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[1246] Das böse Prinzip. – Plato hat es prachtvoll beschrieben, wie der philosophische Denker inmitten jeder bestehenden Gesellschaft als der Ausbund aller Ruchlosigkeit gelten muß: denn als Kritiker aller Sitten ist er der Gegensatz des sittlichen Menschen, und wenn er es nicht so weit bringt, der Gesetzgeber neuer Sitten zu werden, so bleibt er in der Erinnerung der Menschen zurück als »das böse Prinzip«. Wir dürfen hieraus erraten, wie die ziemlich freisinnige und neuerungssüchtige Stadt Athen dem Rufe Platos bei seinen Lebzeiten mitgespielt hat: was Wunders, daß er – der, wie er selber sagt, den »politischen Trieb« im Leibe hatte – dreimal einen Versuch in Sizilien gemacht hat, wo sich damals gerade ein gesamtgriechischer Mittelmeer-Staat vorzubereiten schien? In ihm und mit seiner Hilfe gedachte Plato für alle Griechen das zu tun, was Mohammed später für seine Araber tat: die großen und kleinen Bräuche und namentlich die tägliche Lebensweise von jedermann festzusetzen. Möglich waren seine Gedanken so gewiß die des Mohammed möglich waren: sind doch viel unglaublichere die des Christentums, als möglich bewiesen worden! Ein paar Zufälle weniger und ein paar andere Zufälle mehr – und die Welt hätte die Platonisierung des europäischen Südens erlebt; und gesetzt, dieser Zustand dauerte jetzt noch fort, so würde mutmaßlich in Plato das »gute Prinzip« von uns verehrt werden. Aber der Erfolg fehlte ihm: und so blieb ihm der Ruf eines Phantasten und Utopisten – die härteren Namen sind mit dem alten Athen zugrunde gegangen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1246.
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