[1203] – Und von nun an tauchte ein absurdes Problem auf: »wie konnte Gott das zulassen!« Darauf fand die gestörte Vernunft der kleinen Gemeinschaft eine geradezu schrecklich absurde Antwort: Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als Opfer. Wie war es mit einem Male zu Ende mit dem Evangelium! Das Schuldopfer, und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidentum! – Jesus hatte ja den Begriff »Schuld« selbst abgeschafft – er hat jede Kluft zwischen Gott und Mensch geleugnet, er lebte diese Einheit von Gott und Mensch als seine »frohe Botschaft«... Und nicht als Vorrecht! – Von nun an tritt schrittweise in den Typus des Erlösers hinein: die Lehre vom Gericht und von der Wiederkunft, die Lehre vom Tod als einem Opfertode, die Lehre von der Auferstehung, mit der der ganze Begriff »Seligkeit«, die ganze und einzige Realität des Evangeliums, eskamotiert ist – zugunsten eines Zustandes nach dem Tode!... Paulus hat diese Auffassung, diese Unzucht von Auffassung mit jener rabbinerhaften Frechheit, die ihn in allen Stücken auszeichnet, dahin logisiert: »wenn Christus nicht auferstanden ist von den Toten, so ist unser Glaube eitel«. – Und mit einem Male wurde aus dem Evangelium die verächtlichste aller unerfüllbaren Versprechungen, die unverschämte Lehre von der Personal-Unsterblichkeit... Paulus selbst lehrte sie noch als Lohn!...
Man sieht, was mit dem Tode am Kreuz zu Ende war: ein neuer, ein durchaus ursprünglicher Ansatz zu einer buddhistischen Friedens-Bewegung, zu einem tatsächlichen, nicht bloß verheißenen Glück auf Erden. Denn dies bleibt – ich hob es schon hervor – der Grundunterschied zwischen den beiden décadence-Religionen: der Buddhismus verspricht nicht, sondern hält, das Christentum verspricht alles, aber[1203] hält nichts. – Der »frohen Botschaft« folgte auf dem Fuß die allerschlimmste: die des Paulus. In Paulus verkörpert sich der Gegensatz-Typus zum »frohen Botschafter«, das Genie im Haß, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen Logik des Hasses. Was hat dieser Dysangelist alles dem Hasse zum Opfer gebracht! Vor allem den Erlöser: er schlug ihn an sein Kreuz. Das Leben, das Beispiel, die Lehre, der Tod, der Sinn und das Recht des ganzen Evangeliums – nichts war mehr vorhanden, als dieser Falschmünzer aus Haßbegriff, was allein er brauchen konnte. Nicht die Realität, nicht die historische Wahrheit!...Und noch einmal verübte der Priester-Instinkt des Juden das gleiche große Verbrechen an der Historie – er strich das Gestern, das Vorgestern des Christentums einfach durch, er erfand sich eine Geschichte des ersten Christentums. Mehr noch: er fälschte die Geschichte Israels nochmals um, um als Vorgeschichte für seine Tat zu erscheinen: alle Propheten haben von seinem »Erlöser« geredet... Die Kirche fälschte später sogar die Geschichte der Menschheit zur Vorgeschichte des Christentums... Der Typus des Erlösers, die Lehre, die Praktik, der Tod, der Sinn des Todes, selbst das Nachher des Todes – nichts blieb unangetastet, nichts blieb auch nur ähnlich der Wirklichkeit. Paulus verlegte einfach das Schwergewicht jenes ganzen Daseins hinter dies Dasein – in die Lüge vom »wiederauferstandenen« Jesus. Er konnte im Grunde das Leben des Erlösers überhaupt nicht brauchen – er hatte den Tod am Kreuz nötig und etwas mehr noch... Einen Paulus, der seine Heimat an dem Hauptsitz der stoischen Aufklärung hatte, für ehrlich halten, wenn er sich aus einer Halluzination den Beweis vom Noch-Leben des Erlösers zurechtmacht, oder auch nur seiner Erzählung, daß er diese Halluzination gehabt hat, Glauben schenken, wäre eine wahre niaiserie seitens eines Psychologen: Paulus wollte den Zweck, folglich wollte er auch die Mittel... Was er selbst nicht glaubte, die Idioten, unter die er seine Lehre warf, glaubten es. – Sein Bedürfnis war die Macht; mit Paulus wollte nochmals der Priester zur Macht – er konnte nur Begriffe, Lehren, Symbole brauchen, mit denen man Massen tyrannisiert, Herden bildet. Was allein entlehnte später Mohammed dem Christentum? Die Erfindung des Paulus, sein Mittel zur Priester-Tyrannei, zur Herden-Bildung: den Unsterblichkeits-Glauben – das heißt die Lehre vom »Gericht«...
[1204] Wenn man das Schwergewicht des Lebens nicht ins Leben, sondern ins »Jenseits« verlegt – ins Nichts –, so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen. Die große Lüge von der Personal-Unsterblichkeit zerstört jede Vernunft, jede Natur im Instinkte – alles, was wohltätig, was lebenfördernd, was zukunftverbürgend in den Instinkten ist, erregt nunmehr Mißtrauen. So zu leben, daß es keinen Sinn mehr hat zu leben, das wird jetzt zum »Sinn« des Lebens... Wozu Gemeinsinn, wozu Dankbarkeit noch für Herkunft und Vorfahren, wozu mitarbeiten, zutrauen, irgendein Gesamtwohl fördern und im Auge haben?... Ebenso viele »Versuchungen«, ebenso viele Ablenkungen vom »rechten Weg« – »eins ist not«... Daß jeder als »unsterbliche Seele« mit jedem gleichen Rang hat, daß in der Gesamtheit aller Wesen das »Heil« jedes einzelnen eine ewige Wichtigkeit in Anspruch nehmen darf, daß kleine Mucker und Dreiviertels-Verrückte sich einbilden dürfen, daß um ihretwillen die Gesetze der Natur beständig durchbrochen werden – eine solche Steigerung jeder Art Selbstsucht ins Unendliche, ins Unverschämte kann man nicht mit genug Verachtung brandmarken. Und doch verdankt das Christentum dieser erbarmungswürdigen Schmeichelei vor der Personal-Eitelkeit seinen Sieg – gerade alles Mißratene, Aufständisch-Gesinnte, Schlechtweg-gekommne, den ganzen Auswurf und Abhub der Menschheit hat es damit zu sich überredet. Das »Heil der Seele« – auf deutsch: »die Welt dreht sich um mich«... Das Gift der Lehre »gleiche Rechte für alle« – das Christentum hat es am grundsätzlichsten ausgesät; das Christentum hat jedem Ehrfurchts- und Distanz-Gefühl zwischen Mensch und Mensch, das heißt der Voraussetzung zu jeder Erhöhung, zu jedem Wachstum der Kultur einen Todkrieg aus den heimlichsten Winkeln schlechter Instinkte gemacht – es hat aus dem ressentiment der Massen sich seine Hauptwaffe geschmiedet gegen uns, gegen alles Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden, gegen unser Glück auf Erden... Die »Unsterblichkeit« jedem Petrus und Paulus zugestanden, war bisher das größte, das bösartigste Attentat auf die vornehme Menschlichkeit. – Und unterschätzen wir das Verhängnis nicht, das vom Christentum aus sich bis in die Politik eingeschlichen hat! Niemand[1205] hat heute mehr den Mut zu Sonderrechten, zu Herrschaftsrechten, zu einem Ehrfurchtsgefühl vor sich und seinesgleichen – zu einem Pathos der Distanz... Unsre Politik ist krank an diesem Mangel an Mut! – Der Aristokratismus der Gesinnung wurde durch die Seelen-Gleichheits-Lüge am unterirdischsten untergraben; und wenn der Glaube an das »Vorrecht der Meisten« Revolutionen macht und machen wird – das Christentum ist es, man zweifle nicht daran, christliche Werturteile sind es, welche jede Revolution bloß in Blut und Verbrechen übersetzt! Das Christentum ist ein Aufstand alles Am-Boden-Kriechenden gegen das, was Höhe hat: das Evangelium der »Niedrigen« macht niedrig...
– Die Evangelien sind unschätzbar als Zeugnis für die bereits unaufhaltsame Korruption innerhalb der ersten Gemeinde. Was Paulus später mit dem Logiker-Zynismus eines Rabbiners zu Ende führte, war trotzdem bloß der Verfalls-Prozeß, der mit dem Tode des Erlösers begann. – Diese Evangelien kann man nicht behutsam genug lesen; sie haben ihre Schwierigkeiten hinter jedem Wort. Ich bekenne, man wird es mir zugute halten, daß sie ebendamit für einen Psychologen ein Vergnügen ersten Ranges sind – als Gegensatz aller naiven Verderbnis, als das Raffinement par excellence, als Künstlerschaft in der psychologischen Verderbnis. Die Evangelien stehn für sich. Die Bibel überhaupt verträgt keinen Vergleich. Man ist unter Juden: erster Gesichtspunkt, um hier nicht völlig den Faden zu verlieren. Die hier geradezu Genie werdende Selbstverstellung ins »Heilige«, unter Büchern und Menschen nie annähernd sonst erreicht, diese Wort- und Gebärden-Falschmünzerei als Kunst ist nicht der Zufall irgendwelcher Einzel-Begabung, irgendwelcher Ausnahme-Natur. Hierzu gehört Rasse. Im Christentum, als der Kunst, heilig zu lügen, kommt das ganze Judentum, eine mehrhundertjährige jüdische allerernsthafteste Vorübung und Technik zur letzten Meisterschaft. Der Christ, diese ultima ratio der Lüge, ist der Jude noch einmal – dreimal selbst... Der grundsätzliche Wille, nur Begriffe, Symbole, Attitüden anzuwenden, welche aus der Praxis des Priesters bewiesen sind, die Instinkt-Ablehnung jeder andren Praxis, jeder andren Art Wert- und Nützlichkeits-Perspektive[1206] – das ist nicht nur Tradition, das ist Erbschaft: nur als Erbschaft wirkt es wie Natur. Die ganze Menschheit, die besten Köpfe der besten Zeiten sogar (einen ausgenommen, der vielleicht bloß ein Unmensch ist–) haben sich täuschen lassen. Man hat das Evangelium als Buch der Unschuld gelesen... kein kleiner Fingerzeig dafür, mit welcher Meisterschaft hier geschauspielert worden ist. – Freilich bekämen wir sie zu sehen, auch nur im Vorübergehn, alle diese wunderlichen Mucker und Kunst-Heiligen, so wäre es am Ende – und genau deshalb, weil ich keine Worte lese, ohne Gebärden zu sehn, mache ich mit ihnen ein Ende... Ich halte eine gewisse Art, die Augen aufzuschlagen, an ihnen nicht aus. – Zum Glück sind Bücher für die allermeisten bloß Literatur – – Man muß sich nicht irreführen lassen: »Richtet nicht!« sagen sie, aber sie schicken alles in die Hölle, was ihnen im Wege steht. Indem sie Gott richten lassen, richten sie selber; indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen sie sich selber; indem sie die Tugenden fordern, deren sie gerade fähig sind – mehr noch, die sie nötig haben, um überhaupt oben zu bleiben –, geben sie sich den großen Anschein eines Ringens um die Tugend, eines Kampfes um die Herrschaft der Tugend. »Wir leben, wir sterben, wir opfern uns für das Gute« (– »die Wahrheit«, »das Licht«, das »Reich Gottes«): in Wahrheit tun sie, was sie nicht lassen können. Indem sie nach Art von Duckmäusern sich durchdrücken, im Winkel sitzen, im Schatten schattenhaft dahinleben, machen sie sich eine Pflicht daraus: als Pflicht er scheint ihr Leben der Demut, als Demut ist es ein Beweis mehr für Frömmigkeit... Ah diese demütige, keusche, barmherzige Art von Verlogenheit! »Für uns soll die Tugend selbst Zeugnis ablegen«... Man lese die Evangelien als Bücher der Verführung mit Moral: die Moral wird von diesen kleinen Leuten mit Beschlag belegt – sie wissen, was es auf sich hat mit der Moral! Die Menschheit wird am besten genasführt mit der Moral! – Die Realität ist, daß hier der bewußteste Auserwählten-Dünkel die Bescheidenheit spielt: man hat sich, die »Gemeinde«, die »Guten und Gerechten« ein für allemal auf die eine Seite gestellt, auf die »der Wahrheit« – und den Rest, »die Welt«, auf die andre... Das war die verhängnisvollste Art Größenwahn, die bisher auf Erden dagewesen ist: kleine Mißgeburten von Muckern und Lügnern fingen an, die Begriffe »Gott«, »Wahrheit«, »Licht«, »Geist«, »Liebe«, »Weisheit«,[1207] »Leben« für sich in Anspruch zu nehmen, gleichsam als Synonyma von sich, um damit die »Welt« gegen sich abzugrenzen, kleine Superlativ-Juden, reif für jede Art Irrenhaus, drehten die Werte überhaupt nach sich um, wie als ob erst der »Christ« der Sinn, das Salz, das Maß, auch das letzte Gericht vom ganzen Rest wäre... Das ganze Verhängnis wurde dadurch allein ermöglicht, daß schon eine verwandte, rassenverwandte Art von Größenwahn in der Welt war, der jüdische: sobald einmal die Kluft zwischen Juden und Judenchristen sich aufriß, blieb letzteren gar keine Wahl, als dieselben Prozeduren der Selbsterhaltung, die der jüdische Instinkt anriet, gegen die Juden selber anzuwenden, während die Juden sie bisher bloß gegen alles Nicht-Jüdische angewendet hatten. Der Christ ist nur ein Jude »freieren« Bekenntnisses. –
– Ich gebe ein paar Proben von dem, was sich diese kleinen Leute in den Kopf gesetzt, was sie ihrem Meister in den Mund gelegt haben: lauter Bekenntnisse »schöner Seelen«. –
»Und welche euch nicht aufnehmen noch hören, da gehet von dannen hinaus und schüttelt den Staub ab von euren Füßen, zu einem Zeugnis über sie. Ich sage euch: Wahrlich, es wird Sodom und Gomorrha am Jüngsten Gericht erträglicher ergehn, denn solcher Stadt« (Markus 6, 11). – Wie evangelisch!...
»Und wer der Kleinen einen ärgert, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ihm ein Mühlstein an seinen Hals gehängt würde und er in das Meer geworfen würde« (Markus 9, 42). – Wie evangelisch!...
»Ärgert dich dein Auge, so wirf es von dir. Es ist dir besser, daß du einäugig in das Reich Gottes gehest, denn daß du zwei Augen habest und werdest in das höllische Feuer geworfen; da ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht erlischt« (Markus 9, 47). – Es ist nicht gerade das Auge gemeint...
»Wahrlich, ich sage euch, es stehen etliche hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis daß sie sehen das Reich Gottes mit Kraft kommen« (Markus 9, 1). – Gut gelogen, Löwe...
»Wer mir will nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein[1208] Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn...« (Anmerkung eines Psychologen. Die christliche Moral wird durch ihre Denns widerlegt: ihre »Gründe« widerlegen – so ist es christlich.) Markus 8, 34. –
»Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden« (Matthäus 7, 1). – Welcher Begriff von Gerechtigkeit, von einem »gerechten« Richter!...
»Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr nur zu euren Brüdern freundlich tut, was tut ihr Sonderliches? Tun nicht die Zöllner auch also?« (Matthäus 5, 46.) – Prinzip der »christlichen Liebe«: sie will zuletzt gut bezahlt sein...
»Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben« (Matthäus 6, 15). – Sehr kompromittierend für den genannten »Vater«...
»Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen« (Matthäus 6, 33). – Solches alles: nämlich Nahrung, Kleidung, die ganze Notdurft des Lebens. Ein Irrtum, bescheiden ausgedrückt... Kurz vorher erscheint Gott als Schneider, wenigstens in gewissen Fällen...
»Freuet euch alsdann und hüpfet: denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Desgleichen taten ihre Väter den Propheten auch« (Lukas 6, 23). – Unverschämtes Gesindel! Es vergleicht sich bereits mit den Propheten...
»Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnet? So jemand den Tempel Gottes verderbet, den wird Gott verderben: denn der Tempel Gottes ist heilig, der seid ihr« (Paulus 1. Korinther 3, 16). – Dergleichen kann man nicht genug verachten...
»Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? So denn nun die Welt soll von euch gerichtet werden: seid ihr denn nicht gut genug, geringere Sachen zu richten?« (Paulus 1. Korinther 6, 2.) – Leider nicht bloß die Rede eines Irrenhäuslers... Dieser fürchterliche Betrüger fährt wörtlich fort: »Wisset ihr nicht, daß wir über die Engel richten werden? Wie viel mehr über die zeitlichen Güter!«...
»Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht?
Denn dieweil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit[1209] nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch törichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben...; nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, daß er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, daß er zuschanden mache, was stark ist; und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählet, und das da nichts ist, daß er zunichte mache, was etwas ist. Auf daß sich vor ihm kein Fleisch rühme« (Paulus 1. Korinther 1, 20 ff.). – Um diese Stelle, ein Zeugnis allerersten Ranges für die Psychologie jeder Tschandala-Moral, zu verstehn, lese man die erste Abhandlung meiner Genealogie der Moral: in ihr wurde zum erstenmal der Gegensatz einer vornehmen und einer aus ressentiment und ohnmächtiger Rache gebornen Tschandala-Moral ans Licht gestellt. Paulus war der größte aller Apostel der Rache...
– Was folgt daraus? Daß man gut tut, Handschuhe anzuziehn, wenn man das Neue Testament liest. Die Nähe von so viel Unreinlichkeit zwingt beinahe dazu. Wir würden uns »erste Christen« so wenig wie polnische Juden zum Umgang wählen: nicht daß man gegen sie auch nur einen Einwand nötig hätte... Sie riechen beide nicht gut. – Ich habe vergebens im Neuen Testamente auch nur nach einem sympathischen Zuge ausgespäht; nichts ist darin, was frei, gütig, offenherzig, rechtschaffen wäre. Die Menschlichkeit hat hier noch nicht ihren ersten Anfang gemacht – die Instinkte der Reinlichkeit fehlen... Es gibt nur schlechte Instinkte im Neuen Testament, es gibt keinen Mut selbst zu diesen schlechten Instinkten. Alles ist Feigheit, alles ist Augenschließen und Selbstbetrug darin. Jedes Buch wird reinlich, wenn man eben das Neue Testament gelesen hat: ich las, um ein Beispiel zu geben, mit Entzücken unmittelbar nach Paulus jenen anmutigsten, übermütigsten Spötter Petronius, von dem man sagen könnte, was Domenico Boccaccio über Cesare Borgia an den Herzog von Parma schrieb: »è tutto festo« – unsterblich gesund, unsterblich heiter und wohlgeraten... Diese kleinen Mucker verrechnen sich nämlich in der Hauptsache. Sie greifen an, aber alles, was von ihnen angegriffen wird,[1210] ist damit ausgezeichnet. Wen ein »erster Christ« angreift, den besudelt er nicht... Umgekehrt: es ist eine Ehre, »erste Christen« gegen sich zu haben. Man liest das Neue Testament nicht ohne eine Vorliebe für das, was darin mißhandelt wird, – nicht zu reden von der »Weisheit dieser Welt«, welche ein frecher Windmacher »durch törichte Predigt« umsonst zuschanden zu machen sucht... Aber selbst die Pharisäer und Schriftgelehrten haben ihren Vorteil von einer solchen Gegnerschaft: sie müssen schon etwas wert gewesen sein, um auf eine so unanständige Weise gehaßt zu werden. Heuchelei – das wäre ein Vorwurf, den »erste Christen« machen dürften! – Zuletzt waren es die Privilegierten: dies genügt, der Tschandala-Haß braucht keine Gründe mehr. Der »erste Christ« – ich fürchte, auch der »letzte Christ«, den ich vielleicht noch erleben werde – ist Rebell gegen alles Privilegierte aus unterstem Instinkte – er lebt, er kämpft immer für »gleiche Rechte«.... Genauer zugesehn, hat er keine Wahl. Will man, für seine Person, ein »Auserwählter Gottes« sein – oder ein »Tempel Gottes«, oder ein »Richter der Engel« –, so ist jedes andre Prinzip der Auswahl, zum Beispiel nach Rechtschaffenheit, nach Geist, nach Männlichkeit und Stolz, nach Schönheit und Freiheit des Herzens, einfach »Welt« – das Böse an sich... Moral: jedes Wort im Munde eines »ersten Christen« ist eine Lüge, jede Handlung, die er tut, eine Instinkt-Falschheit – alle seine Werte, alle seine Ziele sind schädlich, aber wen er haßt, was er haßt, das hat Wert... Der Christ, der Priester-Christ insonderheit, ist ein Kriterium für Werte – – Habe ich noch zu sagen, daß im ganzen Neuen Testament bloß eine einzige Figur vorkommt, die man ehren muß? Pilatus, der römische Statthalter. Einen Judenhandel ernst zu nehmen – dazu überredet er sich nicht. Ein Jude mehr oder weniger – was liegt daran?... Der vornehme Hohn eines Römers, vor dem ein unverschämter Mißbrauch mit dem Wort »Wahrheit« getrieben wird, hat das Neue Testament mit dem einzigen Wort bereichert, das Wert hat – das seine Kritik, seine Vernichtung selbst ist: »was ist Wahrheit!«...
– Das ist es nicht, was uns abscheidet, daß wir keinen Gott wiederfinden, weder in der Geschichte, noch in der Natur, noch hinter der[1211] Natur – sondern daß wir, was als Gott verehrt wurde, nicht als »göttlich«, sondern als erbarmungswürdig, als absurd, als schädlich empfinden, nicht nur als Irrtum, sondern als Verbrechen am Leben... Wir leugnen Gott als Gott... Wenn man uns diesen Gott der Christen bewiese, wir würden ihn noch weniger zu glauben wissen. – In Formel: deus, qualem Paulus creavit, dei negatio. – Eine Religion, wie das Christentum, die sich an keinem Punkte mit der Wirklichkeit berührt, die sofort dahinfällt, sobald die Wirklichkeit auch nur an einem Punkte zu Rechte kommt, muß billigerweise der »Weisheit der Welt«, will sagen der Wissenschaft, todfeind sein – sie wird alle Mittel gut heißen, mit denen die Zucht des Geistes, die Lauterkeit und Strenge in Gewissenssachen des Geistes, die vornehme Kühle und Freiheit des Geistes vergiftet, verleumdet, verrufen gemacht werden kann. Der »Glaube« als Imperativ ist das Veto gegen die Wissenschaft – in praxi die Lüge um jeden Preis... Paulus begriff, daß die Lüge – daß »der Glaube« nottat; die Kirche begriff später wieder Paulus. – Jener »Gott«, den Paulus sich erfand, ein Gott, der »die Weisheit der Welt« (im engern Sinn die beiden großen Gegnerinnen alles Aberglaubens, Philologie und Medizin) »zuschanden macht«, ist in Wahrheit nur der resolute Entschluß des Paulus selbst dazu: »Gott« seinen eignen Willen zu nennen, thora, das ist urjüdisch. Paulus will »die Weisheit der Welt« zuschanden machen: seine Feinde sind die guten Philologen und Ärzte alexandrinischer Schulung –, ihnen macht er den Krieg. In der Tat, man ist nicht Philolog und Arzt, ohne nicht zugleich auch Antichrist zu sein. Als Philolog schaut man nämlich hinter die »heiligen Bücher«, als Arzt hinter die physiologische Verkommenheit des typischen Christen. Der Arzt sagt »unheilbar«, der Philolog »Schwindel«...
– Hat man eigentlich die berühmte Geschichte verstanden, die am Anfang der Bibel steht – von der Höllenangst Gottes vor der Wissenschaft?... Man hat sie nicht verstanden. Dies Priesterbuch par excellence beginnt, wie billig, mit der großen inneren Schwierigkeit des Priesters: er hat nur eine große Gefahr, folglich hat »Gott« nur eine große Gefahr. –
Der alte Gott, ganz »Geist«, ganz Hoherpriester, ganz Vollkommenheit,[1212] lustwandelt in seinen Gärten: nur daß er sich langweilt. Gegen die Langeweile kämpfen Götter selbst vergebens. Was tut er? Er erfindet den Menschen – der Mensch ist unterhaltend... Aber siehe da, auch der Mensch langweilt sich. Das Erbarmen Gottes mit der einzigen Not, die alle Paradiese an sich haben, kennt keine Grenzen: er schuf alsbald noch andre Tiere. Erster Fehlgriff Gottes: der Mensch fand die Tiere nicht unterhaltend – er herrschte über sie, er wollte nicht einmal »Tier« sein. – Folglich schuf Gott das Weib. Und in der Tat, mit der Langeweile hatte es nun ein Ende – aber auch mit anderem noch! Das Weib war der zweite Fehlgriff Gottes. – »Das Weib ist seinem Wesen nach Schlange, Heva« – das weiß jeder Priester; »vom Weib kommt jedes Unheil in der Welt« – das weiß ebenfalls jeder Priester. »Folglich kommt von ihm auch die Wissenschaft«... Erst durch das Weib lernte der Mensch vom Baume der Erkenntnis kosten.
– Was war geschehn? Den alten Gott ergriff eine Höllenangst. Der Mensch selbst war sein größter Fehlgriff geworden, er hatte sich einen Rivalen geschaffen, die Wissenschaft macht gottgleich, – es ist mit Priestern und Göttern zu Ende, wenn der Mensch wissenschaftlich wird! – Moral: die Wissenschaft ist das Verbotene an sich – sie allein ist verboten. Die Wissenschaft ist die erste Sünde, der Keim aller Sünde, die Erbsünde. Dies allein ist Moral. – »Du sollst nicht erkennen« – der Rest folgt daraus. – Die Höllenangst Gottes verhinderte ihn nicht, klug zu sein. Wie wehrt man sich gegen die Wissenschaft? das wurde für lange sein Hauptproblem. Antwort: fort mit dem Menschen aus dem Paradiese! Das Glück, der Müßiggang bringt auf Gedanken – alle Gedanken sind schlechte Gedanken... Der Mensch soll nicht denken. – Und der »Priester an sich« erfindet die Not, den Tod, die Lebensgefahr der Schwangerschaft, jede Art von Elend, Alter, Mühsal, die Krankheit vor allem – lauter Mittel im Kampfe mit der Wissenschaft! Die Not erlaubt dem Menschen nicht, zu denken... Und trotzdem! entsetzlich! Das Werk der Erkenntnis türmt sich auf, himmelstürmend, götterandämmernd – was tun! – Der alte Gott erfindet den Krieg, er trennt die Völker, er macht, daß die Menschen sich gegenseitig vernichten (– die Priester haben immer den Krieg nötig gehabt...). Der Krieg – unter anderem ein großer Störenfried der Wissenschaft! – Unglaublich! Die Erkenntnis, die Emanzipation vom Priester, nimmt[1213] selbst trotz Kriegen zu. – Und ein letzter Entschluß kommt dem alten Gotte: »der Mensch ward wissenschaftlich – es hilft nichts, man muß ihn ersäufen!«...
– Man hat mich verstanden. Der Anfang der Bibel enthält die ganze Psychologie des Priesters. – Der Priester kennt nur eine große Gefahr: das ist die Wissenschaft – der gesunde Begriff von Ursache und Wirkung. Aber die Wissenschaft gedeiht im ganzen nur unter glücklichen Verhältnissen – man muß Zeit, man muß Geist überflüssig haben, um zu »erkennen«... »Folglich muß man den Menschen unglücklich machen« – dies war zu jeder Zeit die Logik des Priesters. – Man errät bereits, was, dieser Logik gemäß, damit erst in die Welt gekommen ist – die »Sünde«... Der Schuld- und Strafbegriff, die ganze »sittliche Weltordnung« ist erfunden gegen die Wissenschaft – gegen die Ablösung des Menschen vom Priester... Der Mensch soll nicht hinaus-, er soll in sich hineinsehn; er soll nicht klug und vorsichtig, als Lernender, in die Dinge sehn, er soll überhaupt gar nicht sehn: er soll leiden... Und er soll so leiden, daß er jederzeit den Priester nötig hat. – Weg mit den Ärzten! Man hat einen Heiland nötig. – Der Schuld- und Straf-Begriff, eingerechnet die Lehre von der »Gnade«, von der »Erlösung«, von der »Vergebung« – Lügen durch und durch und ohne jede psychologische Realität – sind erfunden, um den Ursachen-Sinn des Menschen zu zerstören: sie sind das Attentat gegen den Begriff Ursache und Wirkung! – Und nicht ein Attentat mit der Faust, mit dem Messer, mit der Ehrlichkeit in Haß und Liebe! Sondern aus den feigsten, listigsten, niedrigsten Instinkten heraus! Ein Priester-Attentat! Ein Parasiten-Attentat! Ein Vampyrismus bleicher unterirdischer Blutsauger!... Wenn die natürlichen Folgen einer Tat nicht mehr »natürlich« sind, sondern durch Begriffs-Gespenster des Aberglaubens, durch »Gott«, durch »Geister«, durch »Seelen« bewirkt gedacht werden, als bloß »moralische« Konsequenzen, als Lohn, Strafe, Wink, Erziehungsmittel, so ist die Voraussetzung zur Erkenntnis zerstört – so hat man das größte Verbrechen an der Menschheit begangen. – Die Sünde, nochmals gesagt, diese Selbstschändungs-Form des Menschen par excellence, ist erfunden, um Wissenschaft, um Kultur, um jede Erhöhung und[1214] Vornehmheit des Menschen unmöglich zu machen; der Priester herrscht durch die Erfindung der Sünde. –
– Ich erlasse mir an dieser Stelle eine Psychologie des »Glaubens«, der »Gläubigen« nicht, zum Nutzen, wie billig, gerade der »Gläubigen«. Wenn es heute noch an solchen nicht fehlt, die es nicht wissen, inwiefern es unanständig ist, »gläubig« zu sein – oder ein Abzeichen von décadence, von gebrochnem Willen zum Leben –, morgen schon werden sie es wissen. Meine Stimme erreicht auch die Harthörigen. – Es scheint, wenn anders ich mich nicht verhört habe, daß es unter Christen eine Art Kriterium der Wahrheit gibt, das man den »Beweis der Kraft« nennt. »Der Glaube macht selig: also ist er wahr.« – Man dürfte hier zunächst einwenden, daß gerade das Seligmachen nicht bewiesen, sondern nur versprochen ist: die Seligkeit an die Bedingung des »Glaubens« geknüpft – man soll selig werden, weil man glaubt... Aber daß tatsächlich eintritt, was der Priester dem Gläubigen für das jeder Kontrolle unzugängliche »Jenseits« verspricht, womit bewiese sich das? – Der angebliche »Beweis der Kraft« ist also im Grunde wieder nur ein Glaube daran, daß die Wirkung nicht ausbleibt, welche man sich vom Glauben verspricht. In Formel: »Ich glaube, daß der Glaube selig macht – folglich ist er wahr.« – Aber damit sind wir schon am Ende. Dies »folglich« wäre das absurdum selbst als Kriterium der Wahrheit. – Setzen wir aber, mit einiger Nachgiebigkeit, daß das Seligmachen durch den Glauben bewiesen sei (– nicht nur gewünscht, nicht nur durch den etwas verdächtigen Mund eines Priesters versprochen): wäre Seligkeit – technischer geredet, Lust – jemals ein Beweis der Wahrheit? So wenig, daß es beinahe den Gegenbeweis, jedenfalls den höchsten Argwohn gegen »Wahrheit« abgibt, wenn Lustempfindungen über die Frage »was ist wahr?« mitreden. Der Beweis der »Lust« ist ein Beweis für »Lust« – nichts mehr; woher um alles in der Welt stünde es fest, daß gerade wahre Urteile mehr Vergnügen machten als falsche und, gemäß einer prästabilierten Harmonie, angenehme Gefühle mit Notwendigkeit hinter sich dreinzögen? – Die Erfahrung aller strengen, aller tief gearteten Geister lehrt das Umgekehrte. Man hat[1215] jeden Schrittbreit Wahrheit sich abringen müssen, man hat fast alles dagegen preisgeben müssen, woran sonst das Herz, woran unsre Liebe, unser Vertrauen zum Leben hängt. Es bedarf Größe der Seele dazu: der Dienst der Wahrheit ist der härteste Dienst. – Was heißt denn rechtschaffen sein in geistigen Dingen? Daß man streng gegen sein Herz ist, daß man die »schönen Gefühle« verachtet, daß man sich aus jedem Ja und Nein ein Gewissen macht! – – – Der Glaube macht selig: folglich lügt er...
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