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[1152] Vom Volke Israel. – Zu den Schauspielen, auf welche uns das nächste Jahrhundert einladet, gehört die Entscheidung im Schicksale der europäischen Juden. Daß sie ihren Würfel geworfen, ihren Rubikon überschritten haben, greift man jetzt mit beiden Händen: es bleibt ihnen nur noch übrig, entweder die Herren Europas zu werden oder Europa zu verlieren, so wie sie einst vor langen Zeiten Ägypten verloren, wo sie sich vor ein ähnliches Entweder-Oder gestellt hatten. In Europa aber haben sie eine Schule von achtzehn Jahrhunderten[1152] durchgemacht, wie sie hier kein andres Volk aufweisen kann, und zwar so, daß nicht eben der Gemeinschaft, aber um so mehr den einzelnen die Erfahrungen dieser entsetzlichen Übungszeit zugute gekommen sind. Infolge davon sind die seelischen und geistigen Hilfsquellen bei den jetzigen Juden außerordentlich; sie greifen in der Not am seltensten von allen, die Europa bewohnen, zum Becher oder zum Selbstmord, um einer tiefen Verlegenheit zu entgehen, – was dem geringer Begabten so nahe liegt. Jeder Jude hat in der Geschichte seiner Väter und Großväter eine Fundgrube von Beispielen kältester Besonnenheit und Beharrlichkeit in furchtbaren Lagen, von feinster Überlistung und Ausnützung des Unglücks und des Zufalls; ihre Tapferkeit unter dem Deckmantel erbärmlicher Unterwerfung, ihr Heroismus im spernere se sperni übertrifft die Tugenden aller Heiligen. Man hat sie verächtlich machen wollen, dadurch, daß man sie zwei Jahrtausende lang verächtlich behandelte und ihnen den Zugang zu allen Ehren, zu allem Ehrbaren verwehrte, dafür sie um so tiefer in die schmutzigeren Gewerbe hineinstieß, – und wahrhaftig, sie sind unter dieser Prozedur nicht reinlicher geworden. Aber verächtlich? Sie haben selber nie aufgehört, sich zu den höchsten Dingen berufen zu glauben, und ebenso haben die Tugenden aller Leidenden nie aufgehört, sie zu schmücken. Die Art, wie sie ihre Väter und ihre Kinder ehren, die Vernunft ihrer Ehen und Ehesitten zeichnet sie unter allen Europäern aus. Zu alledem verstanden sie es, ein Gefühl der Macht und der ewigen Rache sich aus eben den Gewerben zu schaffen, welche man ihnen überließ (oder denen man sie überließ); man muß es zur Entschuldigung selbst ihres Wuchers sagen, daß sie ohne diese gelegentliche angenehme und nützliche Folterung ihrer Verächter es schwerlich ausgehalten hätten, sich so lange selbst zu achten. Denn unsere Achtung vor uns selber ist daran gebunden, daß wir Wiedervergeltung im Guten und Schlimmen üben können. Dabei reißt sie ihre Rache nicht leicht zu weit: denn sie haben alle die Freisinnigkeit, auch die der Seele, zu welcher der häufige Wechsel des Ortes, des Klimas, der Sitten von Nachbarn und Unterdrückern den Menschen erzieht, sie besitzen die bei weitem größte Erfahrung in allem menschlichen Verkehre und üben selbst in der Leidenschaft noch die Vorsicht dieser Erfahrung. Ihrer geistigen Geschmeidigkeit und Gewitztheit[1153] sind sie so sicher, daß sie nie, selbst in der bittersten Lage nicht, nötig haben, mit der physischen Kraft, als grobe Arbeiter, Lastträger, Ackerbausklaven ihr Brot zu erwerben. Ihren Manieren merkt man noch an, daß man ihnen niemals ritterlich vornehme Empfindungen in die Seele und schöne Waffen um den Leib gegeben hat: etwas Zudringliches wechselt mit einer oft zärtlichen, fast stets peinlichen Unterwürfigkeit. Aber jetzt, da sie unvermeidlich von Jahr zu Jahr mehr sich mit dem besten Adel Europas verschwägern, werden sie bald eine gute Erbschaft von Manieren des Geistes und Leibes gemacht haben: so daß sie in hundert Jahren schon vornehm genug dreinschauen werden, um als Herren bei den ihnen Unterworfenen nicht Scham zu erregen. Und darauf kommt es an! Deshalb ist ein Austrag ihrer Sache für jetzt noch verfrüht! Sie wissen selber am besten, daß an eine Eroberung Europas und an irgendwelche Gewaltsamkeit für sie nicht zu denken ist: wohl aber, daß Europa irgendwann einmal wie eine völlig reife Frucht ihnen in die Hand fallen dürfte, welche sich ihr nur leicht entgegenstreckt. Inzwischen haben sie dazu nötig, auf allen Gebieten der europäischen Auszeichnung sich auszuzeichnen und unter den Ersten zu stehen: bis sie es so weit bringen, das, was auszeichnen soll, selber zu bestimmen. Dann werden sie die Erfinder und Wegzeiger der Europäer heißen und nicht mehr deren Scham beleidigen. Und wohin soll auch diese Fülle angesammelter großer Eindrücke, welche die jüdische Geschichte für jede jüdische Familie ausmacht, diese Fülle von Leidenschaften, Tugenden, Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen, Siegen aller Art, – wohin soll sie sich ausströmen, wenn nicht zuletzt in große geistige Menschen und Werke! Dann, wenn die Juden auf solche Edelsteine und goldene Gefäße als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europäischen Völker kürzerer und weniger tiefer Erfahrung nicht hervorzubringen vermögen und vermochten, wenn Israel seine ewige Rache in eine ewige Segnung Europas verwandelt haben wird: dann wird jener siebente Tag wieder einmal da sein, an dem der alte Judengott sich seiner selber, seiner Schöpfung und seines auserwählten Volkes freuen darf, – und wir alle, alle wollen uns mit ihm freun!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1152-1154.
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