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[1256] »Die Liebe macht gleich.« – Die Liebe will dem andern, dem sie sich weiht, jedes Gefühl von Fremdsein ersparen, sie ist folglich voller Verstellung und Anähnlichung, sie betrügt fortwährend und schauspielert[1256] eine Gleichheit, die es in Wahrheit nicht gibt. Und dies geschieht so instinktiv, daß liebende Frauen diese Verstellung und beständige zarteste Betrügerei ableugnen und kühn behaupten, die Liebe mache gleich (das heißt sie tue ein Wunder!). – Dieser Vorgang ist einfach, wenn die eine Person sich lieben läßt und es nicht nötig findet, sich zu verstellen, vielmehr dies der andern, liebenden überläßt: aber nichts Verwickelteres und Undurchdringbareres von Schauspielerei gibt es, als wenn beide in der vollen Leidenschaft füreinander sind, und folglich jeder sich aufgibt und sich dem andern gleichstellen und ihm allein gleichmachen will: und keiner zuletzt mehr weiß, was er nachahmen wozu er sich verstellen, als was er sich geben soll. Die schöne Tollheit dieses Schauspiels ist zu gut für diese Welt und zu fein für menschliche Augen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1256-1257.
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