[Aus dem Jahre 1862]

[102] Michaelis 1861 war es, wo ich in wenigen Tagen das vorliegende Bruchstück der Ermanarichsinfonie anfing und vollendete; für zwei Klaviere berechnet nach dem Vorbild der Dantesinfonie, die ich kurz vorher hatte kennenlernen. Es war eine Zeit, in der der Ermanarichstoff mich heftiger als je bewegte, zur Dichtung war ich noch zu sehr erschüttert und noch nicht fern genug, um ein objektives Drama zu schaffen; in der Musik aber erfolgte der Niederschlag meiner Stimmung, in der sich die Ermanarichsage völlig inkarniert hatte. Trotzdem schwankte ich noch, wie ich das Produkt taufen sollte, ob »Ermanarichsinfonie« oder »Serbia«, da ich den Plan hatte, ähnlich wie in der »Hungaria« Liszts geschehen, die Gefühlswelt eines slawischen Volkes in einer Komposition zu umfassen, da ich ferner den Gefühlsgang, der die Schöpfung durchwogte, noch nicht unparteiisch sezieren konnte und nur ahnte, was ich darin ausgesprochen. Es ist jetzt gerade ein Jahr danach, wo ich genau die Stimmungen, die Wechsel der Gefühle sich in ihr drängen und stoßen finde, oft unvermittelt und herbe, die die Hauptpersonen des Ermanarichstoffes durchwühlen und damals meine Seele erfüllten.

Jetzt bei der Revision des Bruchstückes habe ich das in der ersten Fassung oft nur Angedeutete in schärferer Fassung wiederzugeben gesucht. Einzelne fehlende Momente habe ich eingefügt, insbesondere ist das Ende ziemlich ganz neu und seiner Wildheit nach bei weitem alles überbietend, was mir in der ersten Fassung vorlag.

Allerdings, es sind keine Goten, keine Deutschen, die ich gezeichnet, es sind – ich wage es zu behaupten – Ungargestalten; der Stoff ist aus der germanischen Welt in die ungarischen Pußten, in die ungarischen[102] Glutseelen getragen. Und das ist der Hauptfehler des Ganzen. Sodann fehlen auch den Personen jene urgermanischen, mächtigen Züge und Eigenschaften, die Gefühle sind mehr wühlend, modernisiert, zu viel Reflexion und zu wenig Naturkraft. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen werde ich möglichst deutlich das aussprechen, was mir jetzt, als ich das Bruchstück genauer durchforschte, als die Fäden des Verständnisses in die Hände fielen.

A Heroisch-düster

1

Die ersten Takte – heroisch düster – führen uns den greisen Ermanarich vor, eine ernste, wilde Heldenpersönlichkeit, der Milde und Zartheit fern, die auf ihre verrauschten Lebenswogen kalt herabschaut.

B Lebhafter. Dreivierteltaktrhythmus

Die nächsten sechs Takte zeigen mehr Lebhaftigkeit und Unruhe, eine leise Freude schimmert durch – er wartet doch der alte Held den Brautzug mit der lieblichen Swanhild, angeführt von seinem Sohn Randwe!

C Immer feuriger

Von ferne klingen die Töne eines nationalen Marsches, der Zug kommt näher,

D Mit Hast

die Gefühle Ermanarichs steigern sich zu leidenschaftlicher Hast. Ist es Ungeduld, oder denkt er seines Sohnes, seines heißblütigen Randwe? Ahnt er, fürchtet er? Seine stürmischen Gefühle verschlingt

E Großartig

der machtvoll eintretende Hochzeitsmarsch, voll ungarischer Glut und Kraft. Währenddem wogt der Zug bis an seinen Palast heran;

F Lind und innig

Swanhild, von Jungfrauen umringt, geht auf den König zu, von Harfenklängen eingeführt, »lind, wie der Sonnenstrahl, der in den Sälen glänzt« (Edda), aber doch durchhaucht von Besorgnis, wenn sie den greisen, blitzaugigen Ermanarich anschaut.

G Mit starkem Ausdruck. Taktfrei zu spielen

Das folgende Motiv, basierend auf den Tönen, die das Swanhildenthema durchklingen – andeutend die Gleichstimmung der Seelen – tritt grell und heftig auf, schmerzdurchwühlt, gramumnachtet. Randwe empfindet den Zwiespalt der Verhältnisse stark und leidenschaftlich, den Zwiespalt seiner Liebe und der Liebe seines Vaters; weltschmerzliche Verbitterung, daß seine Liebe zerstört, unheimliche Gedanken durchzucken ihn und ziehen nieder in die Tiefe, stumm fragend.

[103] H Im Takt. Lebhaft

Da dringen von fern die Klänge des Hochzeitsmarsches an ihn heran, heiter und traurig, herbe und süß:

I Leidenschaftlich drängend

Randwe bricht in Wut aus, er flucht und tobt, leidenschaftliche Triolen, impetuoso vorgetragen, zeichnen seine Verzweiflung. Seine Liebe zu Swanhild dringt durch,

K Ruhiger. Allmählich schneller

er wird weicher gestimmt, aber doch noch ist er furchtbar aufgeregt, die Gedanken und Gefühle stürmen und wechseln in ihm. Die für ihn fürchterlichen Klänge des Hochzeitsmarsches umziehn seine Seele, reißen sie fort, immer schneller, immer stürmischer. Hier liegt in dem Ermanarich/Drama der Punkt, wo

L Sehr stürmisch

Randwe in den Hochzeitssaal hereinstürzt, wütend Swanhild an sich reißt, wo Ermanarich seinen Dolch nach ihm wirft. Die Musik drückt bloß die wachsende Leidenschaft aus, jähe Aufschreie der Verzweiflung, dann plötzliches Entsetzen über seine Tat, die Wut Ermanarichs, dessen Augen rollen, dessen Seele aufflutet, der den Sohn verflucht, dem Henker übergibt;

M pp. Immer schwächer

dann wie in Betäubung dasteht, von den Wellen der Wut verschlungen, stumm und finster.

N Fragend. Sehr schnell

Leise setzen die Musikanten das Hochzeitsmarschmotiv ein: das packt Ermanarichs Seele, das rüttelt ihn aus seiner Betäubung;

O ffff. Impetuoso Tremolo

das Fürchterliche übermannt ihn plötzlich, ozeanartig tost er auf;

Langsam wie träumend

der Rhythmus der Hochzeitsklänge klingt verzerrt, wie aus wildem Traum auftauchend, in seiner Seele Tiefe.

Recitativisch

Ein Geiger nimmt das Thema wehmütig, doch slawisch trotzig auf.

Sehr schnell

Ein letzter Aufschrei Ermanarichs – voll ungarischer Wildheit – und der erste Teil – eines Dramas ist ausgespielt, alles ist stumm, tot, harrend auf Erlösung. –

Ich füge nun noch einige Anmerkungen über das Formelle hinzu.

Der ganze Wechsel der Stimmungen ist sonderbarerweise in ganzen Taktteilen ausgedrückt, indessen sind für den Vortrag eine Menge wechselnde Rhythmen hervorzuheben. Dreivierteltaktrhythmus ist an mehreren Stellen. An andern wieder weder Rhythmus, noch Takt, es ist ausdrücklich bemerkt, daß sie taktfrei zu spielen sind. Einigemal[104] ist das richtige Tempo in seinem raschen Wechsel sehr schwer zu treffen. So zum Schluß, wo ein Hineinleben in den fürchterlichen Vorgang allein das richtige Spiellehren kann. Schwer hervorzuheben ist insbesondere die Ironie des Hochzeitsmarschmotivs.

Unmittelbar vor dem Nationalmarsch im Anfang sind mehrere sehr kühne Übergänge. Von Ges-dur plötzlich nach g cis e a, dann von Ges-dur in d-moll. Der Weltschmerz wird durch seltsame Harmonien eingeführt, die sehr herbe und schmerzlich sind und mir anfangs durchaus mißfielen. Jetzt erscheinen sie mir durch den Gang des Ganzen etwas wenigstens gemildert und entschuldigt. Das Drängen und Jagen der Leidenschaft zuletzt mit ihren plötzlichen Übergängen und stürmischen Ausbrüchen strotzt von harmonischen Ungeheuerlichkeiten, über die ich nicht zu entscheiden wage. Das Entsetzlichste ist der Sprung aus Des-dur in ffff f as ces d mit a im Baßtremolo. Das folgende d-moll ist mysteriös, besonders stört das tiefe es darin.

So liegt das ganze Bruchstück denn vor mir, abschreckend durch seine Wildheit und Herbe und wartend auf die Lösung, auf Befreiung von der drückenden Schwüle, die auf dem Schlusse lastet.

Die Beendigung des Ganzen ist meine nächste größere Aufgabe; ihre Beurteilung wird dem Chronisten des nächsten Quartals zukommen, ebenso wie eine Würdigung des Ganzen, unparteiischer als die meinige sein kann. –


1 Die in Petit gesetzten Bemerkungen sind Randbemerkungen Nietzsches, die sich auf den jeweils folgenden Text beziehen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 102-105.
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