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[1257] Wir Anfänger! – Was errät und sieht ein Schauspieler alles, wenn er einen andern spielen sieht! Er weiß es, wenn ein Muskel an einer Gebärde den Dienst versagt, er sondert jene kleinen, gemachten Dinge ab, welche einzeln und kaltblütig vor dem Spiegel eingeübt sind und nicht ins Ganze hineinwachsen wollen, er fühlt es, wenn der Spieler von seiner eignen Erfindung auf der Szene überrascht wird und wenn er sie in der Überraschung verdirbt. – Wie anders wieder sieht ein Maler auf einen vor ihm sich bewegenden Menschen! Er sieht namentlich sofort Vieles hinzu, um das Gegenwärtige zu vervollständigen und zur ganzen Wirkung zu bringen; er probiert im Geiste mehrere Beleuchtungen desselben Gegenstandes, er dividiert das Ganze der Wirkung durch einen Gegensatz, den er hinzustellt. – Hätten wir doch erst das Auge dieses Schauspielers und dieses Malers für das Reich der menschlichen Seelen!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1257.
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