[185] Weisheit im Schmerz. – Im Schmerz ist so viel Weisheit wie in der Lust: er gehört gleich dieser zu den arterhaltenden Kräften ersten Ranges. Wäre er dies nicht, so würde er längst zugrunde gegangen sein; daß er weh tut, ist kein Argument gegen ihn, es ist sein Wesen. Ich höre im Schmerz den Kommandoruf des Schiffskapitäns: »zieht die Segel ein!« Auf tausend Arten die Segel zu stellen, muß der kühne Schiffahrer »Mensch« sich eingeübt haben, sonst wäre es gar zu schnell mit ihm vorbei, und der Ozean schlürfte ihn zu bald hinunter. Wir müssen auch mit verminderter Energie zu leben wissen: sobald der Schmerz sein Sicherheitssignal gibt, ist es an der Zeit, sie zu vermindern – irgendeine große Gefahr, ein Sturm ist im Anzuge, und wir tun gut, uns so wenig als möglich »aufzubauschen«. – Es ist wahr, daß es Menschen gibt, welche beim Herannahen des großen Schmerzes gerade den entgegengesetzten Kommandoruf hören und welche nie stolzer, kriegerischer und glücklicher dreinschauen, als wenn der Sturm[185] heraufzieht; ja der Schmerz selber gibt ihnen ihre größten Augenblicke! Das sind die heroischen Menschen, die großen Schmerzbringer der Menschheit: jene wenigen oder seltenen, die eben dieselbe Apologie nötig haben wie der Schmerz überhaupt – und wahrlich! man soll sie ihnen nicht versagen! Es sind arterhaltende, artfördernde Kräfte ersten Ranges: und wäre es auch nur dadurch, daß sie der Behaglichkeit widerstreben und vor dieser Art Glück ihren Ekel nicht verbergen.
Ausgewählte Ausgaben von
Die fröhliche Wissenschaft
|