Eine Musik ohne Zukunft

[1045] Die Musik kommt von allen Künsten, die auf dem Boden einer bestimmten Kultur aufzuwachsen wissen, als die letzte aller Pflanzen zum Vorschein, vielleicht weil sie die innerlichste ist und folglich am spätesten anlangt – im Herbst und im Abblühen der jedesmal zu ihr gehörenden Kultur. Erst in der Kunst der Niederländer Meister fand die Seele des christlichen Mittelalters ihren Ausklang – ihre Ton-Baukunst ist die nachgeborne, aber echt- und ebenbürtige Schwester der Gotik. Erst in Händels Musik erklang das Beste aus Luthers und seiner Verwandten Seele, der jüdisch-heroische Zug, welcher der Reformation einen Zug der Größe gab – das Alte Testament Musik geworden, nicht das Neue. Erst Mozart gab dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten und der Kunst Racines und Claude Lorrains in klingendem Golde heraus; erst in Beethovens und Rossinis Musik sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhundert der Schwärmerei, der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glücks. Jede wahrhafte, jede originale Musik ist Schwanengesang. – Vielleicht, daß auch unsre letzte Musik, so sehr sie herrscht und herrschsüchtig ist, bloß noch eine kurze Spanne Zeit vor sich hat: denn sie entsprang einer Kultur, deren Boden im raschen Absinken begriffen ist – einer alsbald versunkenen Kultur. Ein gewisser Katholizismus des Gefühls und eine Lust an irgend-welchem alt-heimischen sogenannten »nationalen« Wesen und Unwesen sind ihre Voraussetzungen. Wagners Aneignung alter Sagen und Lieder, in denen das gelehrte Vorurteil etwas Germanisches par excellence zu sehn gelehrt hatte – heute lachen wir darüber –, die Neubeseelung dieser skandinavischen Untiere mit einem Durst nach ver-zückter Sinnlichkeit und Entsinnlichung – dieses ganze Nehmen und Geben Wagners in Hinsicht auf Stoffe, Gestalten, Leidenschaften und Nerven spricht deutlich auch den Geist seiner Musik aus, gesetzt, daß diese selbst, wie jede Musik, nicht unzweideutig von sich zu reden wüßte: denn die Musik ist ein Weib... Man darf sich über diese Sachlage[1045] nicht dadurch beirren lassen, daß wir augenblicklich gerade in der Reaktion innerhalb der Reaktion leben. Das Zeitalter der nationalen Kriege, des ultramontanen Martyriums, dieser ganze Zwischenakts– Charakter, der den Zuständen Europas jetzt eignet, mag in der Tat einer solchen Kunst wie der Wagners, zu einer plötzlichen Glorie verhelfen, ohne ihr damit Zukunft zu verbürgen. Die Deutschen selber haben keine Zukunft...[1046]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1045-1047.
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Ausgewählte Ausgaben von
Nietzsche contra Wagner
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.6, Bd.3, Der Fall Wagner; Götzen-Dämmerung; Der Antichrist; Ecce Homo; Dionysos-Dithyramben; Nietzsche contra Wagner (August 1888 - Anfang 1889)
Sämtliche Werke / Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner: Kritische Studienausgabe
(Richard Wagner in Bayreuth / Der Fall Wagner / Nietzsche contra Wagner
Richard Wagner in Bayreuth. Der Fall Wagner. Nietzsche contra Wagner
Der Fall Wagner. Götzen- Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.