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[1246] Das reinmachende Auge. – Von »Genius« wäre am ehesten bei solchen Menschen zu reden, wo der Geist, wie bei Plato, Spinoza und Goethe,[1246] an den Charakter und das Temperament nur lose angeknüpft erscheint, als ein beflügeltes Wesen, das sich von jenen leicht trennen und sich dann weit über sie erheben kann. Dagegen haben gerade solche am lebhaftesten von ihrem »Genius« gesprochen, welche von ihrem Temperament nie loskamen und ihm den geistigsten, größten, allgemeinsten, ja unter Umständen kosmischen Ausdruck zu geben wußten (wie zum Beispiel Schopenhauer). Diese Genies konnten nicht über sich hinausfliegen, aber sie glaubten sich vorzufinden, wiederzufinden, wohin sie auch nur flogen, – das ist ihre »Größe«, und kann Größe sein! – Die anderen, welchen der Name eigentlicher zukommt, haben das reine, reinmachende Auge, das nicht aus ihrem Temperament und Charakter gewachsen scheint, sondern frei von ihnen und meist in einem milden Widerspruch gegen sie auf die Welt wie auf einen Gott blickt und diesen Gott liebt. Auch ihnen ist aber dieses Auge nicht mit einem Male geschenkt: es gibt eine Übung und Vorschule des Sehens, und wer rechtes Glück hat, findet zur rechten Zeit auch einen Lehrer des reinen Sehens.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1246-1247.
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Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
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