6. Jeder ist seines Glückes Schmied

[29] Herzog Ai fragte den Meister Kung und sprach: »Eines Reiches Bestehen und Untergang, Glück und Unglück haben doch sicher ihre himmlische Bestimmung und rühren nicht nur von Menschen her.«

Meister Kung erwiderte: »Bestehen und Untergang, Glück und Unglück kommen alle nur durch eigene Schuld. Zeichen am Himmel und Vorbedeutungen auf der Erde können nichts hinzufügen.«

Der Herzog sprach: »Gut, mein Meister, habt Ihr geredet, aber wie soll das zugehen?«

Meister Kung sprach: »Vor alters zur Zeit des Herrschers Sin aus dem Hause Yin3, da brütete ein Sperling einen großen Vogel aus auf der Ecke der Stadtmauer. Die Zeichendeuter sprachen: ›Wenn Kleines Großes erzeugt, so wird das Reich sicher blühen und des Herrschers Name berühmt werden.‹ Darauf verließ sich der Herrscher Sin auf die Kraft dieses Sperlings. Er kümmerte sich nicht um[29] die Regierung des Landes und war hart und grausam über alle Maßen, und vor den Leuten seines Hofes gab es keine Rettung. Da brachen Räuber von außen ein, und die Herrschaft des Hauses Yin fand dadurch ihr Ende. So hat er selbst der Zeit des Himmels entgegengewirkt und das zugedachte Glück in Unglück verwandelt.

Wiederum zur Zeit seines Vorfahren, des Königs Tai Mou aus dem Hause Yin, war der rechte Weg verlassen, und die Gesetze ruhten, so daß schließlich Vorzeichen auftraten, Maulbeere und Korn aus einer Wurzel im Schloßhof wuchsen und nach sieben Tagen schon eine Spanne im Umfang hatten. Der Zeichendeuter sprach: ›Maulbeere und Korn sind Gewächse der Wildnis; sie pflegen nicht aus einer Wurzel im Schloßhof zu wachsen. Sollte das auf den Untergang des Reiches deuten?‹ Tai Mou erschrak, er wendete sich und ordnete seinen Wandel. Er gedachte der Regierung der früheren Könige und brachte den Weg zur Pflege des Volkes wieder ans Licht. Und nach drei Jahren war es soweit, daß ferne Länder seine Gerechtigkeit rühmten, und Gesandte, die mehrere Dolmetscher brauchten4, kamen aus sechzehn Reichen. Das ist ein Beispiel, wie einer durch eignes Tun der Zeit des Himmels entgegenwirkte und drohendes Unheil in Glück verwandelte.

So sind Zeichen am Himmel und Vorbedeutungen auf der Erde dazu da, die Herrscher zu warnen. Träume und Wunder sind dazu da, um die Beamten zu warnen. Zeichen und Vorbedeutungen sind nicht stärker als eine gute Regierung, Gesichte und Träume sind nicht stärker als ein guter Wandel. Wer das zu erkennen vermag, der wird die höchste Stufe der Ordnung erreichen. Nur ein weiser Fürst kann das erreichen.«

Der Herzog sprach: »Wenn ich nicht so töricht wäre, hätte ich auch diese Lehre des Edlen nicht vernommen.«

3

Sin war der letzte der Yin-Herrscher, dessen Grausamkeit und Bedrückung sprichwörtlich geworden sind.

4

Ihre Länder waren so weit entfernt, daß es niemand gab, der beide Sprachen verstand, also mehrfach gedolmetscht werden mußte.

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 29-30.
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