, daß es beinahe ihre Gedanken verwirrte, insgeheim über sie ihre Macht ausübte. Schon hatte ihre Metamorphose begonnen, da wurde die Entwickelung abgebrochen, ihre Umwandlung aufgehoben. Ein neues Leben hatte sie geahnt und empfunden, wie dessen Kräfte sich in ihr regten – da wurde es zerstört und sie zurückgestoßen; und einen Ersatz gibt es nicht, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt. Was da kommen sollte, schmeichelte ihr in so reicher Fülle und spiegelte sich in der Illusion ihrer Liebe; und dabei war alles doch so natürlich und so einfach. Jetzt hat dagegen vielleicht eine ohnmächtige Reflexion ihr eine ebensolche Illusion vorgemalt, welche, ohne versuchlich aus ihre Seele zu wirken, sie doch für einen Augenblick eingeschläfert hat. So wird die Zeit ihr hingehen, bis sie sogar den Gegenstand ihres Leides verzehrt hat, der im Grunde nichts weiter war, als der Anstoß, beständig einen Gegenstand aufzusuchen. Gesetzt, ein Mensch besäße einen Brief, von dem er wüßte oder glaubte, daß er Auskunft enthalte über das, was er als die Seligkeit seines Lebens ansehen müßte; aber die Schriftzeichen wären sein und blaß, die Handschrift fast unleserlich: dann würde er mit Angst und Unruhe, mit aller Leidenschaft lesen und wieder lesen, und in diesem Augenblicke den Sinn herausbekommen, in dem nächsten einen andern, je nachdem er, wenn er mit Bestimmtheit ein Wort gelesen zu haben glaubte, alles nach diesem erklären würde; aber niemals käme er doch weiter, als bis zu derselben Ungewißheit, mit welcher er anfing. Er würde hinstarren, immer ängstlicher; aber je mehr er hinstarrte, je weniger sähe er. Seine Augen würden sich zuweilen mit Thränen füllen; aber je öfter ihm das widerführe, je weniger sähe er. Im Laufe der Zeit würde die Schrift blasser[186] und undeutlicher; zuletzt moderte das Papier selbst hin, und er behehielte nichts andres zurück, als ein ausgeweintes Auge.

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 176-187.
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