Dritter Vortrag
(Gehalten am 27. Februar 1872)

[214] Verehrte Anwesende! Das Gespräch, dessen Zuhörer ich einst war und dessen Grundzüge ich hier vor Ihnen aus lebhafter Erinnerung nachzuzeichnen versuche, war an dem Punkte, wo ich das letzte Mal meine Erzählung beschloß, durch eine ernste und lange Pause unterbrochen worden. Der Philosoph sowohl wie sein Begleiter saßen in trübsinniges Schweigen versunken da: jedem von ihnen lag der eben besprochne seltsame Notstand der wichtigsten Bildungsanstalt, des Gymnasiums, auf der Seele, als eine Last, zu deren Beseitigung der gutgesinnte Einzelne zu schwach und die Masse nicht gutgesinnt genug ist.

Zweierlei besonders betrübte unsre einsamen Denker: einmal die deutliche Einsicht, wie das, was mit Recht »klassische Bildung« zu nennen wäre, jetzt nur ein in freier Luft schwebendes Bildungsideal ist, das aus dem Boden unserer Erziehungsapparate gar nicht hervorzuwachsen vermöge, wie das hingegen, was mit einem landläufigen und nicht beanstandeten Euphemismus jetzt als »klassische Bildung« bezeichnet wird, eben nur den Wert einer anspruchsvollen Illusion hat: deren beste Wirkung noch darin besteht, daß das Wort selbst, »klassische Bildung«, doch noch weiterlebt und seinen pathetischen Klang noch nicht verloren hat. An dem deutschen Unterricht sodann hatten sich die ehrlichen Männer miteinander deutlich gemacht, daß bereits der richtige Ausgangspunkt für eine höhere, an den Pfeilern des Altertums aufzurichtende Bildung bis jetzt nicht gefunden sei: die Verwilderung der sprachlichen Unterweisung, das Hereindringen gelehrtenhafter historischer Richtungen an Stelle einer praktischen Zucht und Gewöhnung, die Verknüpfung gewisser, in den Gymnasien geforderten Übungen mit dem bedenklichen Geiste unserer journalistischen Öffentlichkeit – alle diese am deutschen Unterrichte wahrnehmbaren Phänomene gaben die traurige Gewißheit, daß die heilsamsten vom klassischen Altertume ausgehenden Kräfte noch nicht einmal in unsern[214] Gymnasien geahnt werden, jene Kräfte nämlich, welche zum Kampfe mit der Barbarei der Gegenwart vorbereiten, und welche vielleicht noch einmal die Gymnasien in die Zeughäuser und Werkstätten dieses Kampfes umwandeln werden.

Inzwischen schien es im Gegenteil, als ob recht grundsätzlich der Geist des Altertums bereits an der Schwelle des Gymnasiums weggetrieben werden sollte, und als ob man auch hier dem durch Schmeicheleien verwöhnten Wesen unserer jetzigen angeblichen »deutschen Kultur« die Tore so weit als möglich öffnen wolle. Und wenn es für unsere einsamen Unterredner eine Hoffnung zu geben schien, so war es die, daß es noch schlimmer kommen müsse, daß das, was von wenigen bisher erraten wurde, bald vielen zudringlich deutlich sein werde, und daß dann die Zeit der Ehrlichen und der Entschlossenen auch für das ernste Bereich der Volkserziehung nicht mehr ferne sei.

Nach einiger Zeit schweigsamer Überlegung wendete sich der Begleiter an den Philosophen und sagte ihm: »Sie wollten mir Hoffnungen machen, mein Lehrer; aber Sie haben mir meine Einsicht, und dadurch meine Kraft, meinen Mut vermehrt: wirklich sehe ich jetzt kühner auf das Kampffeld hin, wirklich mißbillige ich bereits meine allzuschnelle Flucht. Wir wollen ja nichts für uns; und auch das darf uns nicht kümmern, wie viele Individuen in diesem Kampfe zugrunde gehn, und ob wir selbst etwa unter den ersten fallen. Gerade weil wir es ernst nehmen, sollten wir unsre armen Individuen nicht so ernst nehmen; im Augenblick, wo wir sinken, wird wohl ein anderer die Fahne fassen, an deren Ehrenzeichen wir glauben. Selbst darüber will ich nicht nachdenken, ob ich kräftig genug zu einem solchen Kampfe bin, ob ich lange widerstehen werde; es mag wohl selbst ein ehrenvoller Tod sein, unter dem spöttischen Gelächter solcher Feinde zu fallen, deren Ernsthaftigkeit uns so häufig als etwas Lächerliches erschienen ist. Denke ich an die Art, wie sich meine Altersgenossen zu dem gleichen Berufe wie ich, zu dem höchsten Lehrerberufe, vorbereiteten, so weiß ich, wie oft wir gerade über das Entgegengesetzte lachten, über das Verschiedenste ernst wurden –«

»Nun, mein Freund«, unterbrach ihn lachend der Philosoph, »du sprichst, wie einer, der ins Wasser springen will, ohne schwimmen zu können, und mehr als das Ertrinken dabei fürchtet, nicht zu ertrinken[215] und ausgelacht zu werden. Das Ausgelachtwerden soll aber unsre letzte Befürchtung sein; denn wir sind hier auf einem Gebiete, wo es so viel Wahrheiten zu sagen gibt, so viel erschreckliche, peinliche, unverzeihliche Wahrheiten, daß der aufrichtigste Haß uns nicht fehlen wird, und nur die Wut es hier und da einmal zu einem verlegnen Lachen bringen möchte. Denke dir nur einmal die unabsehbaren Scharen der Lehrer, die im besten Glauben das bisherige Erziehungssystem in sich aufgenommen haben, um es nun guten Muts und ohne ernstliche Bedenken weiterzutragen – wie meinst du wohl, daß es diesen vorkommen muß, wenn sie von Plänen hören, von denen sie ausgeschlossen sind und zwar beneficio naturae, von Forderungen, die weit über ihre mittleren Befähigungen hinausfliegen, von Hoffnungen, die in ihnen ohne Widerhall bleiben, von Kämpfen, deren Schlachtruf sie nicht einmal verstehen, und in denen sie nur als dumpfe widerstrebende bleierne Masse in Betracht kommen. Das aber wird wohl ohne Übertreibung die notwendige Stellung der allermeisten Lehrer an höheren Bildungsanstalten sein müssen: ja, wer erwägt, wie jetzt ein solcher Lehrer zumeist entsteht, wie er zu diesem höheren Bildungslehrer wird, der wird sich über eine solche Stellung nicht einmal wundern. Es existiert jetzt fast überall eine so übertrieben große Anzahl von höheren Bildungsanstalten, daß fortwährend unendlich viel mehr Lehrer für dieselben gebraucht werden, als die Natur eines Volkes, auch bei reicher Anlage zu erzeugen vermöchte; und so kommt ein Übermaß von Unberufnen in diese Anstalten, die aber allmählich, durch ihre überwiegende Kopfzahl und mit dem Instinkt des ›similis simili gaudet‹, den Geist jener Anstalten bestimmen. Diejenigen mögen nur von den pädagogischen Dingen hoffnungslos ferne bleiben, welche vermeinen, es ließe sich die augenscheinliche, in der Zahl bestehende Übertat unserer Gymnasien und Lehrer durch irgendwelche Gesetze und Vorschriften in eine wirkliche Übertat, in eine ubertas ingenii, ohne Verminderung jener Zahl, verwandeln. Sondern darüber müssen wir einmütig sein, daß von der Natur selbst nur unendlich seltne Menschen zu einem wahren Bildungsgange ausgeschickt werden, und daß zu deren glücklicher Entfaltung auch eine weit geringere Anzahl von höheren Bildungsanstalten ausreicht, daß aber in den gegenwärtigen auf breite Massen angelegten Bildungsanstalten gerade diejenigen am wenigsten[216] sich gefördert fühlen müssen, für die etwas Derartiges zu gründen überhaupt erst einen Sinn hat.

Das gleiche gilt nun in betreff der Lehrer. Gerade die besten, diejenigen, die überhaupt nach einem höheren Maßstabe dieses Ehrennamens wert sind, eignen sich jetzt, bei dem gegenwärtigen Stande des Gymnasiums, vielleicht am wenigsten zur Erziehung dieser unausgelesenen, zusammengewürfelten Jugend, sondern müssen das Beste, was sie geben könnten, gewissermaßen vor ihr geheim halten; und die ungeheuere Mehrzahl der Lehrer fühlt sich wiederum, diesen Anstalten gegenüber, im Recht, weil ihre Begabungen zu dem niedrigen Fluge und der Dürftigkeit ihrer Schüler in einem gewissen harmonischen Verhältnisse stehen. Von dieser Mehrzahl aus erschallt der Ruf nach immer neuen Gründungen von Gymnasien und höheren Lehranstalten: wir leben in einer Zeit, die durch diesen immerfort und mit betäubendem Wechsel erschallenden Ruf allerdings den Eindruck erweckt, als ob ein ungeheures Bildungsbedürfnis in ihr nach Befriedigung dürstete. Aber gerade hier muß man recht zu hören verstehen, gerade hier muß man, durch den tönenden Effekt der Bildungsworte unbeirrt, denen ins Antlitz sehen, die so unermüdlich von dem Bildungsbedürfnisse ihrer Zeit reden. Dann wird man eine sonderbare Enttäuschung erleben, dieselbe, die wir, mein guter Freund, so oft erlebt haben: jene lauten Herolde des Bildungsbedürfnisses verwandeln sich plötzlich, bei einer ernsten Besichtigung aus der Nähe, in eifrige, ja fanatische Gegner der wahren Bildung, das heißt derjenigen, welche an der aristokratischen Natur des Geistes festhält: denn im Grunde meinen sie, als ihr Ziel, die Emanzipation der Massen von der Herrschaft der großen Einzelnen, im Grunde streben sie danach, die heiligste Ordnung im Reiche des Intellektes umzustürzen, die Dienstbarkeit der Masse, ihren unterwürfigen Gehorsam, ihren Instinkt der Treue unter dem Zepter des Genius.

Ich habe mich längst daran gewöhnt, alle diejenigen vorsichtig anzusehn, welche eifrig für die sogenannte ›Volksbildung‹, wie sie gemeinhin verstanden wird, sprechen: denn zumeist wollen sie, bewußt oder unbewußt, bei den allgemeinen Saturnalien der Barbarei, für sich selbst die fessellose Freiheit, die ihnen jene heilige Naturordnung nie gewähren wird; sie sind zum Dienen, zum Gehorchen geboren, und[217] jeder Augenblick, in dem ihre kriechenden oder stelzfüßigen oder flügellahmen Gedanken in Tätigkeit sind, bestätigt, aus welchem Tone die Natur sie formte und welches Fabrikzeichen sie diesem Tone aufgebrannt hat. Also, nicht Bildung der Masse kann unser Ziel sein: sondern Bildung der einzelnen ausgelesenen, für große und bleibende Werke ausgerüsteten Menschen: wir wissen nun einmal, daß eine gerechte Nachwelt den gesamten Bildungsstand eines Volkes nur ganz allein nach jenen großen, einsam schreitenden Helden einer Zeit beurteilen und je nach der Art, wie dieselben erkannt, gefördert, geehrt, oder sekretiert, mißhandelt, zerstört worden sind, ihre Stimme abgeben wird. Dem, was man Volksbildung nennt, ist auf direktem Wege, etwa durch allseitig erzwungenen Elementarunterricht, nur ganz äußerlich und roh beizukommen: die eigentlichen, tieferen Regionen, in denen sich überhaupt die große Masse mit der Bildung berührt, dort wo das Volk seine religiösen Instinkte hegt, wo es an seinen mythischen Bildern weiterdichtet, wo es seiner Sitte, seinem Recht, seinem Heimatboden, seiner Sprache Treue bewahrt, alle diese Regionen sind auf direktem Wege kaum und jedenfalls nur durch zerstörende Gewaltsamkeiten zu erreichen; und in diesen ernsten Dingen die Volksbildung wahrhaft fördern, heißt eben nur soviel, als diese zerstörenden Gewaltsamkeiten abzuwehren und jenes heilsame Unbewußtsein, jenes Sich-gesund-schlafen des Volkes zu unterhalten, ohne welche Gegenwirkung, ohne welches Heilmittel keine Kultur, bei der aufzehrenden Spannung und Erregung ihrer Wirkungen, bestehen kann.

Wir wissen aber, was jene erstreben, die jenen heilenden Gesundheitsschlaf des Volkes unterbrechen wollen, die ihm fortwährend zurufen: ›Sei wach, sei bewußt! Sei klug!‹; wir wissen, wohin die zielen, welche durch eine außerordentliche Vermehrung aller Bildungsanstalten, durch einen dadurch erzeugten selbstbewußten Lehrerstand ein gewaltiges Bildungsbedürfnis zu befriedigen vorgeben. Gerade diese und gerade mit diesen Mitteln kämpfen sie gegen die natürliche Rangordnung im Reiche des Intellekts, zerstören sie die Wurzeln jener aus dem Unbewußtsein des Volkes hervorbrechenden höchsten und edelsten Bildungskräfte, die im Gebären des Genius und sodann in der richtigen Erziehung und Pflege desselben ihre mütterliche Bestimmung haben. Nur an dem Gleichnisse der Mutter werden wir die[218] Bedeutung und die Verpflichtung begreifen, die die wahre Bildung eines Volkes in Hinsicht auf den Genius hat: seine eigentliche Entstehung liegt nicht in ihr, er hat gleichsam nur einen metaphysischen Ursprung, eine metaphysische Heimat. Aber daß er in die Erscheinung tritt, daß er mitten aus einem Volke hervortaucht, daß er gleichsam das zurückgeworfne Bild, das gesättigte Farbenspiel aller eigentümlichen Kräfte dieses Volkes darstellt, daß er die höchste Bestimmung eines Volkes in dem gleichnisartigen Wesen eines Individuums und in einem ewigen Werke zu erkennen gibt, sein Volk selbst damit an das Ewige anknüpfend und aus der wechselnden Sphäre des Momentanen erlösend – das alles vermag der Genius nur, wenn er im Mutterschoße der Bildung eines Volkes gereift und genährt ist – während er, ohne diese schirmende und wärmende Heimat, überhaupt nicht die Schwingen zu seinem ewigen Fluge entfalten wird, sondern traurig, beizeiten, wie ein in winterliche Einöden verschlagener Fremdling, aus dem unwirtbaren Lande davonschleicht.«

»Mein Lehrer«, sagte hier der Begleiter, »Sie setzen mich mit dieser Metaphysik des Genius in Erstaunen, und nur ganz von ferne ahne ich das Richtige dieser Gleichnisse. Dagegen begreife ich vollständig, was Sie über die Überzahl der Gymnasien und dadurch veranlaßte Überzahl von höheren Lehrern sagten; und gerade auf diesem Gebiete habe ich Erfahrungen gesammelt, welche mir bezeugen, daß die Bildungstendenz des Gymnasiums sich geradezu nach dieser ungeheuren Majorität von Lehrern richten muß, welche, im Grunde, nichts mit der Bildung zu tun haben und nur durch jene Not auf diese Bahn und zu diesen Ansprüchen gekommen sind. Alle die Menschen, die in einem glänzenden Moment der Erleuchtung sich einmal von der Singularität und Unnahbarkeit des hellenischen Altertums überzeugten und mit mühsamem Kampfe vor sich selbst diese Überzeugung verteidigt haben, alle diese wissen, wie der Zugang zu diesen Erleuchtungen niemals vielen offenstehn wird, und halten es für eine absurde, ja unwürdige Manier, daß jemand mit den Griechen gleichsam von Berufswegen, zum Zwecke des Broterwerbs, wie mit einem alltäglichen Handwerkszeuge verkehrt und ohne Scheu und mit Handwerkerhänden an diesen Heiligtümern herumtastet. Gerade in dem Stande aber, aus dem der größte Teil der Gymnasiallehrer entnommen wird,[219] in dem Stande der Philologen, ist diese rohe und respektlose Empfindung das ganz allgemeine: weshalb nun auch wiederum das Fortpflanzen und Weitertragen einer solchen Gesinnung an den Gymnasien nicht überraschen wird.

Man sehe sich nur eine junge Generation von Philologen an; wie selten bemerkt man bei ihnen jenes beschämte Gefühl, daß wir, angesichts einer solchen Welt, wie die hellenische ist, gar kein Recht zur Existenz haben, wie kühl und dreist dagegen baut jene junge Brut ihre elenden Nester mitten in den großartigsten Tempeln! Den allermeisten von denen, welche von ihrer Universitätszeit an so selbstgefällig und ohne Scheu in den erstaunlichen Trümmern jener Welt herumwandern, sollte eigentlich aus jedem Winkel eine mächtige Stimme entgegentönen: ›Weg von hier, ihr Uneingeweihten, ihr niemals Einzuweihenden, flüchtet schweigend aus diesem Heiligtum, schweigend und beschämt!‹ Ach, diese Stimme tönt vergebens: denn man muß schon etwas von griechischer Art sein, um auch nur eine griechische Verwünschung und Bannformel zu verstehen! Jene aber sind so barbarisch, daß sie es sich nach ihrer Gewöhnung unter diesen Ruinen behaglich einrichten: alle ihre modernen Bequemlichkeiten und Liebhabereien bringen sie mit und verstecken sie auch wohl hinter antiken Säulen und Grabmonumenten: wobei es dann großen Jubel gibt, wenn man das in antiker Umgebung wiederfindet, was man erst selbst vorher listig hineinpraktiziert hat. Der eine macht Verse und versteht im Lexikon des Hesychius nachzuschlagen: sofort ist er überzeugt, daß er zum Nachdichter des Äschylus berufen sei, und findet auch Gläubige, welche behaupten, daß er dem Äschylus ›kongenial‹ sei, er, der dichtende Schächer! Wieder ein andrer spürt mit dem argwöhnischen Auge eines Polizeimanns nach allen Widersprüchen, nach den Schatten von Widersprüchen, deren sich Homer schuldig gemacht hat: er vergeudet sein Leben im Auseinanderreißen und Aneinandernähen homerischer Fetzen, die er selbst erst dem herrlichen Gewande abgestohlen hat. Einem dritten wird es bei allen den mysterienhaften und orgiastischen Seiten des Altertumsunbehaglich: er entschließt sich ein für allemal, nur den aufgeklärten Apollo gelten zu lassen und im Athener einen heiteren, verständigen, doch etwas unmoralischen Apolliniker zu sehen. Wie atmet er auf, wenn er wieder einen dunklen[220] Winkel des Altertums auf die Höhe seiner eignen Aufklärung gebracht hat, wenn er zum Beispiel im alten Pythagoras einen wackeren Mitbruder in aufklärerischen politicis entdeckt hat. Ein andrer quält sich mit der Überlegung, warum Ödipus vom Schicksale zu so abscheulichen Dingen verurteilt worden sei, seinen Vater töten, seine Mutter heiraten zu müssen. Wo bleibt die Schuld! Wo die poetische Gerechtigkeit! Plötzlich weiß er es: Ödipus sei doch eigentlich ein leidenschaftlicher Gesell gewesen, ohne alle christliche Milde: er gerate ja einmal sogar in eine ganz unziemliche Hitze – als ihn Tiresias das Scheusal und den Fluch des ganzen Landes nenne. Seid sanftmütig! wollte vielleicht Sophokles lehren: sonst müßt ihr eure Mutter heiraten und euren Vater töten! Wieder andre zählen ihr Leben lang an den Versen griechischer und römischer Dichter herum und erfreuen sich an der Proportion 7:13 = 14:26. Endlich verheißt wohl einer gar die Lösung einer solchen Frage, wie die homerische, vom Standpunkt der Präpositionen und glaubt mit ana und kata die Wahrheit aus dem Brunnen zu ziehn. Alle aber, bei den verschiedensten Tendenzen, graben und wühlen in dem griechischen Boden mit einer Rastlosigkeit, einem täppischen Ungeschick, daß ein ernster Freund des Altertums geradezu ängstlich werden muß: und so möchte ich jeden begabten oder unbegabten Menschen, der eine gewisse berufsmäßige Neigung zu dem Altertume hin ahnen läßt, an die Hand nehmen und vor ihm in folgender Weise perorieren: ›Weißt du auch, was für Gefahren dir drohen, junger, mit einem mäßigen Schulwissen auf die Reise geschickter Mensch? Hast du gehört, daß es nach Aristoteles ein untragischer Tod ist, von einer Bildsäule erschlagen zu werden? Und gerade dieser Tod droht dir. Du wunderst dich? So wisse denn, daß die Philologen seit Jahrhunderten versuchen, die in die Erde versunkne umgefallne Statue des griechischen Altertums wieder aufzurichten, bis jetzt immer mit unzureichenden Kräften: denn das ist ein Koloß, auf dem die einzelnen wie Zwerge herumklettern. Ungeheure vereinte Mühe und alle Hebelkräfte moderner Kultur sind angewendet: immer wieder, kaum vom Boden gehoben, fällt sie zurück und zertrümmert im Fall die Menschen unter ihr. Das möchte noch angehn: denn jedes Wesen muß an etwas zugrunde gehn: wer aber steht dafür, daß bei diesen Versuchen die Statue selbst nicht in Stücke bricht! Die Philologen[221] gehen an den Griechen zugrunde – das wäre etwa zu verschmerzen – aber das Altertum zerbricht durch die Philologen selbst in Stücke! Dies überlege dir, junger leichtsinniger Mensch, gehe zurück, falls du kein Bilderstürmer bist!‹«

»In der Tat«, sagte der Philosoph lachend, »gibt es jetzt zahlreiche Philologen, welche zurückgegangen sind, wie du es verlangst: und ich nehme einen großen Kontrast gegen die Erfahrungen meiner Jugend wahr. Eine große Menge von ihnen kommt, bewußt oder unbewußt, zu der Überzeugung, daß die direkte Berührung mit dem klassischen Altertume für sie nutzlos und hoffnungslos sei: weshalb auch jetzt dieses Studium bei der Mehrzahl der Philologen selbst als steril, als ausgelebt, als epigonenhaft gilt. Mit um so größerer Lust hat sich diese Schar auf die Sprachwissenschaft gestürzt: hier, in einem unendlichen Bereich frisch aufgeworfnen Ackerlandes, wo gegenwärtig noch die mäßigste Begabung mit Nutzen verbraucht werden kann und eine gewisse Nüchternheit sogar bereits als positives Talent betrachtet wird, bei der Neuheit und Unsicherheit der Methoden und der fortwährenden Gefahr phantastischer Verirrungen – hier, wo eine Arbeit in Reih und Glied gerade das Wünschenswerteste ist – hier überrascht den Herankommenden nicht jene abweisende majestätische Stimme, die aus der Trümmerwelt des Altertums ihm entgegenklingt: hier nimmt man jeden noch mit offnen Armen auf, und auch der, welcher es vor Sophokles und Aristophanes niemals zu einem ungewöhnlichen Eindruck, zu einem achtbaren Gedanken brachte, wird etwa mit Erfolg an einen etymologischen Webstuhl gestellt oder zum Sammeln entlegener Dialektreste aufgefordert – und unter Verknüpfen und Trennen, Sammeln und Zerstreuen, Hin- und Herlaufen und Büchernachschlagen vergeht ihm der Tag. Nun aber soll ein so nützlich verwendeter Sprachforscher noch vor allem Lehrer sein! Und nun soll er gerade, seinen Verpflichtungen gemäß, über alte Autoren, zum Heile der Gymnasialjugend, etwas zu lehren haben, über die er es doch selbst nie zu Eindrücken, noch weniger zu Einsichten gebracht hat! Welche Verlegenheit! Das Altertum sagt ihm nichts, und folglich hat er nichts über das Altertum zu sagen. Plötzlich wird ihm licht und wohl: wozu ist er Sprachgelehrter! Warum haben jene Autoren griechisch und lateinisch geschrieben! Und nun fängt er lustig sogleich bei Homer[222] an, zu etymologisieren und das Litauische oder das Kirchenslawische, vor allem aber das heilige Sanskrit zu Hilfe zu nehmen, als ob die griechischen Schulstunden nur der Vorwand für eine allgemeine Einleitung in das Sprachstudium seien und als ob Homer nur an einem prinzipiellen Fehler leide, nämlich nicht urindogermanisch geschrieben zu sein. Wer die jetzigen Gymnasien kennt, der weiß, wie sehr ihre Lehrer der klassischen Tendenz entfremdet sind, und wie aus einem Gefühle dieses Mangels gerade jene gelehrten Beschäftigungen mit der vergleichenden Sprachwissenschaft so überhand genommen haben.«

»Ich meine doch«, sagte der Begleiter, »es käme gerade darauf an, daß ein Lehrer der klassischen Bildung seine Griechen und Römer eben nicht mit den anderen, mit den barbarischen Völkern verwechsele, und daß für ihn Griechisch und Lateinisch nie eine Sprache neben anderen sein könne: gerade für seine klassische Tendenz ist es gleichgültig, ob das Knochengerüst dieser Sprachen mit dem anderer Sprachen übereinstimme und verwandt sei: auf das Übereinstimmende kommt es ihm nicht an: gerade an dem Nichtgemeinsamen, gerade an dem, was jene Völker als nicht barbarische über alle andern Völker stellt, haftet seine wirkliche Teilnahme, soweit er eben ein Lehrer der Bildung ist und sich selbst an dem erhabenen Vorbild des Klassischen umbilden will.«

»Und, täusche ich mich«, sagte der Philosoph, »ich habe den Argwohn, daß bei der Art, wie jetzt auf den Gymnasien Lateinisch und Griechisch gelehrt wird, gerade das Können, die bequeme in Sprechen und Schreiben sich äußernde Herrschaft über die Sprache verloren geht: etwas, worin sich meine jetzt freilich schon sehr veraltete und spärlich gewordene Generation auszeichnete: während mir die jetzigen Lehrer so genetisch und historisch mit ihren Schülern umzugehen scheinen, daß zuletzt bestenfalls auch wieder kleine Sanskritaner oder etymologische Sprühteufelchen oder Konjekturen-Wüstlinge daraus werden, aber keiner von ihnen, zu seinem Behagen, gleich uns Alten, seinen Plato, seinen Tacitus lesen kann. So mögen die Gymnasien auch jetzt noch Pflanzstätten der Gelehrsamkeit sein, aber nicht der Gelehrsamkeit, welche gleichsam nur die natürliche und unabsichtliche Nebenwirkung einer auf die edelsten Ziele gerichteten Bildung ist, sondern[223] vielmehr jener, welche mit der hypertrophischen Anschwellung eines ungesunden Leibes zu vergleichen wäre. Für diese gelehrte Fettsucht sind die Gymnasien die Pflanzstätten: wenn sie nicht gar zu Ringschulen jener eleganten Barbarei entartet sind, die sich jetzt als ›deutsche Kultur der Jetztzeit‹ zu brüsten pflegt.«

»Wohin aber«, antwortete der Begleiter, »sollen sich jene armen, zahlreichen Lehrer flüchten, denen die Natur zu wahrer Bildung keine Mitgift verliehen, die vielmehr nur durch eine Not, weil das Übermaß von Schulen ein Übermaß von Lehrern braucht, und um sich selbst zu ernähren, zu dem Anspruch gekommen sind, Bildungslehrer vorzustellen! Wohin sollen sie sich flüchten, wenn das Altertum sie gebieterisch zurückweist! Müssen sie nicht denjenigen Mächten der Gegenwart zum Opfer fallen, die Tag für Tag, aus dem unermüdlich tönenden Organ der Presse, ihnen zurufen: ›Wir sind die Kultur! Wir sind die Bildung! Wir sind auf der Höhe! Wir sind die Spitze der Pyramide! Wir sind das Ziel der Weltgeschichte‹ – wenn sie die verführerischen Verheißungen hören, wenn ihnen gerade die schmählichsten Anzeichen der Unkultur, die plebejische Öffentlichkeit der sogenannten ›Kulturinteressen‹ in Journal und Zeitung als das Fundament einer ganz neuen allerhöchsten reifsten Bildungsform angepriesen wird! Wohin sollen sich die Armen flüchten, wenn in ihnen auch nur der Rest einer Ahnung lebt, daß es mit jenen Verheißungen sehr lügenhaft bestellt sei – wohin anders als in die stumpfeste, mikrologisch dürrste Wissenschaftlichkeit, um nur hier von dem unermüdlichen Bildungsgeschrei nichts mehr zu hören? Müssen sie nicht, in dieser Weise verfolgt, endlich wie der Vogel Strauß ihren Kopf in einen Haufen Sandes stecken! Ist es nicht ein wahres Glück für sie, daß sie, vergraben unter Dialekten, Etymologien und Konjekturen, ein Ameisenleben führen, wenn auch in meilenweiter Entfernung von wahrer Bildung, so doch wenigstens mit verklebten Ohren und gegen die Stimme der eleganten Zeitkultur taub und abgeschlossen?«

»Du hast recht, mein Freund«, sagte der Philosoph, »aber wo liegt jene eherne Notwendigkeit, daß ein Übermaß von Bildungsschulen bestehen müsse, und daß dadurch wieder ein Übermaß von Bildungslehrern nötig werde? – wenn wir doch so deutlich erkennen, daß die Forderung dieses Übermaßes aus einer der Bildung feindlichen Sphäre[224] her erschallt, und daß die Konsequenzen dieses Übermaßes auch nur der Unbildung zugute kommen? In der Tat kann von einer solchen ehernen Notwendigkeit nur insofern die Rede sein, als der moderne Staat in diesen Dingen mitzureden gewöhnt ist und seine Forderungen mit einem Schlag an seine Rüstung zu begleiten pflegt: welches Phänomen dann freilich auf die meisten den Eindruck macht, als ob die ewige eherne Notwendigkeit, das Urgesetz der Dinge zu ihnen redete. Im übrigen ist ein mit solchen Forderungen redender ›Kulturstaat‹, wie man jetzt sagt, etwas Junges und ist erst in dem letzten halben Jahrhundert zu einer ›Selbstverständlichkeit‹ geworden, das heißt in einer Zeit, der, nach ihrem Lieblingswort, so vielerlei ›selbstverständlich‹ vorkommt, was an sich durchaus sich nicht von selbst versteht. Gerade von dem kräftigsten modernen Staate, von Preußen, ist dieses Recht der obersten Führung in Bildung und Schule so ernst genommen worden, daß, bei der Kühnheit, die diesem Staatswesen zu eigen ist, das von ihm ergriffne bedenkliche Prinzip eine allgemeinhin bedrohliche und für den wahren deutschen Geist gefährliche Bedeutung bekommt. Denn von dieser Seite aus finden wir das Bestreben, das Gymnasium auf die sogenannte ›Höhe der Zeit‹ zu bringen, förmlich systematisiert: hier blühen alle jene Vorrichtungen, wodurch möglichst viel Schüler zu einer Gymnasialerziehung angespornt werden: hier hat sogar der Staat sein allermächtigstes Mittel, die Verleihung gewisser auf den Militärdienst bezüglicher Privilegien, mit dem Erfolge angewendet, daß, nach dem unbefangnen Zeugnisse statistischer Beamten, gerade daraus und nur daraus die allgemeine Überfüllung aller preußischen Gymnasien und das dringendste fortwährende Bedürfnis zu neuen Gründungen zu erklären wäre. Was kann der Staat mehr tun, zugunsten eines Übermaßes von Bildungsanstalten, als wenn er alle höheren und den größten Teil der niederen Beamtenstellen, den Besuch der Universität, ja die einflußreichsten militärischen Vergünstigungen in eine notwendige Verbindung mit dem Gymnasium bringt, und dies in einem Lande, wo ebensowohl die allgemeine durchaus volkstümlich approbierte Wehrpflicht als der unumschränkteste politische Beamtenehrgeiz unbewußt alle begabten Naturen nach diesen Richtungen hinziehn. Hier wird das Gymnasium vor allem als eine gewisse Staffel der Ehre angesehn: und alles, was einen Trieb nach der Sphäre der Regierung[225] zu fühlt, wird auf der Bahn des Gymnasiums gefunden werden. Dies ist eine neue und jedenfalls originelle Erscheinung: der Staat zeigt sich als ein Mystagoge der Kultur, und während er seine Zwecke fördert, zwingt er jeden seiner Diener, nur mit der Fackel der allgemeinen Staatsbildung in den Händen vor ihm zu erscheinen: in deren unruhigem Lichte sie ihn selbst wieder erkennen sollen als das höchste Ziel, als die Belohnung aller ihrer Bildungsbemühungen.

Das letzte Phänomen nun sollte zwar sie stutzig machen, es sollte sie zum Beispiel an jene verwandte, allmählich begriffne Tendenz einer ehemals von Staatswegen geförderten und auf Staatszwecke es absehenden Philosophie erinnern, an die Tendenz der Hegelschen Philosophie: ja, es wäre vielleicht nicht übertrieben, zu behaupten, daß in der Unterordnung aller Bildungsbestrebungen unter Staatszwecke Preußen das praktisch verwertbare Erbstück der Hegelschen Philosophie sich mit Erfolg angeeignet habe: deren Apotheose des Staats allerdings in dieser Unterordnung ihren Gipfel erreicht.«

»Aber«, fragte der Begleiter, »was mag ein Staat in einer so befremdlichen Tendenz für Absichten verfolgen? Denn daß er Staatsabsichten verfolgt, geht schon daraus hervor, wie jene preußischen Schulzustände von anderen Staaten bewundert, reiflich erwogen, hier und da nachgeahmt werden. Diese anderen Staaten vermuten hier offenbar etwas, was in ähnlicher Weise der Fortdauer und Kraft des Staates zunutze käme, wie etwa jene berühmte und durchaus populär gewordene allgemeine Wehrpflicht. Dort wo jedermann periodisch und mit Stolz die soldatische Uniform trägt, wo fast jeder die uniformierte Staatskultur durch die Gymnasien in sich aufgenommen hat, möchten Überschwängliche fast von antiken Zuständen sprechen, von einer nur im Altertum einmal erreichten Allmacht des Staates, den als Blüte und höchsten Zweck des menschlichen Daseins zu empfinden fast jeder junge Mensch durch Instinkte und Erziehung angehalten ist.«

»Dieser Vergleich«, sagte der Philosoph, »wäre nun freilich überschwänglich und würde nicht nur auf einem Beine hinken. Denn gerade von dieser Utilitätsrücksicht ist das antike Staatswesen so fern wie möglich geblieben, die Bildung nur gelten zu lassen, soweit sie ihm direkt nützte und wohl gar die Triebe zu vernichten, die sich nicht sofort zu seinen Absichten verwendbar erwiesen. Der tiefsinnige Grieche[226] empfand gerade deshalb gegen den Staat jenes für moderne Menschen fast anstößig starke Gefühl der Bewunderung und Dankbarkeit, weil er erkannte, daß ohne eine solche Not- und Schutzanstalt auch kein einziger Keim der Kultur sich entwickeln könne, und daß seine ganze unnachahmliche und für alle Zeiten einzige Kultur gerade unter der sorgsamen und weisen Obhut seiner Not- und Schutzanstalten so üppig emporgewachsen sei. Nicht Grenzwächter, Regulator, Aufseher war für seine Kultur der Staat, sondern der derbe muskulöse zum Kampf gerüstete Kamerad und Weggenosse, der dem bewunderten, edleren und gleichsam überirdischen Freund das Geleit durch rauhe Wirklichkeiten gibt und dafür dessen Dankbarkeit erntet. Wenn jetzt dagegen der moderne Staat eine solche schwärmende Dankbarkeit in Anspruch nimmt, so geschieht dies gewiß nicht, weil er sich der ritterlichen Dienste gegen die höchste deutsche Bildung und Kunst bewußt wäre: denn nach dieser Seite hin ist seine Vergangenheit ebenso schmachvoll wie seine Gegenwart: wobei man nur an die Art und Weise zu denken hat, wie das Andenken an unsre großen Dichter und Künstler in deutschen Hauptstädten gefeiert wird, und wie die höchsten Kunstpläne dieser deutschen Meister je von Seite dieses Staates unterstützt worden sind.

Es muß also eine eigne Bewandtnis haben, sowohl mit jener Staatstendenz, welche auf alle Weise das, was hier ›Bildung‹ heißt, fördert, als mit jener derartig geförderten Kultur, die sich dieser Staatstendenz unterordnet. Mit dem echten deutschen Geiste und einer aus ihm abzuleitenden Bildung, wie ich sie dir, mein Freund, mit zögernden Strichen hinzeichnete, befindet sich jene Staatstendenz in offener oder versteckter Fehde: der Geist der Bildung, der jener Staatstendenz wohltut und von ihr mit so reger Teilnahme getragen wird, dessentwegen sie ihr Schulwesen im Auslande bewundern läßt, muß demnach wohl aus einer Sphäre stammen, die mit jenem echten deutschen Geiste sich nicht berührt, mit jenem Geiste, der aus dem innersten Kerne der deutschen Reformation, der deutschen Musik, der deutschen Philosophie so wunderbar zu uns redet, und der, wie ein edler Verbannter, gerade von jener von Staats wegen luxurierenden Bildung so gleichgültig, so schnöde angesehn wird. Es ist ein Fremdling: in einsamer Trauer zieht er vorbei: und dort wird das Rauchfaß vor jener Pseudokultur[227] geschwungen, die, unter dem Zuruf der ›gebildeten‹ Lehrer und Zeitungsschreiber, sich seinen Namen, seine Würden angemaßt hat und mit dem Worte ›deutsch‹ ein schmähliches Spiel treibt. Wozu braucht der Staat jene Überzahl von Bildungsanstalten, von Bildungslehrern? Wozu diese auf die Breite gegründete Volksbildung und Volksaufklärung? Weil der echte deutsche Geist gehaßt wird, weil man die aristokratische Natur der wahren Bildung fürchtet, weil man die großen Einzelnen dadurch zur Selbstverbannung treiben will, daß man bei den Vielen die Bildungsprätention pflanzt und nährt, weil man der strengen und harten Zucht der großen Führer damit zu entlaufen sucht, daß man der Masse einredet, sie werde schon selbst den Weg finden – unter dem Leitstern des Staates!

Ein neues Phänomen! Der Staat als Leitstern der Bildung! Inzwischen tröstet mich eins: dieser deutsche Geist, den man so bekämpft, dem man einen bunt behängten Vikar substituiert hat, dieser Geist ist tapfer: er wird sich kämpfend in eine reinere Periode hindurchretten, er wird sich selbst, edel, wie er ist, und siegreich, wie er sein wird, eine gewisse mitleidige Empfindung gegen das Staatswesen bewahren, wenn dies in seiner Not und auf das Äußerste bedrängt, eine solche Pseudokultur als Bundesgenossen erfaßt. Denn was weiß man schließlich von der Schwierigkeit der Aufgabe, Menschen zu regieren, das heißt unter vielen Millionen eines, der großen Mehrzahl nach, grenzenlos egoistischen, ungerechten, unbilligen, unredlichen, neidischen, boshaften und dabei sehr beschränkten und querköpfigen Geschlechtes Gesetz, Ordnung, Ruhe und Frieden aufrechtzuerhalten und dabei das Wenige, was der Staat selbst als Besitz erworben, fortwährend gegen begehrliche Nachbarn und tückische Räuber zu schützen? Ein so bedrängter Staat greift nach jedem Bundesgenossen: und wenn ein solcher gar, in pompösen Wendungen sich selbst anbietet, wenn er ihn, den Staat, etwa, wie dies Hegel getan, als ›absolut vollendeten ethischen Organismus‹ bezeichnet und als Aufgabe der Bildung für jeden hinstellt, den Ort und die Lage ausfindig zu machen, wo er dem Staat am nützlichsten diene – wen wird es wundernehmen, wenn der Staat einem solchen sich anbietenden Bundesgenossen ohne weiteres um den Hals fällt und nun auch mit seiner tiefen barbarischen Stimme und in voller Überzeugung ihm zuruft: ›Ja! Du bist die Bildung! Du bist die Kultur!‹«[228]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 214-229.
Lizenz:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Feldblumen

Feldblumen

Der junge Wiener Maler Albrecht schreibt im Sommer 1834 neunzehn Briefe an seinen Freund Titus, die er mit den Namen von Feldblumen überschreibt und darin überschwänglich von seiner Liebe zu Angela schwärmt. Bis er diese in den Armen eines anderen findet.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon