|
[979] Naumburg, den 3. November 1867
Mein lieber Freund, gestern bekam ich einen Brief von unserm Wilhelm Roscher aus Leipzig, mit Nachrichten, welche mit Deiner Erlaubnis den Eingang dieses Briefes bilden sollen. Voran die erfreuliche Kunde, daß es mit Vater Ritschls Gesundheit und Heiterkeit bestens steht; was ich mit Verwunderung höre, da das Benehmen der Berliner ihm sicherlich manche wunde Stelle aufgerissen hat. Sodann scheint der Verein, der sich auch einen feierlichen Stempel zugelegt hat, einer schönen Zukunft entgegenzugehn. Der Lesezirkel zählt 28 Mitglieder bis jetzt: das Café von Zaspel soll nach Roschers Intentionnen eine Art Philologenbörse bilden. Auch ist ein Schrank gekauft worden, in dem die Zeitschriften aufbewahrt werden. Freitagszusammenkünfte haben wahrscheinlich noch nicht stattgefunden; wenigstens schreibt Wilhelm nichts davon. Zudem sind verschiedene Mitglieder noch nicht eingetroffen, z. B. Koch, der leider durch eine schwere Krankheit verhindert ist. Ebensowenig der vortreffliche Kohl, der sich seltsamerweise mehrere Wochen bei einem Freunde auf dem Lande[979] aufhalten will und somit die bedenklichen Szenen des Examens etwas hinausgeschoben hat. Schließlich will ich nicht verschweigen, daß Roschers Brief mir die angenehme Nachricht brachte, daß meine Laertiusarbeit am 31. Okt. in der Aula den Sieg im Wettkampf gegen Herrn Outis gewonnen hat; was ich vor allem deshalb erzähle, weil ich dabei Deiner freundschaftlichen Bemühungen eingedenk bin, unter denen das besagte opusculum vom Stapel lief. Es kann lange dauern, ehe von diesen Angelegenheiten etwas gedruckt wird: alle früheren Pläne habe ich zurückgezogen und nur den einen festgehalten, in einem größeren Zusammenhange dies Gebiet, vereint mit Freund Volkmann, zu behandeln. Da wir aber beide stark anderweitig beschäftigt sind, so mögen die hübschen Fabeln von der Gelehrsamkeit des Laertius und Suidas sich noch eine Zeitlang ihres Daseins freuen. Der einzige Mensch, der ein wenig schneller über die wahrscheinliche Sachlage unterrichtet werden muß, ist Curt Wachsmuth: als welcher persönlich und mündlich davon hören will und wird, nachdem ich ihn in Halle bei der Philologenversammlung kennengelernt habe. Er hat wirklich einen künstlerischen Anstrich, vor allem eine kräftige banditeske Häßlichkeit, die er mit Schwung und Stolz trägt.
Jene Tage in Halle sind für mich einstweilen das lustige Finale, oder sagen wir die Coda, meiner philologischen Ouvertüre. Solche Lehrerbanden präsentieren sich doch besser als ich je erwartet hatte. Mag es sein, daß die alten Spinnen in ihren Netzen geblieben waren: kurz, die Kleidung war recht anständig und neumodisch, und die Schnurrbärte sind sehr beliebt. Greis Bernhardy zwar präsidierte so schlecht als möglich und Bergk langweilte durch einen unverständlichen dreistündigen Vortrag. Das meiste war aber gut gelungen, vor allem das Diner (bei dem man dem alten Steinhart die goldne Uhr stahl: berechne danach, welche Stimmung durchherrschte) und eine abendliche Zusammenkunft im Schützengraben. Hier lernte ich auch den klugblickenden Magister Sauppe aus Göttingen kennen, der mir als Protagonist der Naumburger Philologen von Interesse ist. Sein Vortrag über einige neue attische Inschriften war das pikanteste, was wir gehört haben; wenn ich nämlich Tischendorfs Rede über Paläographie ausnehme, der mit vollem Zeuge losfuhr, d. h. mit der Homerjungfrau, den Simonidesfälschungen, den Menander- und Euripidesfragmenten[980] usw.; auch vermittelte er wiederum in reichster Fülle und kündigte schließlich sein paläographisches Werk an, mit naiver Preisangabe, nämlich im Werte von ungefähr 5000 Talern. Der Besuch war außerordentlich zahlreich, und Bekannte gab es in reicher Fülle. Beim Diner hatten wir eine Leipziger Ecke gebildet, bestehend aus Windisch, Angermann, Clemm, Fleischer usw. Sehr habe ich mich gefreut, in Clemm einen ganz besonders liebenswürdigen Menschen gefunden zu haben: während ich ihn in Leipzig kaum kennengelernt habe, ja sogar infolge der verteufelten Bonner Angewohnheit eine Art Abneigung gegen ihn empfand und ihn mit jenen schiefen Blicken zu betrachten pflegte, mit denen Burschenschafter die »Herren Chöre« zu messen lieben. Natürlich erklärte er sich mit vollem Herzen bereit, an den Leipziger symbolis teilzunehmen. Doch fand er den Termin zu zeitig abgesteckt: und ich bin nahe daran, sein Urteil zu unterschreiben. Täglich, ja stündlich haben wir in Halle auf die Ankunft von Vater Ritschl gewartet, der sich angekündigt hatte und leider dem schlechten Wetter sich fügen mußte. Wir haben nach seiner Anwesenheit gelechzt, ich insbesondere, der ihm nach allen Seiten hin Dank wissen muß. Seiner Vermittlung habe ich zuzuschreiben, daß ich jetzt im Besitz des vollständigen Rheinischen Museums bin, und zwar ohne bisher etwas dafür getan zu haben, ja in der sichern Aussicht, eine längere Zeit für jenen index nichts tun zu können. Die nächsten paar Wochen nach unsrer Reise habe ich nicht in dieser Fronarbeit verschwendet, sondern auf die lustigste Weise meine Democritea zusammengestellt; als welche in honorem Ritscheli bestimmt sind. So ist doch wenigstens der Hauptwurf getan: obschon für eine sorgsame Begründung meiner Tollheiten und eine stämmige Kombinatorik nur zuviel noch zu tun übrig ist, viel zuviel für einen Menschen, der »anderweitig stark beschäftigt ist«.
Nun, wirst Du fragen, wenn er nicht raucht und spielt, wenn er nicht indicem fabriziert, noch Democritea kombiniert, Laertium et Suidam despektiert, was macht er denn?
Er exerziert.
Ja, mein lieber Freund, wenn Dich ein Dämon einmal in einer frühen Morgenstunde, sagen wir, zwischen fünf und sechs, nach Naumburg geleiten und gefälligerweise die Absicht haben sollte,[981] Deine Schritte in meine Nähe zu lenken: so erstarre nicht über das Schauspiel, das sich Deinen Sinnen darbietet. Plötzlich atmest Du die Atmosphäre eines Stalles. Im halben Laternenlichte erscheinen Gestalten. Es scharrt, wiehert, bürstet, klopft um Dich herum. Und mitten drin, im Gewande eines Pferdeknechtes, heftig bemüht, mit den Händen Unaussprechliches, Unansehnliches wegzutragen oder den Gaul mit der Striegel zu bearbeiten, – mir graut es, wenn ich sein Antlitz sehe – es ist, beim Hund, meine eigne Gestalt.
Ein paar Stunden später siehst Du zwei Rosse auf der Reitbahn herumstürmen, nicht ohne Reiter, von denen der eine Deinem Freunde sehr ähnlich ist. Er reitet seinen feurigen schwungvollen Balduin und hofft einmal gut reiten zu lernen, obschon oder vielmehr weil er jetzt immer noch auf der Decke reitet, mit Sporen und Schenkeln, aber ohne Reitgerte. Auch mußte er sich beeilen, alles zu verlernen, was er in der Leipziger Reitbahn gehört hatte und vor allem sich mit großer Anstrengung einen sicheren und reglementmäßigen Sitz aneignen.
Zu andern Tageszeiten steht er, emsig und aufmerksam, am gezognen Geschütz und holt Granaten aus der Protze oder reinigt das Rohr mit dem Wischer oder richtet nach Zoll und Graden etc. Vor allem aber hat er sehr viel zu lernen.
Ich versichere Dich bei dem schon erwähnten Hund, meine Philosophie hat jetzt Gelegenheit, mir praktisch zu nützen. Ich habe in keinem Augenblicke bis jetzt eine Erniedrigung verspürt, aber sehr oft wie über etwas Märchenhaftes gelächelt. Mitunter auch raune ich unter dem Bauch des Pferdes versteckt »Schopenhauer hilf«; und wenn ich erschöpft und mit Schweiß bedeckt nach Hause komme, so beruhigt mich ein Blick auf das Bild an meinem Schreibtisch: oder ich schlage die Parerga auf, die mir jetzt, samt Byron, sympathischer als je sind.
Jetzt ist endlich der Punkt erreicht, wo ich das aussprechen kann, womit nach Deiner Erwartung der Brief hätte beginnen sollen. Mein lieber Freund, Du weißt jetzt den Grund, warum mein Brief so ungebührlich lange sich verspätet hat. Ich habe im strengsten Sinne keine Zeit gehabt. Aber auch oftmals keine Stimmung. Man schreibt eben Briefe an Freunde, die man so liebt, wie ich Dich liebe, nicht in jeder beliebigen Stimmung. Ebensowenig schreibt man in einem erhaschten Moment heute eine Zeile und morgen eine, sondern man sehnt sich[982] nach einer vollen und breiten Stunde und Stimmung. Heute blickt der freundlichste Herbsttag zum Fenster herein. Heute habe ich den Nachmittag frei, wenigstens bis halb sieben Uhr; als welche Stunde mich zur Abendfütterung und Tränkung in den Stall ruft. Heute feiere ich den Sonntag auf meine Weise, indem ich meines fernen Freundes und unsrer gemeinsamen Vergangenheit in Leipzig und im Böhmerwald und in Nirwana gedenke. Das Schicksal hat mit einem plötzlichen Ruck das Leipziger Blatt meines Lebens abgerissen, und das nächste, das ich jetzt in diesem sibyllinischen Buche sehe, ist mit einem Tintenklecks von oben bis unten bedeckt. Damals ein Leben in freister Selbstbestimmung, im epikureischen Genuß der Wissenschaft und der Künste, im Kreise von Mitstrebenden, in der Nähe eines liebenswerten Lehrers und – was mir das Höchste bleibt, was ich von jenen Leipziger Tagen sagen kann – im steten Umgang mit einem Freunde, der nicht nur Studienkamerad ist oder etwa durch gemeinsame Erlebnisse mit mir verbunden ist, sondern dessen Lebensernst wirklich denselben Grad zeigt, wie mein eigner Sinn, dessen Wertschätzung der Dinge und der Menschen ungefähr denselben Gesetzen wie die meinige folgt, dessen ganzes Wesen schließlich auf mich eine kräftigende und stählende Wirkung hat. So vermisse ich auch jetzt nichts mehr als eben jenen Umgang; und ich wage selbst zu glauben, daß, wenn wir zusammen verurteilt wären, unter diesem Joche zu ziehen, wir unsre Bürde heiter und würdevoll tragen würden: während ich augenblicklich nur auf den Trost der Erinnerung hingewiesen bin. In der ersten Zeit war ich fast verwundert, Dich als meinen Schicksalsgefährten nicht zu finden: und mitunter, wenn ich reitend den Kopf umdrehe nach dem andern Freiwilligen, so meine ich Dich auf dem Pferde sitzen zu sehen.
Ich bin in Naumburg ziemlich einsam; ich habe weder einen Philologen, noch einen Schopenhauerfreund im Kreise meiner Bekannten; und selbst diese kommen selten mit mir zusammen, weil der Dienst meine Zeit sehr beansprucht. Somit habe ich oft das Bedürfnis, die Vergangenheit wiederzukäuen und die Gegenwart durch Beimischung jener Würze verdaulich zu machen. Als ich heute morgen im Regenmantel durch die schwarze, kalte, feuchte Nacht ging, und der Wind unruhig um die dunklen Häusermassen blies, sang ich vor mich hin[983] »ein Biedermann muß lustig, guter Dinge sein« und dachte an unsere närrische Abschiedsfeier, an den hüpfenden Kleinpaul – dessen Existenz augenblicklich in Naumburg und Leipzig unbekannt, aber deshalb nicht fraglich ist – an Kochs dionysisches Gesicht, an unser Gedenkmal am Ufer jenes Leipziger Stromes, das wir Nirwana taufter und das meinerseits die festlichen Worte, die sich siegreich erwiesen haben, trägt genoi hoios essi.
Wenn ich zum Schluß diese Worte auch auf Dich anwende, teurer Freund, so sollen sie das Beste umschließen, was ich für Dich im Herzen trage. Wer weiß, wann das wechselnde Geschick unsre Bahnen wieder zusammenführen wird: möge es recht bald geschehn; wann es aber immer auch geschehe, ich werde mit Freude und Stolz auf eine Zeit zurückblicken, wo ich einen Freund gewann oios essi.
Friedrich Nietzsche
Kanonier der 21. Batt. der reit. Abteil. des Feldartilleriereg. Nr. 4. NB. Der Brief hat sich wieder einige Tage verzögert, weil ich gern ein Kistchen mit Weintrauben demselben folgen lassen wollte: schließlich erklärt die unselige Post, selbiges nicht annehmen zu wollen, weil die Weintrauben nur als Most ankommen würden.
Ignoscas
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
|
Buchempfehlung
Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.
112 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro