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[1141] Die sogenannte klassische Erziehung. – Zu entdecken, daß unser Leben der Erkenntnis geweiht ist; daß wir es wegwerfen würden, nein! daß wir es weggeworfen hätten, wenn nicht diese Weihe es vor uns selber schützte; jenen Vers sich oft und mit Erschütterung vorsprechen:
»Schicksal, ich folge dir! Und wollt ich nicht,
ich müßt' es doch und unter Seufzen tun!«
– Und nun, bei einem Rückblick auf den Weg des Lebens, ebenfalls entdecken, daß etwas nicht wieder gut zu machen ist: die Vergeudung unserer Jugend, als unsre Erzieher jene wißbegierigen, heißen und durstigen Jahre nicht dazu verwandten, uns der Erkenntnis der Dinge entgegenzuführen, sondern der sogenannten »klassischen Bildung«! Die Vergeudung unserer Jugend, als man uns ein dürftiges Wissen um Griechen und Römer und deren Sprachen ebenso ungeschickt als quälerisch beibrachte, und zuwider dem obersten Satze aller Bildung: daß man nur dem, der Hunger darnach hat, eine Speise gebe! Als man uns Mathematik und Physik auf eine gewaltsame Weise aufzwang, anstatt uns erst in die Verzweiflung der Unwissenheit zu führen und unser kleines tägliches Leben, unsre Hantierungen und alles, was sich zwischen Morgen und Abend im Hause, in der Werkstatt, am Himmel, in der Landschaft begibt, in Tausende von Problemen aufzulösen, von peinigenden, beschämenden, aufreizenden Problemen – um unsrer Begierde dann zu zeigen, daß wir ein mathematisches und mechanisches Wissen zu allernächst nötig haben, und uns dann das erste wissenschaftliche Entzücken, an der absoluten Folgerichtigkeit dieses Wissens zu lehren! Hätte man uns auch nur die Ehrfurcht vor diesen Wissenschaften gelehrt, hätte man uns mit dem Ringen und Unterliegen und Wieder-Weiterkämpfen der Großen, von dem Martyrium, welches die Geschichte der strengen Wissenschaft ist, auch nur einmal die Seele erzittern machen! Vielmehr blies uns der Hauch einer gewissen Geringschätzung der eigentlichen Wissenschaften an, zugunsten der Historie, der »formalen Bildung« und der »Klassizität«! Und wir ließen uns so leicht betrügen! Formale Bildung! Hätten wir nicht auf die besten Lehrer unsrer Gymnasien zeigen können, lachend und fragend:[1142] »wo ist denn da die formale Bildung? Und wenn sie fehlt, wie sollen sie dieselbe lehren?« Und Klassizität! Lernten wir etwas von dem, worin gerade die Alten ihre Jugend erzogen? Lernten wir sprechen wie sie, schreiben wie sie? Übten wir uns unablässig in der Fechtkunst des Gesprächs, in der Dialektik? Lernten wir uns schön und stolz bewegen wie sie, ringen, werfen, faustkämpfen wie sie? Lernten wir etwas von der praktischen Asketik aller griechischen Philosophen? Wurden wir in einer einzigen antiken Tugend geübt, und in der Weise, wie die Alten sie übten. Fehlte nicht überhaupt das ganze Nachdenken über Moral in unsrer Erziehung, um wieviel mehr gar die einzig mögliche Kritik desselben, jene strengen und mutigen Versuche, in dieser oder jener Moral zu leben? Erregte man in uns irgendein Gefühl, das den Alten höher galt als den Neueren? Zeigte man uns die Einteilung des Tages und des Lebens und die Ziele über dem Leben in einem antiken Geiste? Lernten wir auch nur die alten Sprachen so, wie wir die lebender Völker lernen, – nämlich zum Sprechen und zum Bequem- und Gut-Sprechen? Nirgends ein wirkliches Können, ein neues Vermögen als Ergebnis mühseliger Jahre! Sondern ein Wissen darum, was ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben! Und was für ein Wissen! Nichts wird mir von Jahr zu Jahr deutlicher, als daß alles griechische und antike Wesen, so schlicht und weltbekannt es vor uns zu liegen scheint, sehr schwer verständlich, ja kaum zugänglich ist, und daß die übliche Leichtigkeit, mit der von den Alten geredet wird, entweder eine Leichtfertigkeit oder ein alter erblicher Dünkel der Gedankenlosigkeit ist. Die ähnlichen Worte und Begriffe täuschen uns: aber hinter ihnen liegt immer eine Empfindung versteckt, welche dem modernen Empfinden fremd, unverständlich oder peinlich sein müßte. Das sind mir Gebiete, auf denen sich Knaben tummeln dürften! Genug, wir haben es getan, als wir Knaben waren und uns beinahe für immer dabei einen Widerwillen gegen das Altertum heimgeholt, den Widerwillen einer scheinbar allzu großen Vertraulichkeit! Denn so weit geht die stolze Einbildung unserer klassischen Erzieher, gleichsam im Besitz der Alten zu sein, daß sie diesen Dünkel noch auf die Erzogenen überfließen lassen, nebst dem Verdachte, daß ein solcher Besitz nicht wohl selig machen könne, sondern daß er gut genug für rechtschaffne, arme, närrische alte Bücher-Drachen sei: »mögen diese[1143] auf ihrem Horte brüten! er wird wohl ihrer würdig sein!« – mit diesem stillen Hintergedanken vollendete sich unsere klassische Erziehung. – Dies ist nicht wieder gutzumachen – an uns! Aber denken wir nicht nur an uns!
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