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[1139] Sich vollkommene Gegner wünschen. – Man kann es den Franzosen nicht streitig machen, daß sie das christlichste Volk der Erde gewesen sind: nicht in Hinsicht darauf, daß die Gläubigkeit der Masse bei ihnen größer gewesen sei als anderwärts, sondern deshalb, weil bei ihnen die schwierigsten christlichen Ideale sich in Menschen verwandelt haben und nicht nur Vorstellung, Ansatz, Halbheit geblieben sind. Da steht Pascal, in der Vereinigung von Glut, Geist und Redlichkeit der erste aller Christen, – und man erwäge, was sich hier zu vereinigen hatte! Da steht Fénelon, der vollkommene und bezaubernde Ausdruck der kirchlichen Kultur in allen ihren Kräften: eine goldene Mitte, die man als Historiker geneigt sein könnte, als etwas Unmögliches zu beweisen, während sie nur etwas unsäglich Schwieriges und Unwahrscheinliches gewesen ist. Da steht Frau von Guyon unter ihresgleichen, den französischen Quietisten: und alles, was die Beredsamkeit[1139] und die Brunst des Apostels Paulus vom Zustande der erhabensten, liebendsten, stillsten, verzücktesten Halbgöttlichkeit des Christen zu erraten gesucht hat, ist da Wahrheit geworden und hat dabei jene jüdische Zudringlichkeit, welche Paulus gegen Gott hat, abgestreift, dank einer echten, frauenhaften, feinen, vornehmen, altfranzösischen Naivität in Wort und Gebärde. Da steht der Gründer der Trappistenklöster, er, der mit dem asketischen Ideale des Christentums den letzten Ernst gemacht hat, nicht als eine Ausnahme unter Franzosen, sondern recht als Franzose: denn bis zu diesem Augenblick vermochte seine düstere Schöpfung nur unter Franzosen heimisch und kräftig zu bleiben, sie folgte ihnen in den Elsaß und nach Algerien. Vergessen wir die Hugenotten nicht: schöner ist die Vereinigung des kriegerischen und arbeitsamen Sinnes, der feineren Sitte und der christlichen Strenge bisher nicht dagewesen. Und in Port Royal kam zum letzten Male das große christliche Gelehrtentum zum Blühen: und das Blühen verstehen große Menschen in Frankreich besser als anderwärts. Ferne davon, oberflächlich zu sein, hat ein großer Franzose immer doch seine Oberfläche, eine natürliche Haut für seinen Inhalt und seine Tiefe, – während die Tiefe eines großen Deutschen zumeist wie in einer krausförmigen Kapsel verschlossen gehalten wird, als ein Elixier, das vor Licht und leichtfertigen Händen durch seine harte und wunderliche Hülle sich zu schützen sucht. – Und nun errate man, warum dieses Volk der vollendeten Typen der Christlichkeit auch die vollendeten Gegentypen des unchristlichen Freigeistes erzeugen mußte! Der französische Freigeist kämpfte in sich immer mit großen Menschen und nicht nur mit Dogmen und erhabenen Mißgeburten, wie die Freigeister anderer Völker.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1139-1140.
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