40.
An Richard Wagner

[1023] Basel, 21. Mai 1870


Pater Seraphice, wie es mir voriges Jahr nicht beschieden war, Augenzeuge Ihrer Geburtstagsfeier zu sein, so hält mich auch jetzt wieder eine ungünstige Konstellation davon ab; die Feder drängt sich mir heute widerwillig in die Hand, während ich gehofft hatte eine Maienfahrt zu Ihnen machen zu können.

Gestatten Sie mir, daß ich den Kreis meiner Wünsche heute so eng und persönlich wie nur möglich fasse. Andere mögen im Namen der heiligen Kunst, im Namen der schönsten deutschen Hoffnungen, im Namen Ihrer eigensten Wünsche ihre Gratulationen zu bringen wagen; mir genüge der subjektiveste aller Wünsche: mögen Sie mir bleiben, was Sie mir im letzten Jahre gewesen sind, mein Mystagogin den Geheimlehren der Kunst und des Lebens. Mag ich auch zeitweilig durch die grauen Nebel der Philologie hindurch Ihnen etwas entfernt erscheinen, ich bin es nie, meine Gedanken sind immer um Sie herum. Wenn es wahr ist, was Sie einmal – zu meinem Stolze – geschrieben haben, daß die Musik mich dirigiere, so sind Sie jedenfalls der Dirigent dieser meiner Musik; und Sie haben es mir selbst gesagt, daß auch etwas Mittelmäßiges, gut dirigiert, einen befriedigenden Eindruck[1023] machen könne. In diesem Sinne bringe ich den seltensten aller Wünsche: es mag so bleiben, der Augenblick verharre: er ist so schön! Ich verlange nur dies vom nächsten Jahre, daß ich mich selbst Ihrer unschätzbaren Teilnahme und Ihres tapferen Zuspruchs nicht unwürdig erweisen möge. Nehmen Sie diesen Wunsch mit unter die Wünsche auf, mit denen Sie das neue Jahr beginnen!

Einer »der seligen Knaben«

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1023-1024.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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