112.
An Malwida von Meysenbug

[1134] Rosenlauibad, Sonntag, 1. Juli 1877

4000 Fuß, aber wie geschützt,

mild, gut für die Augen!

(6 frs. die Pension, sehr gut)

Hochverehrte Freundin, es hat mich betrübt, daß mein ausführlicher Reiseplan in betreff des Splügen zu spät nach Florenz gelangt ist, wahrscheinlich nur um einen Tag zu spät. Ich glaubte nicht, daß Sie so schnell von dort aufbrechen würden. (Diese Tinte ist schrecklich,[1134] und ich habe sie mir eigens kommen lassen! Aber man hat sie gefälscht, alle Lebensmittel sind in der ganzen Welt unecht, und Tinte ist doch für uns ein Lebensmittel!)

So! Jetzt geht es besser. –

Ich bedaure sehr, daß das Reisen Ihnen so schlecht bekommen ist; in der Tat, das muß aufhören, und die vielen, welche Sie lieben, müssen sich ein bißchen bemühen und über die Alpen steigen.

Aeschi, glaube ich, wird Ihnen entsprechen: es ist dem Klima nach ähnlich wie Sorrent, natürlich etwas alpiner; aber eine ähnliche Mischung von guter Berg-, Wald- und Seeluft. Für meine Bedürfnisse ist es, so lange die ganze heiße Zeit währt, freilich viel zu niedrig; ich kann also erst später hinkommen. Das Hochgebirge hat immer einen wohltätigen Einfluß auf mich gehabt. Zwar liege ich hier auch krank zu Bett wie in Sorrent und schleppe mich tagelang unter Schmerzen herum, aber je dünner die Luft, um so leichter trage ich es. Jetzt habe ich eine Kur mit St. Moritzer Wasser begonnen, die mich mehrere Wochen beschäftigen wird. Es wurde mir sehr empfohlen, nach Ragazer Kur in die Höhe zu gehn und dies Wasser zu trinken: als Mittel gegen eingewurzelte Neurosen gerade in dieser Kombination mit Ragaz. Bis zum Herbst habe ich nun noch die schöne Aufgabe, mir ein Weib zu gewinnen. Die Götter mögen mir Munterkeit zu dieser Aufgabe geben! Ich hatte wieder ein ganzes Jahr zum Überlegen und habe es unbenutzt verstreichen lassen. Im Oktober bin ich entschlossen wieder nach Basel zu gehn und meine alte Tätigkeit aufzunehmen. Ich halte es nicht aus ohne das Gefühl, nützlich zu sein; und die Baseler sind die einzigen Menschen, welche es mich merken lassen, daß ich es bin. Meine sehr problematische Nachdenkerei und Schriftstellerei hat mich bis jetzt immer krank gemacht; solange ich wirklich Gelehrter war, war ich auch gesund; aber da kam die nervenzerrüttende Musik und die metaphysische Philosophie und die Sorge um tausend Dinge, die mich nichts angehen. Also ich will wieder Lehrer sein; halte ich's nicht aus, so will ich im Handwerk zugrunde gehn. Ich erzählte Ihnen, wie Plato diese Dinge auffaßt. – Meine besten Wünsche und Grüße für die unermüdlichen Bayreuther (ich bewundere alle Tage dreimal ihre Tapferkeit). Bitte beruhigen Sie mich über das Londoner Gesamtergebnis, man erzählte mir etwas sehr Schlimmes.[1135] Wie gern unterhielte ich mich mit Frau Wagner, es ist immer einer meiner größten Genüsse, und seit Jahren bin ich ganz darum gekommen! –

Ihre mütterliche Güte gibt Ihnen das traurige Vorrecht, auch Jammer-Briefe zu bekommen!

Overbeck hat keineswegs mir zugeraten, nach Basel zu gehen. Wohl aber meine Schwester, die mehr Vernunft hat, als ich.

Es müssen mehrere Karten (von mir an Sie) nicht angekommen sein.

Leben Sie wohl, recht wohl! Ihnen herzlich ergeben

Friedrich Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1134-1136.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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