Theorie der geistigen Tätigkeit

[151] Nun vernimm noch in Kürze, wodurch in Bewegung gesetzt wird

Unser Geist und woher der Gedanke zum Denken gebracht wird.

Erstlich behaupte ich dies: es bewegen sich Bilder der Dinge

Viele auf vielfache Art nach allen möglichen Seiten.

Zart ist ihr Wesen; drum bleiben sie leicht in der Luft aneinander

Bei der Begegnung hängen wie Spinnengewebe und Blattgold.

Sind ja doch solcherlei Bilder viel feiner in ihrem Gewebe

Als was sonst uns die Blicke ergreift und das Auge kann reizen.

Denn durch die Maschen des Leibes gelangen uns solche ins Innre,

Weckenden duftigen Geist und reizen die Sinnesempfindung.

So erblicken wir denn Centauren und Glieder der Scylla,

Fratzen des Höllenhunds und Bilder von lange Entschlafnen.

Deren Gebein in der Todesnacht umschließet die Erde.

Überall schwärmen ja Bilder herum von allerlei Arten,

Die teils erst in den Lüften sich ganz selbständig entwickeln,

Teils auch irgendwie aus verschiedenen Dingen sich lösen,

Und aus deren Gestalten sich formt ein neues Gesamtbild.

Denn das Centaurenbild kann gewiß nicht vom Lebenden stammen,

Weil es ja nie in der Welt solch lebendes Wesen gegeben;

Doch wenn der Zufall eint die Bilder vom Roß und vom Menschen,

Hängen sie leicht aneinander, da, wie schon früher gesagt ward,

Sie gar feine Natur und zartes Gewebe besitzen.

Ebenso bilden sich auch noch sonst gleichartige Bilder.

Dringen nun diese beweglich mit äußerster Leichtigkeit weiter,

Kann, wie ich früher gezeigt, ein beliebiges einziges Bildchen[151]

Auch schon durch einen Stoß, da es fein ist, den Geist uns erregen.

Denn auch dieser ist selbst gar wundersam zart und beweglich.

Daß dies so, wie ich sage, geschieht, kannst leicht du begreifen;

Denn da das geistige Schauen dem leiblichen ganz analog ist,

Muß sich auch jenes natürlich auf ähnliche Weise vollziehen.

Da ich nun oben gelehrt, daß wenn ich den Löwen, zum Beispiel,

Sehe, mein Auge einmal durch Bilder des Löwen gereizt wird,

Gilt auch der Schluß, daß der Geist auf ähnliche Weise erregt wird,

Nämlich durch Bilder von Löwen und anderem, was er so wahrnimmt

Grad wie das Auge, nur daß er noch zartere Bilder kann schauen.

Eben darum bleibt, wenn auch die Glieder im Schlummer sich strecken,

Wach noch die geistige Kraft. Nur daß dieselbigen Bilder

Wie im Wachen, so jetzt auch im Traume die Seele uns reizen,

Aber so stark, daß wir glauben noch lebend manchen zu schauen,

Den schon das Leben verlassen und Tod und Erde verschluckt hat.

Dieses bewirkt der Zwang der Natur, weil während des Schlafes

Sämtliche Sinne des Körpers gehemmt fest ruhn in den Gliedern;

Und sie können daher nicht den Wahn durch die Wirklichkeit abtun.

Auch das Gedächtnis versagt und leidet infolge des Schlummers.

Deshalb befremdet es nicht, daß jener schon längst von dem Tode

Wurde gepackt, den der Geist noch lebendigen schauen vermeinet,

Übrigens nimmt es nicht Wunder zu sehn, wie die Bilder sich regen.

Wie sie die Arme im Takt und die übrigen Glieder bewegen.

Glauben wir doch im Schlafe bisweilen dergleichen zu sehen.

Denn wenn das frühere Bild uns verschwand und ein neues mit andrer

Stellung entstand, so scheint uns das erste die Haltung zu ändern.

Dies vollzieht sich natürlich im Nu, was wohl zu beachten.

So beweglich und zahlreich erscheint uns die Menge der Dinge

Wie auch der Teilchen, die ständig in jedem nur meßbaren Zeitraum

Ihnen entquellen, daß nie ihr Nachschub könnte versagen.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 151-152.
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