Kapitel IV.

Über die Realität unserer Erkenntnis

[418] § 1. Philalethes. Wenn jemand die Wichtigkeit des Besitzes richtiger Vorstellungen und des Verständnisses ihrer Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung nicht begriffen hat, so wird er glauben, daß wir, wenn wir darüber mit soviel Sorgfalt handeln, Luftschlösser bauen und daß in unserem ganzen System nur Transzendentes und Eingebildetes vorkomme. Ein Phantast von erhitzter Einbildungskraft kann den Vorteil voraushaben, lebhaftere und zahlreichere Vorstellungen zu besitzen, also würde er auch mehr Erkenntnisse haben. In den Visionen eines Enthusiasten würde also ferner auch ebensoviel Gewißheit sein, als in den vernünftigen Erwägungen eines Menschen von gesunden Sinnen, wenn der Enthusiast nur zusammenhängend spricht; und es würde ebenso wahr sein zu sagen, daß eine Harpye nicht ein Zentaur ist, als zu sagen, daß ein Quadrat nicht ein Kreis ist. § 2. Ich antworte darauf, daß unsere Vorstellungen mit den Dingen übereinstimmen. § 3. Aber man wird ein Kriterium dafür fordern. § 4. Ich antworte noch einmal, daß 1) diese Übereinstimmung hinsichtlich der einfachen Vorstellungen unseres Geistes offenbar ist, denn da er sie nicht selbst bilden kann, müssen sie durch die Dinge hervorgebracht sein, welche auf unseren Geist wirken; und 2) daß (§ 5) alle unsere zusammengesetzten Vorstellungen, ausgenommen die der Substanzen, da sie Musterbilder sind, welche der Geist selbst gebildet und weder Kopien von irgend etwas zu sein bestimmt noch auf das Dasein irgend eines Dinges, als auf ihre Originale, bezogen hat, sie nicht umhin können, alle diejenige Übereinstimmung mit den Dingen zu haben, die zu einer realen Erkenntnis gehört.

Theophilus. Unsere Gewißheit würde gering oder vielmehr nichtig sein, wenn sie für die einfachen Vorstellungen keine andere Begründung als die von den Sinnen stammende darböte. Sie haben meinen Nachweis vergessen, daß die Vorstellungen ursprünglich unserem Geiste innewohnen und daß selbst unsere Gedanken aus unserem eigenen Innern kommen, ohne daß die übrigen[418] Geschöpfe einen unmittelbaren Einfluß auf die Seele haben können. Übrigens liegt der Grund unserer Gewißheit hinsichts der allgemeinen und ewigen Wahrheiten in den Vorstellungen selbst, unabhängig von den Sinnen, wie auch die reinen Vernunftvorstellungen nicht von den Sinnen abhangen, wie z.B. die des Seins, des Einen, des Selbigen usw. Aber die Vorstellungen der sinnlichen Eigenschaften, wie der Farbe, des Geschmacks usw. (welche in der Tat nur Phantasie-Erscheinungen sind), kommen uns aus der Sinnlichkeit, d.h. von unseren verworrenen Wahrnehmungen. Und der Grund der Wahrheit der zufälligen und einzelnen Dinge liegt in der Aufeinanderfolge, wonach die Erscheinungen der Sinne geradeso verbunden sind, wie die Vernunftwahrheiten es fordern. Das ist der Unterschied, den man dabei machen muß, während der von Ihnen hier zwischen den einfachen und zusammengesetzten, den Substanzen und den Akzidenzien zugehörigen Vorstellungen gemachte mir nicht begründet scheint, weil alle Vernunftvorstellungen ihre Urbilder in der ewigen Möglichkeit der Dinge haben.

§ 5. Philalethes. Allerdings brauchen unsere zusammengesetzten Vorstellungen nur dann Urbilder außer dem Geiste, wenn es sich um eine wirklich daseiende Substanz handelt, welche außer uns die einfachen Vorstellungen, aus denen jene zusammengesetzten bestehen, tatsächlich vereinigen muß. Die Erkenntnis der mathematischen Wahrheiten ist eine reale, obgleich sie sich nur an unsere Vorstellungen hält, und man z.B. nirgends vollkommene Kreise findet Man ist indessen überzeugt, daß die daseienden Dinge mit unseren Vorbildern übereinstimmen, in dem Maße, als das, was man dabei voraussetzt, sich als wirklich ausweist. § 7. Dies dient auch noch dazu, die Realität der moralischen Verhältnisse zu rechtfertigen. § 8. Die Offizien Ciceros sind darum nicht weniger mit der Wahrheit übereinstimmend, weil es niemand in der Welt gibt, der sein Leben genau nach dem Muster eines solchen Rechtschaffenen einrichtet, wie ihn Cicero uns beschreibt. § 9. Aber, wird man sagen, wenn die moralischen Vorstellungen von unserer Erfindung sind, welchen sonderbaren Begriff werden wir von der Gerechtigkeit und Mäßigkeit haben? § 10. Ich antworte, daß die Ungewißheit nur in der Sprache ist, weil man nicht immer[419] versteht, was man sagt, oder nicht immer dasselbe darunter versteht.

Theophilus. Sie könnten auch und meiner Ansicht nach viel besser antworten, daß die Vorstellungen der Gerechtigkeit und Mäßigkeit nicht von unserer Erfindung sind, ebensowenig wie die des Kreises oder Vierecks. Ich glaube das hinlänglich gezeigt zu haben.

§ 11. Philalethes. Was die Vorstellungen der Substanzen, die außer uns vorhanden sind, anbetrifft, so ist unsere Erkenntnis soweit real, als sie jenen Urbildern entspricht, und in dieser Hinsicht darf der Geist die Vorstellungen nicht willkürlich verbinden, um so weniger, als er nur sehr wenige einfache Vorstellungen hat, von denen wir sicher behaupten könnten, daß sie über das hinaus, was durch sinnliche Beobachtungen klar ist, in der Natur zusammen sein oder nicht zusammen sein können.

Theophilus. Weil, wie ich schon mehr als einmal erklärt habe, diese Vorstellungen, wenn die Vernunft ihre Zusammenstimmung oder Verknüpfung nicht beurteilen kann, verworren sind, ebenso wie die der besonderen Eigenschaften der Sinne.

§ 13. Philalethes. Es ist auch empfehlenswert, sich hinsichtlich der daseienden Substanzen nicht auf Namen oder auf Arten, welche man durch die Namen oder bestimmt hält, zu beschränken. Dies läßt mich wieder auf das zurückkommen, was wir schon ziemlich oft hinsichtlich der Definition des Menschen besprochen haben. Denn wenn man von einem Blödsinnigen spricht, der vierzig Jahre gelebt hat, ohne das geringste Zeichen von Vernunft zu geben, könnte man nicht sagen, daß er die Mitte zwischen Menschen und Tier einnimmt? Dies würde vielleicht für ein sehr kühnes Paradoxon oder selbst für einen Irrtum von sehr gefährlichen Folgen gelten. Indessen kam es mir sonst vor und kommt es noch einigen meiner Freunde vor, die ich noch nicht eines Besseren belehren kann, daß dies nur infolge eines auf jene falsche Voraussetzung gegründeten Vorurteils geschieht, wonach diese beiden Worte Mensch und Tier verschiedene, durch wirkliche Wesenheiten in der Natur so wohlbezeichnete Arten ausdrücken, daß keine andere Art zwischen sie fallen kann, wie wenn alle Dinge genau nach der Zahl jener Wesenheiten gleichsam in Formen gegossen[420] wären. § 14. Wenn man diese Freunde fragt, wel che Art von lebenden Wesen jene Blödsinnigen sind, wenn sie weder Menschen noch Tiere sein sollen, so antworten sie, daß es Blödsinnige sind und damit gut. Fragt man noch, was aus ihnen in der anderen Welt werden solle, so antworten unsere Freunde, daß es ihnen nicht darauf ankommt, es zu wissen oder zu erforschen. Daß »sie stehen und fallen ihrem Herrn« (Römerbrief Kap. 10, V. 4), der gut und treu ist und über seine Kreaturen nicht nach den engen Schranken unseres Denkens oder unserer besonderen Meinungen bestimmt und sie nicht entsprechend den Namen und Arten, welche uns auszusinnen gefällt, unterscheidet; daß es uns genügt, wenn die der Unterweisung Fähigen Rechenschaft von ihrem Wandel abzulegen aufgerufen und ihren Lohn empfangen werden nach dem, was sie bei Leibesleben getan haben (2. Corinth. Kap. 5, V. 10). § 15. Ich will Ihnen den Schluß Ihrer Argumentation darlegen. Die Frage, so sagen Sie, ob man den Blödsinnigen dies zukünftige Leben absprechen solle, beruht auf zwei in gleicher Weise falschen Voraussetzungen; die erste davon ist, daß jedes Wesen, das die Form und äußere Erscheinung des Menschen hat, für einen Zustand der Unsterblichkeit nach diesem Leben bestimmt ist, und die zweite, daß alles, was von menschlicher Abkunft ist, dies Vorrecht genießen muß. Nehmt diese Einbildungen weg und ihr werdet sehen, daß diese Art Probleme lächerlich und unbegründet ist. Und ich glaube in der Tat, daß man die erste Voraussetzung aufgeben muß und den Geist nicht so in Materie versenkt haben wird, um zu glauben, das ewige Leben komme irgend einer Gestalt von materiellem Stoffe dergestalt zu, daß der Stoff in Ewigkeit Bewußtsein haben müsse, weil er in eine solche Gestalt geformt worden ist. § 16. Aber die zweite Voraussetzung hilft vielleicht. Man wird sagen, jener Blödsinnige komme von vernunftbegabten Eltern und müsse deswegen eine vernunftbegabte Seele haben. Ich weiß nicht, auf welche Regel der Logik man eine solche Folgerung gründen kann, und wie man nachher schlecht geformte und monströse Geburten zu zerstören wagen darf. O, das sind Monstra, wird man sagen. Gut, es sei. Aber wird der Blödsinnige für immer unheilbar sein?[421] Soll denn ein leiblicher Fehler ein Monstrum ausmachen und nicht ein geistiger? Das heißt zu der schon widerlegten ersten Voraussetzung zurückkehren, daß das Äußere genügt. Ein wohlgeformter Blödsinniger ist ein Mensch, sofern man glaubt, daß er eine vernünftige Seele hat, mag sie sich auch nicht zeigen. Aber macht die Ohren ein wenig länger und spitzer und die Nase ein wenig platter als gewöhnlich, so fangt ihr schon ungewiß zu werden an. Macht das Gesicht enger, platter und länger – dann seid ihr völlig entschieden. Und wenn der Kopf vollkommen der irgend eines Tieres ist, so ist's ohne Zweifel ein Monstrum, und das ist euch ein Beweis, daß er keine vernünftige Seele hat und aus der Welt geschafft werden muß. Ich frage euch, wo das rechte Maß und die letzten Grenzen finden, welche eine vernünftige Seele noch zulassen? Es gibt menschliche Fötus, die halb Tier, halb Mensch sind; es haben andere drei Viertel vom Tier, ein Viertel vom Menschen. Wie soll man nun auf gerechte Weise die Charakterzüge bestimmen, welche die Vernunft bezeichnen? Wird ferner ein solches Monstrum nicht eine Mittelart zwischen Mensch und Tier sein? Und gerade ein solches ist der Blödsinnige, um den es sich handelt.

Theophilus. Ich wundere mich, daß Sie zu dieser Streitfrage zurückkehren, welche wir doch hinlänglich und zwar mehr als einmal untersuchten, und daß Sie Ihre Freunde nicht besser unterrichtet haben. Wenn wir den Menschen vom Tier durch das Vermögen des vernünftigen Denkens unterscheiden, so gibt es kein Mittleres; das lebende Wesen, um das es sich handelt, muß jenes Vermögen haben oder nicht, aber da es sich mitunter nicht zeigt, so urteilt man aus Anzeichen darüber, welche freilich nicht einen strikten Beweis liefern, bis die Vernunft sich zeigt; denn man weiß aus Erfahrung von denen, die sie verloren oder die endlich den Gebrauch derselben erlangt haben, daß ihre Ausübung zeitweise aufgehoben werden kann. Die Abkunft und die Leibesgestalt geben von dem noch Verborgenen ein vorläufiges Urteil. Aber dies von der Abkunft hergenommene Vorurteil wird durch eine von der menschlichen sehr verschiedene Gestalt entkräftet, wie eine solche z.B. dasjenige Wesen hatte, welches von einer Frau in Zeeland[422] (bei Levinus Lemnius I. l, Kap. 8) geboren war und das einen krummen Schnabel, einen langen runden Hals, funkelnde Augen, einen spitzen Schwanz und sogleich eine große Fertigkeit besaß, durch das Zimmer zu laufen. Man könnte aber sagen, daß es Monstra oder sogenannte lombardische Brüder gäbe (wie die Ärzte sie sonst nannten, auf Grund der Sage, daß die Frauen in der Lombardei solchen Arten von Geburten unterworfen waren), die sich der menschlichen Figur mehr annähern. Gut, es sei. Wie also, werdet Ihr sagen, kann man die Grenzen der Gestalt, welche für eine menschliche gelten muß, gerade so richtig bestimmen? Ich antworte, daß bei einem Gegenstande, der nur Vermutungen zuläßt, man keine genauen Grenzen hat. Und damit ist die Sache zu Ende. Man wirft ein, der Blödsinnige zeige keine Vernunft und gelte dennoch für einen Menschen, aber wenn er eine monströse Gestalt hat, würde er es nicht sein, und nehme man also mehr Rücksicht auf die Gestalt als auf die Vernunft? Aber zeigt denn jenes Monstrum Vernunft? Freilich nicht. Ihr seht also, daß ihm mehr fehlt, als dem Blödsinnigen. Der Mangel in der Anwendung der Vernunft dauert oft eine Zeitlang, hört aber nicht bei denen auf, wo er von einem Hundekopf begleitet ist. Wenn übrigens dies Wesen von menschlicher Gestalt kein Mensch ist, so ist's nicht schlimm, es während der Unsicherheit über sein Schicksal zu erhalten. Und mag es eine vernünftige Seele haben oder eine solche, die das nicht ist, so wird es Gott doch nicht umsonst gemacht haben, und man wird von solchen Menschen, die in einem dem ersten Kindesalter ähnlichen Zustande verharren, sagen, daß ihr Schicksal dasselbe sein möge, als das der Seelen derjenigen Kinder, welche in der Wiege sterben.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 418-423.
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