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[1154] Der unmögliche Stand. – Arm, fröhlich und unabhängig! – das ist beisammen möglich; arm, fröhlich und Sklave! – das ist auch möglich, – und ich wüßte den Arbeitern der Fabrik-Sklaverei nichts Besseres zu sagen: gesetzt, sie empfinden es nicht überhaupt als Schande, dergestalt, wie es geschieht, als Schrauben einer Maschine und gleichsam als Lückenbüßer der menschlichen Erfindungskunst verbraucht zu werden! Pfui! zu glauben, daß durch höhere Zahlung das Wesentliche ihres Elends, ich meine ihre unpersönliche Verknechtung, gehoben werden könne! Pfui! sich aufreden zu lassen, durch eine Steigerung dieser Unpersönlichkeit, innerhalb des maschinenhaften Getriebes einer neuen Gesellschaft, könne die Schande der Sklaverei zur Tugend gemacht werden! Pfui! einen Preis zu haben, für den man nicht mehr Person bleibt, sondern Schraube wird! Seid ihr die Mitverschworenen in der jetzigen Narrheit der Nationen, welche vor allem möglichst viel produzieren und möglichst reich sein wollen? Eure Sache wäre es, ihnen die Gegenrechnung vorzuhalten: wie große Summen inneren Wertes für ein solches äußerliches Ziel weggeworfen werden! Wo ist aber euer innerer Wert, wenn ihr nicht mehr wißt, was frei atmen heißt? euch selber nicht einmal notdürftig in der Gewalt habt? eurer wie eines abgestandenen Getränkes allzu oft überdrüssig werdet? nach der Zeitung hinhorcht und den reichen Nachbar anschielt, lüstern gemacht durch das schnelle Steigen und Fallen von Macht, Geld und Meinungen? wenn ihr keinen Glauben mehr an die Philosophie, die Lumpen trägt, an die Freimütigkeit des Bedürfnislosen habt? wenn euch die freiwillige idyllische Armut, Berufs- und Ehelosigkeit, wie sie recht wohl den Geistigeren unter euch anstehen sollte, zum Gelächter geworden ist? Dagegen die Pfeife der sozialistischen Rattenfänger immer im Ohre tönt, die euch mit tollen Hoffnungen brünstig machen wollen? welche euch heißen, bereit zu sein und nichts weiter, bereit von heute auf morgen, so daß ihr auf etwas von außen her wartet und wartet und in allem sonst lebt, wie ihr sonst gelebt habt, – bis dieses Warten zum Hunger und zum Durst und zum Fieber und zum Wahnsinn wird, und endlich der Tag der bestia triumphans in aller Herrlichkeit aufgeht? – Dagegen sollte doch jeder bei sich denken:[1155] »lieber auswandern, in wilden und frischen Gegenden der Welt Herr zu werden suchen und vor allem Herr über mich selber; den Ort so lange wechseln, als noch irgendein Zeichen von Sklaverei mir winkt; dem Abenteuer und dem Kriege nicht aus dem Wege gehen und für die schlimmsten Zufälle den Tod in Bereitschaft halten: nur nicht länger diese unanständige Knechtschaft, nur nicht länger dies Sauer- und Giftig- und Verschwörerischwerden!« Dies wäre die rechte Gesinnung: die Arbeiter in Europa sollten sich als Stand fürderhin für eine Menschen-Unmöglichkeit, und nicht nur, wie meistens geschieht, als etwas hart und unzweckmäßig Eingerichtetes, erklären; sie sollten ein Zeitalter des großen Ausschwärmens im europäischen Bienenstocke heraufführen, wie dergleichen bisher noch nicht erlebt wurde, und, durch diese Tat der Freizügigkeit im großen Stil, gegen die Maschine, das Kapital und die jetzt ihnen drohende Wahl protestieren, entweder Sklave des Staates oder Sklave einer Umsturz-Partei werden zu müssen. Möge sich Europa des vierten Teiles seiner Bewohner erleichtern! Ihm und ihnen wird es leichter ums Herz werden! In der Ferne erst, bei den Unternehmungen schwärmender Kolonisten-Züge wird man recht erkennen, wie viel gute Vernunft und Billigkeit, wie viel gesundes Mißtrauen die Mutter Europa ihren Söhnen einverleibt hat – diesen Söhnen, welche es neben ihr, dem verdumpften alten Weibe, nicht mehr aushalten konnten und Gefahr liefen, griesgrämig, reizbar und genußsüchtig, wie sie selber, zu werden. Außerhalb Europas werden die Tugenden Europas mit diesen Arbeitern auf der Wanderschaft sein; und das, was zu gefährlichem Mißmut und verbrecherischem Hange innerhalb der Heimat zu entarten begann, wird draußen eine wilde, schöne Natürlichkeit gewinnen und Heroismus heißen. – So käme doch endlich auch wieder reinere Luft in das alte, jetzt übervölkerte und in sich brütende Europa! Mag es immerhin dann an »Arbeitskräften« etwas fehlen! Vielleicht wird man sich dabei besinnen, daß man an viele Bedürfnisse sich erst seitdem gewöhnt hat, als es so leicht wurde, sie zu befriedigen, – man wird einige Bedürfnisse wieder verlernen! Vielleicht auch wird man dann Chinesen hereinholen: und diese würden die Denk- und Lebensweise mitbringen, welche sich für arbeitsame Ameisen schickt. Ja, sie könnten im ganzen dazu helfen, dem unruhigen und sich aufreibenden Europa etwas asiatische[1156] Ruhe und Betrachtsamkeit und – was am meisten wohl not tut – asiatische Dauerhaftigkeit ins Geblüt zu geben.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1154-1157.
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Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
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