[78] Wir Künstler! – Wenn wir ein Weib lieben, so haben wir leicht einen Haß auf die Natur, aller der widerlichen Natürlichkeiten gedenkend, denen jedes Weib ausgesetzt ist; gerne denken wir überhaupt daran vorbei, aber wenn einmal unsere Seele diese Dinge streift, so zuckt sie ungeduldig und blickt, wie gesagt, verächtlich nach der Natur hin – wir sind beleidigt, die Natur scheint in unsern Besitz einzugreifen, und mit den ungeweihtesten Händen. Da macht man die Ohren zu gegen alle Physiologie und dekretiert für sich insgeheim: »ich will davon, daß der Mensch noch etwas anderes ist, außer Seele und Form, nichts hören!« »Der Mensch unter der Haut« ist allen Liebenden ein Greuel und Ungedanke, eine Gottes- und Liebeslästerung. – Nun, so wie jetzt noch der Liebende empfindet, in Hinsicht der Natur und Natürlichkeit, so empfand ehedem jeder Verehrer Gottes und seiner »heiligen Allmacht«: bei allem, was von der Natur gesagt wurde, durch Astronomen, Geologen, Physiologen, Ärzte, sah er einen Eingriff in seinen köstlichsten Besitz und folglich einen Angriff – und noch dazu eine Schamlosigkeit des Angreifenden! Das »Naturgesetz« klang ihm schon wie eine Verleumdung Gottes; im Grunde[78] hätte er gar zu gern alle Mechanik auf moralische Willens- und Willkürakte zurückgeführt gesehn: aber weil ihm niemand diesen Dienst erweisen konnte, so verhehlte er sich die Natur und Mechanik, so gut er konnte, und lebte im Traume. Oh diese Menschen von ehedem haben verstanden zu träumen und hatten nicht erst nötig, einzuschlafen! – und auch wir Menschen von heute verstehen es noch viel zu gut, mit allem unserem guten Willen zum Wachsein und zum Tage! Es genügt zu lieben, zu hassen, zu begehren, überhaupt zu empfinden – sofort kommt der Geist und die Kraft des Traumes über uns, und wir steigen offnen Auges und kalt gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen empor, hinauf auf die Dächer und Türme der Phantasterei, und ohne allen Schwindel, wie geboren zum Klettern – wir Nachtwandler des Tages! Wir Künstler! Wir Verhehler der Natürlichkeit! Wir Mond- und Gottsüchtigen! Wir totenstillen, unermüdlichen Wanderer, auf Höhen, die wir nicht als Höhen sehen, sondern als unsere Ebenen, als unsere Sicherheiten!
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