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[68] Unser Erstaunen. – Es liegt ein tiefes und gründliches Glück darin, daß die Wissenschaft Dinge ermittelt, die standhalten und die immer wieder den Grund zu neuen Ermittlungen abgeben – es könnte ja anders sein! Ja, wir sind so sehr von all der Unsicherheit und Phantasterei unsrer Urteile und von dem ewigen Wandel aller menschlichen Gesetze und Begriffe überzeugt, daß es uns eigentlich ein Erstaunen[68] macht, wie sehr die Ergebnisse der Wissenschaft standhalten! Früher wußte man nichts von dieser Wandelbarkeit alles Menschlichen, die Sitte der Sittlichkeit hielt den Glauben aufrecht, daß das ganze innere Leben des Menschen mit ewigen Klammern an die eherne Notwendigkeit geheftet sei – vielleicht empfand man damals eine ähnliche Wollust des Erstaunens, wenn man sich Märchen und Feengeschichten erzählen ließ. Das Wunderbare tat jenen Menschen so wohl, die der Regel und der Ewigkeit mitunter wohl müde werden mochten. Einmal den Boden verlieren! Schweben! Irren! Toll sein! – das gehörte zum Paradies und zur Schwelgerei früherer Zeiten: während unsere Glückseligkeit der des Schiffbrüchigen gleicht, der ans Land gestiegen ist und mit beiden Füßen sich auf die alte feste Erde stellt – staunend, daß sie nicht schwankt.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 68-69.
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Die fröhliche Wissenschaft
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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