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[132] Das auserwählte Volk. – Die Juden, die sich als das auserwählte Volk unter den Völkern fühlen, und zwar, weil sie das moralische Genie unter den Völkern sind (vermöge der Fähigkeit, daß sie den Menschen in sich tiefer verachtet haben als irgendein Volk) – die Juden haben an ihrem göttlichen Monarchen und Heiligen einen ähnlichen Genuß, wie der war, welchen der französische Adel an Ludwig dem Vierzehnten hatte. Dieser Adel hatte sich alle seine Macht und Selbstherrlichkeit nehmen lassen und war verächtlich geworden: um dies nicht zu[132] fühlen, um dies vergessen zu können, bedurfte es eines königlichen Glanzes, einer königlichen Autorität und Machtfülle ohnegleichen, zu der nur dem Adel der Zugang offenstand. Indem man gemäß diesem Vorrechte sich zur Höhe des Hofes erhob und von da ausblickend alles unter sich, alles verächtlich sah, kam man über alle Reizbarkeit des Gewissens hinaus. So türmte man absichtlich den Turm der königlichen Macht immer mehr in die Wolken hinein und setzte die letzten Bausteine der eigenen Macht daran.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 132-133.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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