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[1173] Feinheit des Machtgefühls. – Napoleon ärgerte sich, schlecht zu sprechen, und belog sich hierüber nicht: aber seine Herrschsucht, die keine Gelegenheit verschmähte und feiner war als sein feiner Geist, brachte ihn dahin, noch schlechter zu sprechen, als er konnte. So rächte er sich an seinem eignen Ärger (er war eifersüchtig auf alle seine Affekte, weil sie Macht hatten) und genoß sein autokratisches Belieben. Sodann, in Hinsicht auf Ohren und Urteil der Hörenden, genoß er dies Belieben noch einmal: wie als ob so zu ihnen zu reden, immer noch gut genug sei. Ja, er frohlockte im Geheimen bei dem Gedanken, durch Blitz und Donner der höchsten Autorität – welche im Bunde von Macht und Genialität liegt – das Urteil zu betäuben und den Geschmack irrezuführen; während beides in ihm kalt und stolz an der Wahrheit festhielt, daß er schlecht spreche. – Napoleon, als ein vollkommen zu Ende gedachter und ausgearbeiteter Typus eines Triebes, gehört zu der antiken Menschheit: deren Merkmale – der einfache Aufbau und das erfinderische Ausbilden und Ausdichten eines Motivs oder weniger Motive – leicht genug zu erkennen sind.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1173.
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