229.
An Georg Brandes

[1278] Nizza, den 19. Februar 1888


Verehrter Herr, Sie haben mich auf das angenehmste mit Ihrem Beitrage zum Begriff »Modernität« verpflichtet; denn gerade diesen Winter ziehe ich in weiten Kreisen um diese Wertfrage ersten Ranges herum, sehr oberhalb, sehr vogelmäßig und mit dem besten Willen, so unmodern wie möglich aufs Moderne herunterzublicken ... Ich bewundere – daß ich es Ihnen gestehe! – Ihre Toleranz im Urteil ebenso sehr wie Ihre Zurückhaltung im Urteil. Wie Sie alle diese »Kindlein« zu sich kommen lassen. Sogar Heyse! –

Ich habe mir für meine nächste Reise nach Deutschland vorgesetzt, mich mit dem psychologischen Problem Kierkegaard zu beschäftigen, insgleichen die Bekanntschaft mit Ihrer älteren Literatur zu erneuern. Dies wird für mich, im besten Sinn des Worts, von Nutzen sein – und wird dazu dienen, mir meine eigene Härte und Anmaßung im Urteil »zu Gemüte zu führen«.

Gestern telegraphierte mir mein Verleger, daß die Bücher an Sie abgegangen sind. Ich will Sie und mich mit der Erzählung verschonen, warum dies so spät geschehen ist. Machen Sie, verehrter Herr, eine gute Miene zu dem »bösen Spiel«, ich meine zu dieser Nietzscheschen Literatur.

Ich selber bilde mir ein, den »neuen Deutschen« die reichsten, erlebtesten und unabhängigsten Bücher gegeben zu haben, die sie überhaupt besitzen; ebenfalls selber für meine Person ein kapitales Ereignis in der Krisis der Werturteile zu sein. Aber das könnte ein Irrtum sein; und außerdem noch eine Dummheit – ich wünsche, über mich nichts glauben zu müssen.

Ein paar Bemerkungen noch: sie beziehen sich auf meine Erstlinge (– die Juvenilia und Juvenalia):

Die Schrift gegen Strauß, das böse Gelächter eines »sehr freien[1278] Geistes« über einen solchen, der sich dafür hielt, gab einen ungeheuren Skandal ab: ich war damals schon Prof. ordin., trotz meiner 27 Jahre, somit eine Art von Autorität und etwas Bewiesenes. Das Unbefangenste über diesen Vorgang, wo beinahe jede »Notabilität« Partei für oder gegen mich nahm und eine unsinnige Masse von Papier bedruckt worden ist, steht in Karl Hillebrands »Zeiten, Völker und Menschen« Band 2. Daß ich das altersmüde Machwerk eines außerordentlichen Kritikers verspottete, war nicht das Ereignis, sondern daß ich den deutschen Geschmack bei einer kompromittierenden Geschmacklosigkeit in flagranti ertappte: er hatte Straußens »alten und neuen Glauben« einmütig, trotz aller religiös-theologischen Partei-Verschiedenheit, als ein Meisterstück von Freiheit und Feinheit des Geistes (auch des Stils!) bewundert. Meine Schrift war das erste Attentat auf die deutsche Bildung (– jene »Bildung«, welche, wie man rühmte, über Frankreich den Sieg errungen habe –). Das von mir formulierte Wort »Bildungsphilister« ist aus dem wütenden Hin und Her der Polemik in der Sprache zurückgeblieben.

Die beiden Schriften über Schopenhauer und Richard Wagner stellen, wie mir heute scheint, mehr Selbstbekenntnisse, vor allem Selbstgelöbnisse über mich dar als etwa eine wirkliche Psychologie jener mir ebenso tief verwandten als antagonistischen Meister (– ich war der erste, der aus beiden eine Art Einheit destillierte; jetzt ist dieser Aberglaube sehr im Vordergrunde der deutschen Kultur: alle Wagnerianer sind Anhänger Schopenhauers. Dies war anders als ich jung war. Damals waren es die letzten Hegelinge, die zu Wagner hielten, und »Wagner und Hegel« lautete die Parole in den fünfziger Jahren noch).

Zwischen den »Unzeitgemäßen Betrachtungen« und »Menschliches, Allzumenschliches« liegt eine Krisis und Häutung. Auch leiblich: ich lebte jahrelang in der nächsten Nachbarschaft des Todes. Dies war mein großes Glück: ich vergaß mich, ich überlebte mich ... Das gleiche Kunststück habe ich noch einmal gemacht. –

So haben wir also einander Geschenke überreicht: ich denke ein Paar Wanderer, die sich freuen, einander begegnet zu sein? ...

Ich verbleibe Ihr ergebenster Nietzsche[1279]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1278-1280.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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