Neuntes Buch

[330] Es wäre also, fuhr ich fort, nur noch das tyrannische Individuum zu betrachten übrig: erstlich nämlich, wie es sich aus dem demokratischen entwickelt, zweitens, welchen Charakter es nach abgeschlossener Entwicklung hat und auf welche Weise es lebt, elend oder glückselig.

Ja, sagte er, diese Betrachtung ist noch übrig.

Weißt du, fragte ich, was ich da nun vorher noch vermisse?

Was denn?

Hinsichtlich der Begierden scheinen wir die Frage über ihre Qualität und Quantität noch nicht gründlich genug erörtert zu haben. Ist diese Erörterung nun mangelhaft, so wird die Untersuchung der noch vorliegenden Hauptfrage etwas unsicher sein.

Nicht wahr, fragte er, es ist doch noch Zeit?

Allerdings; betrachte daher die Seite, die ich an ihnen zuvor ins Auge fassen will; sie ist aber folgende: Unter die vorhin genannten nicht notwendigen Lüste und Begierden scheinen mir einige zu gehören, die unbändig jedem sittlichen Gesetze zu widerstreben scheinen. Jeder Mensch zwar ist nun der Gefahr ausgesetzt, solche Begierden in sich zu haben; aber von den Gesetzen sowohl wie von den besseren Begierden mittels Vernunft unter der Schere gehalten, verschwinden sie bei einigen Menschen entweder gänzlich oder bleiben nur in geringer[330] Zahl und geschwächt, bei anderen dagegen erscheinen sie in größerer Kraft und Zahl.

Aber was meinst du denn für welche, fragte er, unter den hier angedeuteten Lüsten?

Die, antwortete ich, welche während des Schlafes zu erwachen pflegen, wenn nämlich einerseits der eine Bestandteil der Seele, der Vernunft, Humanität und Beherrschung jenes begierlichen Teiles in sich begreift, im Schlafe liegt, und wenn andrerseits der tierische und wilde Teil der Seele, von Speise oder Trank angefüllt, sich bäumt und nach Abschüttelung des Schlafes durchzugehen und seine Triebe zu befriedigen sucht. Du weißt, daß letzterer dann in solchem Zustande sich alle möglichen Dinge erlaubt, weil er nun aller Scham und Vernunftlos und ledig ist. Denn er trägt kein Bedenken, sowohl seiner Mutter, wie er wähnt, beizuwohnen, als auch jedem anderen Gegenstand seiner Lust, sei es Gott, Mensch oder Tier; er trägt kein Bedenken, sich mit jeder Blutschuld zu beladen, jede Befriedigung seines Gaumens sich zu erlauben, mit einem Worte: weder vor einem Unverstande noch vor einer Unverschämtheit zurückzubleiben.

Ganz wahr ist deine Beschreibung, sagte er.

Wenn dagegen jemand, denke ich, sich schon in bezug auf sein Inneres in gesundem und besonnenem Zustande befindet und sich zu Bette begibt, nachdem er erstens den vernünftigen Teil seiner Seele geweckt, ihn mit schönen Gedanken und Betrachtungen genährt hat und zu stiller Selbstprüfung gekommen ist; nachdem er zweitens den begierlichen Teil seiner Seele weder dem Mangel noch der Völlerei überlassen hat, damit er sich ruhig verhält und damit er dem edelsten Seelenbestandteile keine Unruhe verursacht durch ausgelassene Freude oder Kummer, daß er im Gegenteil diesen ganz für sich allein und von allem Körperlichen gesondert betrachten, erstreben und wahrnehmen läßt, was er noch nicht weiß, beziehe es sich nun entweder auf die Vergangenheit oder auf die Gegenwart oder auf die Zukunft; nachdem, er drittens ebenso den zornmütigen Seelenteil gedämpft und nicht etwa vorher mit irgendwelchen Personen in Zornausbrüche geraten ist und mit aufgeregtem Gemüte einschläft, sondern nach Einwiegung der zwei niederen Seelenbestandteile und nach Weckung[331] des edlen dritten, bei dem sich das Denken befindet, zur Ruhe geht: so weißt du, daß der Mensch in diesem Zustande nicht nur am besten die Wahrheit erfaßt, sondern daß auch dann die Traumgesichter am wenigsten unsittlich erscheinen.

Ganz vollkommen bin ich allerdings dieser Meinung, sagte er.

Diese letzteren Sätze haben wir indessen als eine Abschweifung vorzutragen uns verleiten lassen; was ich aber tiefer einsehen wollte, ist das: Eine heftige, wilde und unbändige Gattung von Begierden gibt es bei jedem von uns Menschen, wenn auch manche gar ordentliche Leute zu sein scheinen, und hiervon haben wir dem Gesagten zufolge den offenbaren Beweis in den Träumen. Ob ich hiermit eine Wahrheit sage und ob du meiner Behauptung beitreten kannst, überlege!

Ja, ich trete ihr bei.

Stelle dir nun noch einmal das nach der Demokratie geartete Individuum vor, wie wir es charakterisierten: Es entstand aber demnach dadurch, daß es von Jugend an von einem sparsüchtigen Vater erzogen wurde, der allein die auf den Erwerb gerichteten Begierden schätzte, dagegen die nicht notwendigen und nur auf Vergnügen und äußere Pracht gehenden für nichts achtete, nicht wahr?

Ja.

Nachdem aber unser nach der Demokratie geartetes Individuum mit vornehmeren und von den eben beschriebenen Begierden erfüllten Herren zusammengekommen war und aus Haß gegen die Knickerei seines Vaters sich allem Frevelmut und der Lebensweise jener Herren überlassen hatte, aber im Besitze einer besseren Anlage als seine Verführer nach beiden Seiten gezogen wurde, so stand es in der Mitte beider Lebensarten, und alles, wonach es jedesmal Lust hatte, maßvoll versteht sich, wie es damals meinte, genießend, führt er weder ein schmutzig-geiziges noch ein alle Gesetze der Ordnung überschreitendes Leben und ist so aus einem der Oligarchie verwandten Charakter ein der Demokratie ähnlicher geworden.

Ja, sagte er, das war und ist unsere Ansicht über einen solchen Charakter.

Stelle dir nun, fuhr ich fort, von einem solchen Individuum, wenn es bereits älter geworden ist, wiederum einen Sohn vor, der ebenso in dessen Sitten erzogen ist![332]

Ich tue es.

Nun, so denke also auch, daß dieselben vorhin erwähnten Verführungen um ihn sich begeben, die auch um seinen Vater sich begaben: daß er zu jeder gesetzwidrigen Zügellosigkeit sich hinreißen lasse, was aber von seinen Anführern lauter Freiheit geheißen wird; daß jenen die Mitte haltenden Begierden der Vater und die übrigen Verwandten noch einigen Beistand leisten, daß andererseits jene Gesellen dagegen operieren; daß endlich jene gewaltigen Schwarzkünstler und Tyrannenfabrikanten, falls sie auf andere Art den jungen Menschen nicht mehr in ihren Fesseln zu halten hoffen können, ihm durch Intrige eine Liebschaft beibrächten, die dann die Vorsteherin der nichts verdienenden und das Vermögen nur verwirtschaftenden Begierden ist, eine recht geflügelte und große Drohne; oder glaubst du, daß der Eros solcher Leute etwas anderes sei?

Meines Bedünkens, sagte er, nichts anderes als dies.

Nicht wahr, wenn nun die übrigen Begierden mit wohlriechenden Düften, Salben, Kränzen, Weinräuschen und den in solchen Gesellschaften ausgelassenen Vergnügungen um jene Liebe herumsumsen, und wenn sie diese nicht nur bis aufs höchste steigern und erziehen, sondern dieser Drohne noch den Stachel der Lust nach Befriedigung des Geschlechtstriebes einsetzen, dann hat dieser Demagog der Seele schon eine Leibwache an der Unvernunft und tobt. Und wenn er etwa noch einige früher auf guten Glauben angenommene gute und noch Scham empfindende Empfindungen und Gefühle in seinem Inneren ertappen sollte, so erwürgt er sie teils, feils verbannt er sie aus seinem Inneren, bis er sich von der die Begierden im Zaume haltenden Besonnenheit gereinigt, dafür aber mit selbstverschuldeter toller Unvernunft angefüllt hat.

Ganz vollkommen, sagte er, beschreibst du die Entstehung des tyrannischen Individuums.

Nicht wahr, fragte ich, daher heißt auch schon von alters her wegen dieser Eigenschaft Eros ein Tyrann?

Ja, sagte er, mag sein.

Nicht wahr, mein Lieber, fuhr ich fort, auch der Trunkenbold hat einen der Tyrannenherrschaft verwandten Geist?

Freilich.[333]

Und auch der Rasende und Verrückte erst sucht und hofft nicht nur Menschen, sondern auch Götter tyrannisieren zu können?

Ja, sicher, erwiderte er.

Ein der tyrannischen Staatsverfassung ähnliches Individuum, mein Schönster, sprach ich weiter, wird aber erst vollständig fertig, wenn es entweder durch angeborene Anlage oder durch Lebensweise oder durch beides trunksüchtig, ein Liebesnarr und ein Geisteskranker geworden ist.

Ja, ganz richtig.

Was also erstens die Entstehung eines tyrannischen Menschencharakters anlangt, so geschieht sie offenbar auf die besagte Weise; die zweite Frage ist bekanntlich nun: Wie lebt er?

Das wird wohl, wie es im Spiele heißt, niemand mir sagen, als du, bemerkte er.

Nun denn, sagte ich, meine Gedanken hierüber sind diese: Ich glaube nämlich, hierauf werden bei ihnen Feste, lustige Aufzüge, Schmausereien, Freudenmädchen und alles dergleichen gehalten, wobei Eros als Tyrann im Innern wohnt und alle Seelenbestandteile beherrscht.

Notwendig, sagte er.

Werden nun nicht Tag und Nacht noch viele heftige Begierden daneben aufsprossen, die gar viel nötig haben?

Viele freilich.

Wenn einige Einkünfte da sind, so werden sie also bald erschöpft sein?

Allerdings.

Und hernach gibt's offenbar Schulden und Vermögensveräußerungen?

Was denn sonst?

Wenn nun aber alles ausgeht, müssen da nicht die vielen heftigen eingenisteten Begierden ein Gebrüll anfangen, und müssen diese Menschen dann nicht sowohl von den übrigen Begierden, als auch ganz besonders vom Herrn Eros, der alle übrigen wie seine Söldner anführt, wie von Stacheln getrieben wütend umherschwärmen und auskundschaften, wer etwas habe, dem man es mit List oder Gewalt abnehmen könne?

Ja, sagte er, ganz gewiß.[334]

Notwendigerweise müssen sie also von überallher zusammenraffen, oder sie werden von schrecklichen Schmerzen und Wehen gezwickt.

Ja, notwendig.

Wie nun bei jenem tyrannischen Menschencharakter die neu hinzugekommenen Lüste vor den alten den Vorzug haben und ihnen das Ihrige entreißen wollten, wird nicht ebenso auch er selbst kein Bedenken tragen, vor Vater und Mutter, obwohl er jünger ist, den Vorrang zu haben und sie berauben zu wollen, nachdem er sein Erbteil, das er sich hatte geben lassen, durchgebracht hat?

Ja, ohne Zweifel, sagte er.

Wenn die Eltern es ihm aber nun nicht gestatten sollten, – nicht wahr, so würde er erstlich den Versuch machen, seine Eltern zu bestehlen und zu betrügen?

Auf alle Weise.

Wenn er es aber nicht vermöchte, so würde er hierauf sie plündern und mit Gewalt berauben?

Ja, ich glaube es, sagte er.

Wenn aber nun der alte Mann und die alte Frau sich ihm entgegenstellten und zur Wehr setzten, – würde er da wohl, mein Bester, Scheu und Mäßigung haben, um keine der ärgsten Tyrannenhandlungen zu verüben?

Ich meinerseits, antwortete er, prophezeie den Eltern eines solchen Subjektes gar nichts Gutes.

Nun, bei Zeus, Adeimantos, hältst du gar einen solchen für fähig, daß er wegen einer erst kürzlich ihm befreundeten Geliebten, an die er gar nicht durch enge Bande gebunden ist, seine längst befreundete und durch die Natur mit ihm verbundene Mutter, oder wegen eines erst kürzlich befreundeten und gar nicht mit ihm durch ein enges Band verbundenen jugendlichen Lieblings seinen abgelebten und durch die Natur mit ihm verbundenen alten Vater, den ältesten seiner Freunde, mit Schlägen mißhandelt und sie jenen dienstbar macht, wenn er sie in demselben Hause zusammengebracht haben sollte?

Ja, bei Zeus, sagte er, ich halte ihn dessen fähig.

Eine ungeheuer große Glückseligkeit, sagte ich, ist es also, wenn man einen tyrannischen Sohn erzeugt hat![335]

Ja, sagte er, eine gewaltige!

Und wie weiter? Wenn nun das Vater und Mutter gehörige Vermögen einem solchen Menschen ausgeht, dabei aber der Schwarm der Lüste in ihm sich ungeheuer groß angesammelt hat, – wird er da nicht zuerst an einem Hause die Wand einbrechen oder einem zur Nachtzeit späten Spaziergänger nach dem Mantel greifen und nach diesen Anfängen später einen Tempel rein ausleeren? Und während aller dieser Verbrechen werden nun natürlich von seinen erst neulich aus der Zucht entkommenen und die Leibwache des Eros bildenden Begierden mit dessen Hilfe jene von Kindheit über Sittlichkeit und Unsittlichkeit auf guten Glauben sich angeeigneten Lehren, an denen er bisher noch hielt, überwunden, von ihnen, die früher sich nur im Traume während des Schlafes freimachten, als ihr Inhaber noch unter sittlichen Gesetzen und unter seinem Vater mit einer noch demokratischen Verfassung seines Inneren lebte. Aber nachdem von Eros seine Seele eine tyrannische Verfassung erhalten hat, wird er nun wirklich wachend immerfort so ruchlos, wie er früher selten im Traume war, wird er sich keiner greulichen Mordtat, keiner Gaumenbefriedigung und keiner Schandtat enthalten: es lebt ja in seinem Inneren tyrannisch der Eros in aller Zügel- und Gesetzlosigkeit, und da er allein zur absoluten Herrschaft gelangt ist, so wird er das von ihm besessene Individuum, wie der Tyrann einen Staat, zu jedwedem Wagnis führen, um daher sich selbst sowohl wie seinen geräuschvollen Trabantenschwarm unterhalten zu können, sowohl den infolge schlechten Umgangs von außen eingedrungenen als auch den in seinem Inneren ursprünglich vorhandenen, die aber erst von eben solchen schlechten Sitten und von ihm selbst losgelassen und entfesselt wurden. Oder ist dies nicht das Leben solcher Menschen?

Ja, sagte er, das ist es.

Wenn nun, fuhr ich fort, nur wenige von solchem Schlage in einem Staate sich befinden und die übrige Bevölkerung ein vernünftig sittliches Leben führt, so werden sie auswandern und bei einem anderen Tyrannen Leibwächter werden oder als Hilfstruppen sich verdingen, falls Krieg wäre; wenn sie aber in Friedens- und ruhiger Zeit leben, so richten sie natürlich daheim in ihrem Staate mancherlei kleine Übel an.[336]

Was für welche meinst du denn?

Zum Beispiel Diebstähle, Einbrüche, Beutelschneidereien, gewaltsame Kleiderräubereien (in Bädern oder von Leichen), Tempelräubereien, Seelenverkäufereien; bisweilen auch werden sie, wenn sie Fertigkeit der Rede haben, sich zu hinterlistigen und bösartigen Anklagen, zu falschen Zeugnissen, zu Bestechungen hergeben.

Nur klein, sagte er, kannst du die Übel nennen, wenn dergleichen Leute nur wenige sein sollten!

Ja, sagte ich, allerdings sind die von mir klein genannten Übel im Vergleich zu großen klein, und alle die hier aufgezählten Übel reichen bekanntlich, wenn sie neben das einem Staate von einem wirklichen Tyrannen zugefügte Verderbnis und Elend gestellt werden, letzterem, wie man zu sagen pflegt, kaum das Wasser. Denn wenn viele von solchem Charakter in einem Staate von Geburt da sind und viele andere auch sich ihnen zugesellen, und wenn diese dann sich als die Mehrzahl fühlen, – so sind sie es dann sicherlich, die mit Hilfe des Unverstandes des gemeinen Volkes den Tyrannen erzeugen, und zwar den, der ganz besonders von ihnen als Individuum den größten und stärksten Tyrannen von Leidenschaft in seiner Seele trägt.

Natürlich wohl, sagte er; denn er ist zum wirklichen Tyrannen am besten gemacht.

Nicht wahr, falls sich die Leute nämlich gutwillig unterwerfen; wenn es aber seine Mitbürgerschaft nicht zugeben sollte, so wird er, wie er vormals Mutter und Vater Gewalt antat, so auch hier wiederum sein Vaterland, falls er es vermag, sich mit Gewalt unterwürfig machen, indem er sich noch neue Helfershelfer zu den vorigen dazu erwirbt, und er wird nun das ihm längst befreundete Mutterland, wie die Kreter sich ausdrücken, und Vaterland im Zustande der Sklaverei haben und halten. Und das wäre denn das endliche Ziel der Begierlichkeit eines solchen Individuums.

Ja, sagte er, das ist's allerdings.

Nicht wahr, sprach ich weiter, im Bürgerstande und ehe sie zum Herrscherthrone gelangen, zeigen die eben beschriebenen tyrannischen Individuen folgenden Charakter? Erstlich, was ihren Umgang betrifft, so gehen sie entweder nur mit Schmeichlern[337] und mit Leuten um, die immer bereit sind, auf ihre Winke zu warten; oder sie selbst, wenn sie etwas bedürfen, machen schmeichelnde Bücklinge und nehmen alle möglichen Freundschaftsmienen an, aber nach Durchsetzung ihres Planes stellen sie sich wieder fremd!

Ja, gar sehr zeigen sie diesen Charakter.

In ihrem ganzen Leben also leben sie mit niemandem je in wahrer Freundschaft, sondern sie bringen ihr ganzes Leben hin, indem sie über einen den Despoten spielen oder einem andren sklavisch kriechen; wahre Freiheit und Freundschaft aber hat eine tyrannische Natur in ihrem Leben nicht gekostet.

Ja, allerdings.

Daher werden wir erstlich solchen Leuten ganz richtig das Prädikat perfid beilegen dürfen?

Jawohl!

Ferner Ungerechtigkeit im allerhöchsten Grade, falls unsere früheren Bestimmungen über das Wesen der Gerechtigkeit in Ordnung waren?

Und das waren sie doch! sagte er.

Laß uns also, fuhr ich fort, die Charakteristik des moralisch schlechtesten Menschen noch einmal rekapitulieren: sein Wesen besteht darin, daß er wachend so ist, wie der vorhin Beschriebene im Traume war.

Allerdings.

Und nicht wahr, dahin kommt es in Wirklichkeit bei jenem, der von Geburt aus die größten Anlagen zu einer Tyrannenseele hat und auch auf den Thron einer unumschränkten Alleinherrschaft gelangt, und je längere Zeit er auf einem Tyrannenthrone sitzt, um so mehr wird er so werden?

Notwendig, antwortete Glaukon, der hier wieder das Wort nahm.

Wer sich, fuhr ich fort, als den moralisch Schlechtesten gezeigt hat, wird sich an diesem nun auch zeigen, daß er der Unglückseligste ist? Ferner daß der, welcher am längsten auf einem Tyrannenthrone gesessen hat, auch am längsten der Unglückseligste war, wenn man die Sache im Lichte der philosophischen Wahrheit besieht? Denn die große Menge hat hierüber auch eine große Menge Ansichten.

Ja, sagte er, jene Fragen müssen notwendig bejaht werden.[338]

Nicht wahr, fragte ich nun, das ist erstlich eine ausgemachte Wahrheit, daß das tyrannische Individuum dem tyrannisch beherrschten Staate ähnlich ist, das demokratische dem demokratisch verwalteten, und so weiter?

Ohne Zweifel.

Und nicht wahr, daraus folgt der Satz: In welchem Verhältnisse ein Staat zu einem anderen hinsichtlich Tugend und Glückseligkeit steht, in demselben steht auch ein Individuum zu einem anderen?

Allerdings.

In welchem Verhältnisse steht nun in bezug auf Tugend ein tyrannisch beherrschter Staat zum philosophisch-königlich regierten, wie wir ihn in der ersten Beschreibung hingestellt haben?

Gerade in dem entgegengesetzten, erwiderte er: der eine ist der beste, der andere ist der schlechteste.

Ich will nicht fragen, fuhr ich fort, welchen von beiden du so und welchen du so nennst, denn es versteht sich von selbst; sondern ich frage jetzt nach ihrem Verhältnisse in bezug auf Glückseligkeit und Unglückseligkeit: lautet hier dein Urteil ebenso oder anders? Und lassen wir uns hier nicht bestechen durch den Anblick der einen Person des Tyrannen und der wenigen ihn umlagernden Schranzen; sondern bedenke, daß wir erst den gesamten Staat in Augenschein nehmen, ja daß wir in jeden Winkel desselben hinabsteigen müssen, und erst nach solchem Augenscheine dürfen wir unsere Meinung aussprechen!

Ja, sagte er, diese deine feierliche Aufforderung ist ganz am rechten Orte; und aller Welt muß es klar sein, daß ein tyrannisch beherrschter Staat der allerunglücklichste, dagegen ein philosophisch-königlicher der allerglückseligste ist.

Nicht wahr, sprach ich weiter, es ist folglich auch am rechten Orte, wenn ich auch in bezug auf die jenen beiden Staaten entsprechenden Individuen dieselbe feierliche Aufforderung tue und verlange, daß nur jener ein Urteil über sie fällen könne, der imstande ist, mit dem Blick seines Verstandes in das Gemüt eines Menschen einzudringen und da eine genaue Besichtigung anzustellen, und der nicht wie ein Kind beim äußeren Anblick sich bestechen läßt von der hohen Rolle der tyrannischen[339] Individuen, die sie gegen die Außenwelt annehmen: sondern der den durchdringenden Blick eines reifen Verstandes hat? Wenn ich also meinte, wir alle müßten hierin auf denjenigen hören, der erstlich hier ein kompetentes Urteil hat, und der zweitens mit einer Tyrannenseele unter demselben Dache gewohnt hat und ihm zur Seite stand sowohl in seinen häuslichen Handlungen im Verhalten zu seinen Hausgenossen (wobei er am meisten von seinem theatralischen Flitterstaat entblößt gesehen werden kann), als auch gleicherweise in den Momenten wichtiger Staatsunternehmungen, und wenn wir also einen Augenzeugen aller dieser Talsachen den Urteilsspruch verkünden ließen, in welchem Verhältnisse das tyrannische Individuum in bezug auf Glückseligkeit und Unglückseligkeit stände, – würde...

Ja, sagte er, auch diese feierliche Aufforderung würde an ihrem Orte sein.

Wäre es dir nun genehm, fuhr ich fort, wir stellten uns an, als gehörten wir zu den Richtern, die erstlich hierin ein kompetentes Urteil haben, und die zweitens auch mit solchen Individuen bereits Erfahrungen machten, damit wir eine antwortende Person auf unsere Fragen haben?

Jawohl.

Wohlan denn, sprach ich weiter, und hilf mir, die dem Urteilsspruche vorauszuschickende genauere Untersuchung auf folgende Weise anstellen: Mit Erinnerung an die Ähnlichkeit des Staates und des Individuums schaue bei ihnen jedesmal herüber und hinüber und berichte uns die Zustände jedes von beiden!

Welche Zustände denn? fragte er.

Wirst du erstlich, sagte ich, um mit dem Staate zu beginnen, dem tyrannisch beherrschten Staate Freiheit oder Knechtschaft beilegen?

Im höchsten Grade Knechtschaft, war seine Antwort.

Und doch kannst du in ihm Herren und Freie wahrnehmen.

Nur eine ganz kleine Wenigkeit sehe ich davon, sagte er; die Gesamtheit dagegen, darf man sagen, und der edelste Teil schmachtet in schmählicher und unseliger Knechtschaft.

Wenn nun, fuhr ich fort, ein individueller Mensch diesem Staate ähnlich ist, muß in jenem nicht nach einer notwendigen[340] Folge dasselbe Verhältnis statthaben? Muß nicht von Sklavensinn und Niederträchtigkeit seine Seele gebeugt sein, und müssen nicht jene Seelenbestandteile, die ursprünglich die edelsten waren, in Sklaverei sich befinden, während dagegen der geringste, schlechteste und tollste Teil über jene den Herrscherstab schwingt?

Ja, notwendig, sagte er.

Wie sieht es also aus? Wirst du die Eigenschaft der knechtischen Sklaverei oder die der edlen Freiheit einer solchen Seele beilegen?

Ich meinerseits lege ihr die der knechtischen Sklaverei bei.

Der in Sklaverei und in Tyrannei sich befindende Staat kann fürs zweite am allerwenigsten tun, was er vernünftig will, nicht wahr?

Kein Zweifel.

Sonach wird auch die tyrannisch beherrschte Seele, wenn von der ganzen die Rede ist, am allerwenigsten tun können, was sie vernünftig wollen sollte: immer von einem Stachel fortgetrieben, muß sie immer voll Schrecken und Reue sein.

Ja, das muß sie.

Fürs dritte: Reich oder arm ist nach notwendiger Folge der tyrannisch beherrschte Staat?

Arm.

So muß demnach auch die tyrannisch beherrschte Seele immer arm und heißhungrig sein.

Ja, sagte er.

Viertens: Muß nicht ferner der hier gemeinte Staat und das ihm entsprechende Individuum auch notwendig von Furcht erfüllt sein?

Ja, in hohem Grade.

Fünftens: Klagen, Seufzer, Tränen und Herzenskummer, – wird man die wohl in einem anderen Staate häufiger antreffen?

Keineswegs.

Was nun wieder das Individuum anlangt, sind nach deiner Ansicht dergleichen Unheilszustände in einem anderen häufiger vorhanden als bei dem, das vor Begierden und Liebschaften den Verstand verloren hat, d.h. bei dem tyrannischen?[341]

Unmöglich, sagte er.

In Rücksicht auf diese und dergleichen Wahrnehmungen hast du also, glaube ich, den hier in Rede stehenden Staat unter den Staaten für den unseligsten erklärt?

Und nicht mit Recht? fragte er.

Ja, sicher, antwortete ich; aber was hast du für ein Urteil andererseits über das tyrannische Individuum im Hinblick auf eben dieselben Wahrnehmungen?

Daß es unter allen übrigen, sagte er, bei weitem das unglückseligste ist.

Dieser Ausdruck, bemerkte ich, ist hier noch nicht am rechten Platze.

Warum? fragte er.

Jener ist, sagte ich, meiner Meinung nach noch nicht der unglückseligste im höchsten Grade!

Aber wer denn sonst?

Folgender scheint dir vielleicht noch unglücklicher zu sein als jener...

Welcher?

Wer, fuhr ich fort, von Geburt mit einer Tyrannenseele begabt kein bürgerliches Leben verlebt, sondern das Unglück hat und von irgend einem schlimmen Zufall die Gelegenheit bekommt, zu einem Tyrannenthrone zu gelangen.

Ja, sagte er, ich vermute aus den vorhergehenden Andeutungen, daß du recht hast.

Gut, sagte ich, aber in dergleichen Dingen darf man sich nicht mit Mutmaßungen begnügen, sondern muß sie noch recht gründlich einer entsprechenden Untersuchung unterwerfen; denn sie betrifft den allerwichtigsten Gegenstand in der Welt: Himmel oder Hölle des Lebens.

Ja, ganz recht, sagte er.

So gib denn acht, ob ich gründlich verfahre: Mich deucht nämlich, wir müßten den Zustand jenes wirklichen Tyrannen gründlich einsehen, wenn wir bei unserer Untersuchung von dem Standpunkte folgender Leute ausgehen...

Vom Standpunkte welcher Leute denn?

Von dem jedes Einzelnen der Menschen im Privatleben, die als reiche Leute in Städten eine Menge von Sklaven besitzen; denn diese haben darin wenigstens mit den Tyrannen[342] eine Ähnlichkeit, daß sie über viele herrschen, nur die Zahl ist bei jenen größer.

Ja, das ist der Unterschied.

Dir ist doch bekannt, daß diese Leute ganz getrost leben und vor ihren Hausgenossen gar keine Furcht haben?

Was sollten sie auch fürchten?

Gar nichts, erwiderte ich; und du siehst auch die Ursache hiervon ein?

Freilich, weil ja die ganze Stadt jedem Einzelnen der Privaten Beistand leisten kann.

Richtig bemerkt, sagte ich; aber wie wird die Sache in folgendem Falle stehen? Wenn irgend einer der Götter einen einzigen Mann, der fünfzig oder mehrere Sklaven hätte, samt Frau und Kindern aus der Stadt nähme und ihn mit seiner übrigen Habe und seiner Sklavenzahl in eine Wüste versetzte, wo ihm gar niemand von den freien Menschen im Falle der Not zu Hilfe kommen könnte: in welcher und in wie großer Todesfurcht über sich, über Kinder und Frau wird dann dieser sich deines Erachtens vor seinen Sklaven befinden?

In der allerärgsten, meine ich, war seine Antwort.

Nicht wahr, er würde in die Notwendigkeit versetzt werden, nunmehr einigen selbst aus der Zahl der Sklaven zu schmeicheln, mancherlei Versprechungen zu machen, die Freiheit zu schenken, und zwar ohne allen Grund, und müßte nicht er, der Herr, sich als einen Schmeichler seiner Sklaven bloßstellen?

Ja, sagte er, das müßte er unbedingt tun, oder er müßte zugrunde gehen.

Wie würde es aber endlich aussehen, fuhr ich fort, wenn jener Gott noch viele andere als Nachbarn rings um ihn ansiedelte, die es nicht ertragen könnten, daß ein Mensch über seinen Mitmenschen den willkürlichen Herrn zu spielen sich anmaße, sondern, wenn sie irgend so einen erwischten, mit den äußersten Strafen dafür an ihm Rache nähmen?

Er würde, sagte er, wohl noch tiefer in dem ärgsten Elende sich befinden, wenn er ringsum von lauter Feinden bewacht würde.

Liegt nun nicht in einem ähnlichen Gefängnisse der mit einem angeborenen Charakter der oben beschriebenen Art[343] behaftete, von vielen und allerlei Ängsten und heißen Gelüsten erfüllte Tyrann, während er, von Natur voll von Vorwitz, allein von allen Bürgern der Stadt nirgendwohin verreisen noch sein Auge mit dem Anblicke von Festlichkeiten ergötzen kann, nach denen bekanntlich die übrigen Freien doch so große Lust haben, sondern, in seinem Hause vergraben, die größte Zeit seines Lebens wie ein Weib hinbringen muß, mit Neid im Herzen über die übrigen Bürger, wenn einer außer Land sich begibt und etwas Herrliches sieht?

Ja, sagte er, allerdings ist er ein solcher Gefangener.

Nicht wahr, um solche Maße von Übeln leidet ein Individuum noch mehr, das bei einer moralisch schlechten, d.h. dem tyrannischen Staate entsprechenden Verfassung seines Inneren (die du vorhin schon für das größte Unglück erklärtest) nicht im bürgerlichen Stande sein Leben verbringt, sondern von irgend einem Geschicke veranlaßt wird, einen wirklichen Tyrannenthron zu besteigen und, unfähig, sich selbst zu beherrschen, über andere zu herrschen sich unterfangen sollte: was gerade so wäre, wie wenn jemand mit einem krankenden, seiner selbst nicht mächtigen Körper nicht im stillen Bürgerleben bliebe, sondern sich veranlassen ließe, sein Leben in körperlichen Wettkämpfen und auf dem Schlachtfelde hinzubringen.

Ja, Sokrates, sagte er, ganz treffend und wahr ist dein Bild hier.

Nicht wahr, Freund Glaukon, fuhr ich fort, das ist nun erst der unglückseligste Zustand im höchsten Grade: im Vergleich zu dem von dir für den unglücklichst Lebenden erklärten Menschen lebt noch weit unglücklicher die auch auf einem Tyrannenthrone sitzende Tyrannenseele?

Ja, offenbar, sagte er.

Es ist also in der Wirklichkeit, selbst wenn er vor manchem Auge einen anderen Schein verbreitete, der auf einem wirklichen Tyrannenthrone sitzende Tyrannenmensch ein wirklicher Sklave im Dienste der größten Augendienerei und Sklaverei und ein Schmeichler gegen die Verworfensten; sodann kann er seine Begierden durchaus nicht befriedigen: im Gegenteil, wenn man seine gesamte Seele zu durchschauen versteht, so ist einem klar, daß er an den meisten Dingen den[344] größten Mangel leidet, daß er in Wahrheit arm ist, daß er sein ganzes Leben lang gedrückt, daß er von dem Stachel seiner Begierden beständig gefoltert und gepeinigt wird, wofern er ein Bild der Verfassung des von ihm beherrschten Staates ist, der er doch ganz gleicht, nicht wahr?

Ja, sicher, sagte er.

Nicht wahr, und zu diesen inneren Seelenqualen müssen wir nun dem Manne auch die noch hinzufügen, welche wir vor seiner Thronbesteigung erwähnten, daß er nämlich ursprünglich neidisch, perfid, ungerecht, freundlos, gottlos, jeder Schlechtigkeit Hehler und Pfleger sein und es infolge seiner Tyrannenschaft immer mehr als früher werden müsse, lauter moralische Übel, wodurch er selbst nicht nur der Allerunglücklichste ist, sondern auch nachher seine Umgebung dazu macht?

Keiner der Verständigen, meinte er, wird dir widersprechen.

Wohlan denn, sprach ich weiter, und gib nun einmal, wie z.B. der oberste Kampfrichter beiden Wettspielen tut endlich mir die Entscheidung, wer nach deiner Ansicht in der Glückseligkeit den ersten Rang hat, wer den zweiten, und weise sofort den übrigen nach einander, zusammen fünf an der Zahl, nach deiner Entscheidung den verdienten Platz an: dem philosophisch-königlichen, dem timokratischen, dem oligarchischen, dem demokratischen und dem tyrannischen Individuum!

Aber diese Entscheidung, sagte er, ist nicht schwer; denn gerade wie sie aufgetreten sind, so gebe ich ihnen wie Chören ihren Platz: in welchem Range einer in bezug auf moralische Tüchtigkeit und Schlechtigkeit steht, in demselben Range steht er auch in bezug auf Glückseligkeit und Unglückseligkeit.

Wollen wir nun einen Herold mieten, fuhr ich fort, oder soll ich selbst diese endliche Entscheidung ausrufen: »Der Sohn des Ariston erklärte den moralisch besten und gerechtesten Menschen auch allemal für den glückseligsten. Unter jenem versteht er aber den, der das treueste Bild des philosophischköniglichen Staates und König über seine eigene Begierlichkeit ist; dagegen ist der moralisch schlechteste und ungerechteste auch allemal der unseligste; dieser aber ist andererseits der, der die meisten Anlagen zu einem Tyrannen hat und sowohl sein Inneres wie auch den Staat tyrannisch beherrscht.«[345]

Ja, sagte er, dein Ausruf soll gelten.

Oder muß ich, fragte ich, infolge des Resultates unserer Untersuchung dem Ausrufe deines Urteiles noch beifügen: »Mögen solche Menschen allen Göttern und Menschen verborgen bleiben oder nicht?«

Ja, das mußt du, sagte er.

Gut also denn! sprach ich weiter. Da haben wir einmal den ersten Beweis unseres Satzes; ein zweiter soll, wenn es dir gefallen sollte, folgender sein...

Welcher ist dies?

Da, wie bekannt, erwiderte ich, auch die Seele jedes einzelnen Menschen drei Bestandteile hat, gerade wie ein Staat in drei Stände sich zerlegt, so läßt dieser psychologische Gesichtspunkt auch noch eine andere, von der ersten verschiedene Beweisführung zu.

Welche meinst du denn damit?

Folgende: Da es drei Seelenbestandteile gibt, so ergeben sich hieraus auch bei mir dreifache Vergnügungen, für jeden einzelnen Bestandteil eine eigene besondere; dann ebenso viele Bestrebungen und vorherrschende Richtungen der drei Seelenbestandteile.

Wie meinst du das? fragte er.

Der eine Seelenbestandteil, lehren wir, ist der, womit ein Mensch nach Wissenschaft strebt; der zweite, das Zornmütige, wodurch er das Feuer seines heftigen Gemüts namentlich im Zorn äußert; den dritten konnten wir wegen seiner Vielgestaltigkeit mit einem ihm eigentümlichen Namen nicht benennen, sondern wir gaben ihm den Namen von dem größten und stärksten Triebe, den er in sich enthielt: der »begehrliche« heißt er nämlich bei uns wegen seiner Heftigkeit in den auf Speise, Trank, Liebesgenuß und sonst auf dergleichen bezüglichen sinnlichen Begierden; ferner heißt er bekanntlich auch der »geldgierige«, weil sich durch Geld am meisten befriedigen lassen dergleichen Begierden.

Und ganz mit Recht, sagte er, heißt dieser dritte Seelenbestandteil so.

Nicht wahr, wenn wir in bezug auf dessen Lust und Liebe sagten, daß sie besonders auf den Gewinn gehe, so würden wir demnach uns auch auf eine hervorstechende Haupteigenschaft[346] bei diesem Ausdrucke stützen, um für uns selbst eine Bezeichnung zu haben, sooft wir diesen Seelenbestandteil ausdrücken wollen, und wenn wir ihn daher den geld- und gewinngierigen nennen, so hat diese Benennung ihre Richtigkeit?

Ja, sagte er, ich wenigstens glaube es.

Wie sieht es ferner mit dem feurigen und zornmütigen Seelenbestandteil aus? Von ihm dürfen wir sagen, daß die Lust seiner Bestrebung im allgemeinen immer auf Machthaben, Siegen und Berühmtsein gerichtet sei?

Ja, sicher.

Wenn wir ihn demnach den sieg- und ehrgierigen nennten, würde dieser Name wohl treffend sein?

Ja, ganz treffend.

Drittens endlich, in betreff des Seelenteiles, womit wir lernen, ist doch aller Welt offenbar, daß sein Vergnügen auf das Wissen der eigentlichen und ewigen Wahrheit ganz und gar immer hinzielt, und daß diesem unter jenen Seelenteilen am wenigsten an Geld und Ruhm gelegen ist?

Bei weitem am wenigsten.

Wenn wir ihn nun den lern- und wißbegierigen hießen, so würden wir ihm seine charakteristische Benennung geben?

Allerdings.

Nicht wahr, fuhr ich fort, und die vorherrschende Richtung hat in den Seelen bei einigen bald dieser, bei einigen ein anderer jener Seelenbestandteile, wie es sich eben trifft?

So ist's, sagte er.

Aus diesen Gründen dürfen wir offenbar nun auch behaupten, daß es vornehmlich drei Arten von Menschen gebe: eine wißbegierige, eine siegbegierige, eine gewinnbegierige?

Ja, gewiß.

Und also auch drei Arten von Seelenvergnügungen, d.h. jeder jener drei Menschenarten steht eine Art von Vergnügen zu Gebote?

Ja, gewiß.

Wenn du nun, fuhr ich fort, drei solche Menschen, der Reihe nach einen jeden einzeln, fragen wolltest, welche von jenen Lebensarten die vergnügteste sei, – so weißt du, daß ein jeder die seinige besonders herausstreichen würde? Der Geldgierige wird behaupten, daß im Vergleiche mit dem Vergnügen bei dem[347] Gewinnen das Vergnügen des Geehrtseins und das des Studierens gar nichts wert sei, ausgenommen wenn eins davon Geld eintrage.

Richtig, sagte er.

Und was wird der Ehrbegierige sagen? fragte ich. Wird er nicht das Vergnügen am Gelde für ein niederträchtiges, und so auch das aus dem Studieren entspringende, falls nicht eine Wissenschaft auch Ehre mit sich brächte, für Rauch und Tand erklären?

Ja, so geht's, war seine Antwort.

Und endlich der Wißbegierige, fuhr ich fort, wofür müssen wir glauben, daß der alle übrigen Vergnügen hält im Vergleich mit dem Vergnügen, das Wesen der Wahrheit zu erkennen und in einem solchen Gegenstande immer mit dem Forschen danach beschäftigt zu sein? Wird er nicht die übrigen Vergnügen von dem eigentlichen Vergnügen himmelweit entfernt halten? Und wird er die Vergnügen der anderen nicht in der Tat nur »notdürftige« nennen, weil er die übrigen gar nicht brauchte, wenn keine Notdurft dazu zwänge?

Da brauchen wir nicht zu glauben, sagte er, das müssen wir als Philosophen wohl wissen.

Wenn nun bei solcher Bewandtnis, sprach ich weiter, die Vergnügungen und die Lebensweise selbst jeder dieser Menschenarten mit einander in Streit geraten, ich will nicht sagen in bezug auf die Frage, wer moralischer und unmoralischer, wer schlechter und besser lebe, sondern rein hinsichtlich des größeren subjektiven Vergnügens und geringeren Schmerzes: wie könnten wir da wissen, wer von ihnen am meisten recht hat?

Darauf, sagte er, weiß ich keine rechte Antwort zu geben.

Nun, so sieh einmal die Sache von folgender Seite: Mit was muß man die Dinge beurteilen, die richtig beurteilt werden sollen? Nicht etwa mit Erfahrung sowie mit der Tätigkeit des Geistes und mit Verfahren durch Begriffe? Oder könnte jemand noch ein besseres Beurteilungsmittel besitzen als diese hier genannten?

Unmöglich, sagte er.

So gib nun acht: Wenn von den erwähnten drei Klassen drei Menschen vorhanden wären, – welcher wird da in den[348] sämtlichen Vergnügungen, von denen wir sprachen, erfahrener sein? Scheint dir etwa der Gewinngierige durch das Studium der reinen Wahrheit erfahrener zu sein in dem aus dem Wissen entspringenden Vergnügen, als der Wißbegierige in dem aus dem Gewinnen entspringenden Vergnügen?

Da ist ein großer Unterschied, sagte er: denn bei dem Wißbegierigen war von Jugend auf ein unwillkürlicher Naturzwang vorhanden, sich von den Vergnügungen seines Gegners einen Geschmack zu verschaffen; bei dem Gewinngierigen dagegen ist kein Naturzwang vorhanden, das wahre Wesen der Dinge zu studieren und von dem daraus entstehenden Vergnügen sich einen Geschmack oder eine Erfahrung zu verschaffen, wie süß es ist: im Gegenteil, auch bei allem Fleiß und Eifer würde es ihm doch nicht leicht fallen.

Bei weitem übertrifft also, sagte ich, der Wißbegierige den Gewinngierigen an Erfahrung in den beiderseitigen Vergnügungen.

Ja freilich, bei weitem.

Und ferner, wie verhält er sich in dieser Beziehung zum Ehrgierigen? Wird er, der Wißbegierige, unerfahrener sein in dem aus dem Geehrtwerden entspringenden Vergnügen, als jener es in dem vom Weisesein entstehenden ist?

Nein, sagte er, denn Ehre folgt allen von selbst, wenn ein jeder sich in der Tätigkeit auszeichnet, der er sich hingegeben hat: denn so wird z.B. der Reiche von vielen geehrt, so der physisch Starke, so der Lebens- und Staatskluge, woraus also folgt, daß, was das Geehrtwerden anbelangt, alle Welt wohl von dem daraus entspringenden Vergnügen erfährt, was es für ein Ding ist; aber von dem aus dem Schauen des wahren Seins der Dinge hervorgehenden Vergnügen zu kosten ist keinem anderen möglich als dem Wißbegierigen.

Was also erstlich Erfahrung betrifft, sagte ich, so urteilt dieser unter jenen drei Menschen am richtigsten.

Bei weitem.

Zweitens wird er nur seine überlegene Erfahrung haben können in Verbindung mit der denkenden Tätigkeit seines Geistes.

Wie sonst?

Und drittens endlich das Werkzeug, womit man urteilen muß, dies befindet sich nicht bei dem Gewinngierigen, nicht bei[349] dem Ehrgierigen; sondern es befindet sich nur bei dem Wißbegierigen.

Was ist das für ein Werkzeug?

Mittels Begriffen, sagten wir doch, müsse geurteilt werden, nicht wahr?

Ja.

Begriffe sind aber vorzüglich bei dem Wißbegierigen das Werkzeug, womit er seinen Beruf erfüllt.

Allerdings.

Nicht wahr, wenn durch Reichtum und Gewinn die Dinge sich am besten beurteilen ließen, so würde notwendig das am wahrsten sein, was der Gewinngierige lobt und tadelt?

Ja, dann ganz notwendig.

Ferner, wenn durch Ehre sowohl wie durch Sieg und durch physische Mannesstärke, – nicht wahr, in diesem Falle würde dann das am wahrsten sein, was der Ehr- und Siegbegierige lobt und tadelt?

Offenbar.

Nicht wahr, dieweil aber nun es durch Erfahrung, durch denkende Tätigkeit des Geistes und durch das Vermögen des Verstandes, mit Begriffen zu verfahren, geschieht, so muß...?

... notwendig, sagte er, das das Wahrste sein, was der Freund des Wissens und der Verstandestätigkeit in seinem Lobe erhebt.

Unter den drei möglichen Vergnügen also wäre das jenes Seelenbestandteiles, wodurch wir nach Wissen streben, das allervergnügteste, und das Leben dessen, in dem von uns Menschen jener wißbegierige Seelenbestandteil das Regiment führt, auch das allervergnügteste?

Warum sollte es das nicht sein? meinte er. Als kompetenter Schätzer schätzt ja seine eigene Lebensweise der denkende Freund des Wissens!

Welcher Lebensweise aber, fragte ich weiter, und welchem Vergnügen weist der Richter den zweiten Rang zu?

Offenbar dem des Kriegshelden und Ehrgierigen; denn es steht dem jenes Wißbegierigen näher als das des Geldgierigen.

Den allerletzten Rang also demzufolge dem Vergnügen des Gewinngierigen.

Wie anders? sagte er.

Dies wären also zwei Beweise hinter einander, und zweimal[350] hätte der Gerechte über den Ungerechten den Sieg davongetragen; zum dritten, zu guter Letzt, auf olympische Weise dem rettenden und olympischen Zeus die schuldige Dankspende weihend, sieh nun, daß das Vergnügen der übrigen Menschenarten, das des vernünftigen Freundes des Wissens ausgenommen, gar kein echtes, kein reines, sondern nur ein Schatten von Vergnügen ist, wie ich von einem der Weisen gehört zu haben glaube. Und dies würde dann doch die größte und entscheidendste der Niederlagen sein.

Ja, freilich, aber welchen Beweis meinst du hiermit?

Ich werde ihn, sagte ich, auf folgende Weise finden, indem du durch Antworten zugleich suchen hilfst.

So frage denn! sagte er.

Nun, so antworte mir, sprach ich: Geben wir zu, daß Schmerz das Gegenteil von Vergnügen sei?

Ja, sicher.

Nicht wahr, auch weder Freude noch Schmerz zu haben, ist etwas?

Ja, freilich.

Als Mittelding zwischen beiden (Freude und Schmerz) eine gewisse Pause hinsichtlich dieser Zustände der Seele? Oder nennst du es nicht so?

Ja, sagte er.

Erinnerst du dich da nicht, fuhr ich fort, der Reden der Kranken, die sie im Munde führen, wenn sie krank daniederliegen?

Welcher Reden denn?

Wie doch gar kein Vergnügen über die Gesundheit gehe; ja vor ihrer Krankheit hätten sie gar nicht gewußt, daß die Gesundheit das süßeste Vergnügen sei.

Ja, sagte er, ich erinnere mich.

Nicht wahr, auch die, welche von einem heftigen Schmerz befallen sind, hörst du sagen, daß nichts angenehmer sei, als wenn der Schmerz aufhört?

Ja.

Auch viele andere ähnliche Lagen der Menschen nimmst du wohl wahr, bei welchen sie im Momente des Schmerzes den schmerzenlosen Zustand und die Ruhe hiervor als das größte Vergnügen preisen, nicht den Zustand der Freude.

Ja, sagte er, freilich ist dieser Zustand, die Ruhe, in jenem[351] Momente wohl ein Vergnügen und der Gegenstand des sehnlichsten Verlangens.

Ferner, wenn einer aufhört, Freude zu empfinden, so wird ihm bekanntlich die Ruhe vom Vergnügen auch schmerzlich sein.

Allerdings, sagte er.

Was nach unserer Erklärung von vorhin in der Mitte von beiden lag, die Ruhe, das wird demnach zuweilen beides sein, Schmerz und Vergnügen.

Ja, wie es scheint.

Ist es aber nur möglich, daß das, was keines von beiden ist, beides werde?

Ich meine, nicht.

Noch ein weiterer Grund: Das Vergnügende wie das Schmerzliche sind doch bei ihrer Entstehung in der Seele eine Art von Bewegung, oder nicht?

Ja.

Der weder schmerzliche noch vergnügte Zustand, zeigte der sich licht doch eben als Ruhe und in der Mitte von beiden befindlich?

Ja, freilich.

Wie kann es nun richtig sein, vernünftigerweise Schmerzlosigkeit für ein Vergnügen zu halten und Freudlosigkeit für etwas Widerwärtiges?

Keineswegs.

Dieser Mittelzustand, die Ruhe, fuhr ich fort, ist also nicht wirklich, sondern scheint nur ein Vergnügen im Vergleich mit dem Schmerzlichen, und scheint etwas Schmerzliches im Vergleich mit dem Vergnügenden, und bei allen diesen Erscheinungen gibt es mit bezug auf wirkliches Vergnügen gar nichts Reelles, sondern nur ein eitles Gaukelspiel.

Ja, sagte er, wie wenigstens unsere Schlußweise hier dartut.

Damit du nicht, sagte ich weiter, noch etwa im Augenblick an der Meinung hängen bleibst, Vergnügen und Schmerz hätten von Natur ihr Wesen darin, daß jenes im Aufhören von Schmerz und dieser im Aufhören von Vergnügen bestehe, so schaue denn nun noch auf Vergnügungen, die nicht aus Schmerzen entspringen!

Wohin denn soll ich schauen, fragte er, und was für welche meinst du?[352]

Es gibt deren viele andere, erwiderte ich; besonders aber kannst du es sehen, wenn du die Vergnügungen bei den Gerüchen in Betracht ziehen willst. Denn diese kommen einem ohne vorhergegangenen Schmerz plötzlich in außerordentlicher Größe und hinterlassen, wenn sie aufhören, keinen Schmerz.

Ganz richtig, sagte er.

Demnach also dürfen wir uns nicht weismachen, reines echtes Vergnügen bestehe in Entledigung von Schmerz, auch nicht, Schmerz bestehe in Entledigung von Vergnügen.

Nein, das dürfen wir nicht.

Aber, fuhr ich fort, von den durch den Körper zur Seele gelangenden sogenannten Vergnügungen sind freilich die meisten und größten von der eben erwähnten Art, nämlich nichts anderes als gewisse Befreiungen von Schmerzen.

Ja, freilich sind sie das.

Und nicht wahr, die vor dem Eintreten dieser aus Erwartung entstehenden Vorfreuden und Vorschmerzen verhalten sich ebenso?

Ebenso.

Weißt du nun, fuhr ich fort, wie die sämtlichen körperlichen Vergnügen beschaffen sind und womit sie die größte Ähnlichkeit haben?

Womit? fragte er.

Du bist doch, sagte ich, der herkömmlichen Meinung, daß es in der Welt ein Oben, ein Unten und eine Mitte gibt?

O ja.

Glaubst du nun, es werde jemand, wenn er von dem Unten zur Mitte emporgebracht würde, etwas anderes meinen, als daß er nach dem Oben gebracht würde? Und wenn er in der Mitte stände und hinabschaute, woher er heraufgefahren, wird er anderswo sich zu befinden meinen als in dem Oben, wenn er das wahre Oben noch nicht gesehen hat?

Nein, wahrhaftig, antwortete er, bei Zeus, ich glaube nicht, daß er eine andere Meinung hat.

Und wenn er, sagte ich weiter, wieder nach Unten gebracht würde, so würde er auch glauben, nach Unten gebracht zu werden, und diesmal auch richtig glauben?

Ohne Zweifel.[353]

Nicht wahr, jene leidigen Erfahrungen müßte er machen, weil er keine Kunde vom wahrhaft Oben, Mitten und Unten hat?

Ja, offenbar.

Kann es dir demnach noch auffallen, wenn auch des wahren Wesens der Dinge Unkundige überhaupt in vielen anderen Stücken keine gesunden Vorstellungen haben, insbesondere in bezug auf Vergnügen, Schmerz und das Mittelding zwischen ihnen sich in einer solchen Lage befinden, daß sie nur dann, wenn sie in das Schmerzliche versetzt werden, eine Wahrheit glauben und in der Tat Schinerz empfinden; daß sie aber, wenn sie von Schmerz in den Mittelzustand versetzt werden, den festesten Glauben haben, sie seien bei der Stillung ihrer Lust und Vergnügung angelangt: daß sie also aus Unerfahrenheit in dem wahren Vergnügen bei der Vergleichung der Schmerzlosigkeit mit dem Schmerze sich ebenso täuschen, wie es Leuten aus Unbekanntschaft mit der weißen Farbe geht, wenn sie graue gegen schwarze betrachten?

Nein, wahrhaftig, sagte er, ich kann es nicht mehr auffallend finden; ich würde es vielmehr auffallend finden, wenn es nicht so wäre.

Bedenke die Sache, fuhr ich fort, nun noch aus folgendem Gesichtspunkte: Sind nicht Hunger und Durst gewisse Leerheiten des körperlichen Zustandes?

Was denn sonst?

Und sind nicht Unwissenheit und Unverstand gleichfalls auch eine Leerheit in bezug auf den Seelenzustand?

Ja, sicher.

Angefüllt würde also sowohl, wer Speise zu sich nimmt, als auch, wer Verstand bekommt?

Ohne Zweifel.

In welchem Falle hat aber nun Anfüllung in einem wirklicheren Grade statt: wenn sie mit etwas von höherem Sein oder wenn sie mit etwas von minder reellem Sein geschieht?

Offenbar, wenn sie mit etwas von höherem Sein geschieht.

Welche von beiden Hauptlebensbedingungen scheinen nun nach deiner Meinung des höheren reinen Seins teilhaftiger zu sein: etwa die wie Brot, Trank, Fleisch, überhaupt sämtliche leibliche Nahrung; oder das, was in sich begreift wahre Vorstellung, Wissenschaft, Vernunfteinsicht und überhaupt wiederum[354] jede geistige Stärkung! Bilde aber dein Urteil hier auf folgende Weise: Das an das immer Gleichbleibende, Unsterbliche und an die ewige Wahrheit sich Haltende, das selbst so Beschaffene und in einem solchen Entstehende, ist das ein wesenhafteres Sein als das mit dem niemals sich Gleichbleibenden und Vergänglichen Verwandte, selbst so Beschaffene und auch in einem solchen Entstehendes.

Ein weit wesenhafteres Sein, sagte er, hat das mit dem ewig Gleichbleibenden Verwandte.

Ist nun das Sein des nicht Gleichbleibenden teilhaftiger des ewig wesenhaften Seins als die Wissen schaft?

Keineswegs.

Ferner teilhaftiger als ewige Wahrheit?

Auch das nicht.

Wenn aber weniger teilhaftig an Wahrheit, nicht auch weniger teilhaftig an ewig wesenhaftem Sein?

Notwendig.

Nicht wahr, man kann demnach überhaupt den Satz aufstellen: Die auf die Nahrung des Körpers gehenden Lebenbedingungen sind weniger der Wahrheit und des wesenhaften Seins teilhaftig als die Lebensbedingungen, die sich andererseits auf die Nahrung der Seele beziehen?

Ja, bei weitem.

Und glaubst du nicht dasselbe vom menschlichen Körper selbst im Vergleich mit der Seele?

Ja.

Nicht wahr, daraus folgt, daß das, was sich nur von Dingen höheren Seins anfüllen läßt und selbst ein höheres wesenhafteres Sein ist, auch wesenhafter und in höherem Grade angefüllt wird im Vergleich mit dem, was sich mit Dingen geringeren Seins anfüllt und selbst auch ein geringeres Sein ist?

Ohne Zweifel.

Wenn das Angefülltwerden mit dem seiner Natur Zuträglichen Vergnügen heißt, so muß demnach auch das wesenhaft und von Dingen höheren Seins Ange füllte durch wahres Vergnügen eine wesenhaftere und wahrere Freude gewähren; dagegen kann das an minder echtem Sein Teilnehmende auch minder wahr und solid angefüllt werden und daher auch nur an einem minder haltbaren und minder wahren Vergnügen teilhaben.[355]

Ja, ganz notwendig, sagte er.

Diejenigen also, welche im Reich des Gedankens und der geistigen Stärkung Fremdlinge, bei Schmausereien aber und dergleichen Freuden des Fleisches immer zu Hause sind, die bewegen sich also nach unserer Sprache nur nach Unten, von da wiederum nach der Mitte und fahren in dieser Region ihr ganzes Leben lang herum; über diese hinaus zu dem wahrhaft Oben haben sie weder je aufgesehen noch darauf einmal losgesteuert, haben niemals sich mit dem höheren wesenhaften Sein wirklich angefüllt, nie ein unvergängliches und reines Vergnügen gekostet: sondern nach Art der Rinder immer mit dem Blicke nach Unten gerichtet, zur Erde und zur Krippe gebückt, liegen sie nur auf den Weideplätzen, indem sie sonst nichts tun als sich den Magen anfüllen, sich bespringen, wegen des gegenseitigen Wegschnappens dieser Genüsse mit eisernen Hörnern und Hufen sich stoßen, treten und infolge der Unersättlichkeit ihrer Begierden sich den Tod antun, eben weil sie mit den Dingen besseren Seins nicht sich, nicht das bessere Sein ihres Selbsts, nicht den das wahrhafte Sein festhaltenden Teil ihrer Seele angefüllt haben.

Ganz wie durch prophetische Eingebung, sagte Glaukon, schilderst du, Sokrates, das Leben des großen Sünderhaufens!

Ist hiervon nicht notwendige Folge, daß sie nur Vergnügen nachlaufen, die, mit Schmerzen gemischt, nur Trug- und Schattenbilder des wahren Vergnügens sind und nur durch Nebeneinanderstellung von Freuden und Schmerzen eine reizende Farbe bekommen, so daß beide unwiderstehlich scheinen, den Unverständigen wütende Gelüste zu sich einflößen und ein Gegenstand des Streites werden, so wie etwa das Trugbild von der Helena nach dem Berichte des Stesichoros auch aus Unbekanntschaft mit dem wahren Originale der Gegenstand des Kampfes wurde?

Ja, sagte er, ganz notwendig muß es so gehen.

Ferner, wie wird's mit dem zornmütigen Seelenbestandteil und seinen Vergnügen stehen? Müssen nicht notwendig zwar andere, aber ähnliche Folgen sich einstellen, wenn er eben diesem Seelenteile allein frönt und entweder neidisch aus Ehrgeiz, oder gewalttätig aus Siegeslust, oder rachsüchtig aus Reizbarkeit, der Stillung seines Durstes nach Ehre und Sieg,[356] nach Rache usw. nachrennt, ohne Zuziehung von Vernunft und Überlegung?

Ja, sagte er, dergleichen Folgen müssen notwendig auch in bezug auf diesen Seelenbestandteil sich einstellen.

Nach Darlegung der Nichtigkeit der Vergnügen der zwei niederen Seelenbestandteile, fuhr ich fort, wie steht es nun mit dem wahren Vergnügen? Dürfen wir zuversichtlich die Schlußfolgerung ziehen: sämtliche sowohl auf den gewinn- wie auf den sieggierigen Seelenbestandteil sich beziehenden Begierden, die unter Leitung des sittlichen Wesens und der Vernunft und mit Hilfe dieser nur diejenigen Vergnügen verfolgen und wählen, die der vernünftige Teil ihnen zeigt, werden nicht nur die wahrsten Vergnügen erlangen, soweit es ihnen möglich ist, an der Hand der Wahrheit wahre zu erlangen, sondern auch die ihrer Eigentümlichkeit entsprechendsten, somit besten, wofern überhaupt das der Eigentümlichkeit eines jeden Entsprechendste auch das Beste ist?

Ja, sagte er, unstreitig besteht darin sein Eigentümlichstes.

Wenn also von dem wißbegierigen Seelenbestandteile die Seele sich samt und sonders leiten läßt und nicht dagegen sich auflehnt, so kann jeder einzelne Teil derselben überhaupt seine von der Natur angewiesene Bestimmung erfüllen, d.h. gerecht sein; sodann kann ein jeder auch noch dazu die ihm eigentümlichen Vergnügen genießen, d.h. die möglichst besten und wahrsten.

Ja, offenbar.

Wenn aber dagegen einer von den übrigen zwei Seelenbestandteilen die Oberhand gewinnt, so ist die Folge davon, daß er nicht nur nicht das ihm eigentümliche Vergnügen findet, sondern daß er auch noch dazu die übrigen zwingt, ein ihrer Natur fremdes und unwahres Vergnügen zu verfolgen.

So ist's, sagte er.

Und nicht wahr, je weiter etwas von Weisheitsstreben und Vernunft entfernt ist, um so mehr hat es auch die besagte Wirkung in sich?

Jawohl.

Ist aber nun nicht am weitesten von Verstand und Vernunft entfernt, was auch von Gesetz und moralischer Ordnung am weitesten entfernt ist?[357]

Ja, offenbar.

Waren aber nach unserem obigen Beweise die im Gefolge des Eros und der Tyrannenseele befindlichen Begierden nicht am weitesten davon entfernt?

Bei weitem.

Am wenigsten aber die des vernünftig königlichen und sich selbst beherrschenden Individuums?

Ja.

Am meisten wird demnach auch, denke ich, der Tyrann sowohl von dem an sich wahren als auch von dem ihm eigentümlichen besten Vergnügen entfernt stehen, am wenigsten aber der andere, ihm Gegenüberstehende?

Notwendig.

Daraus folgt nun, fuhr ich fort: Am unvergnügtesten lebt die Tyrannenseele, am vergnügtesten aber die vernünftig königliche.

Ja, mit der größten Notwendigkeit.

Weißt du nach diesem Beweise nun auch, fragte ich weiter, den bestimmten Grad, um wieviel das Leben einer Tyrannenseele unvergnügter ist als das der vernünftig königlichen?

Wenn du es mir sagst, war seine Antwort.

Es gibt drei Hauptarten von Vergnügen nach dem Ergebnis unserer Untersuchung: eine von echten und zwei von unechten; die Tyrannenseele ist nun dadurch, daß sie Gesetz und Vernunft absichtlich aus dem Wege geht, noch weit über die Grenze der unechten hinausgegangen und haust dort gewissermaßen mit den Vergnügen eines Sklaven und gemeinen Söldners. Und wie weit er nun vom wahren Vergnügen entfernt ist, kann nun gar nicht leicht ausgedrückt werden, als vielleicht folgendermaßen...

Wie denn? fragte er.

Der Abstand der Tyrannenseele von dem oligarchischen Individuum betrug drei; denn in der Mitte von ihnen stand das der Demokratie ähnliche Individuum.

Ja.

Also wird sie auch, wenn das Frühere wahr ist, mit einem Schattenbild von Vergnügen leben, welches an Wahrheit um das Dreifache hinter dem oligarchischen Menschen steht?

So ist's.

Aber das der Oligarchie entsprechende Individuum hatte von[358] dem vernünftig königlichen Charakter gleichfalls einen Abstand von drei, wenn wir das aristokratische Individuum (im edelsten Sinne des Wortes) und das philosophisch-königliche als eines setzen.

Ja, der betrug auch drei.

Also, fuhr ich fort, steht der Tyrann in Summa um das dreimal Dreifache von dem wahren Vergnügen entfernt.

Es scheint so.

Als Fläche wird also, sagte ich, das Schattenbild des Vergnügens eines Tyrannen einen dieser Längezahl entsprechenden Inhalt haben?

Ja, offenbar.

Und wenn man sie potenziert bis zur dritten Vermehrung, so kommt ganz augenfällig heraus, wie groß der Abstand ist.

Ja, sagte er, augenfällig wenigstens für einen Rechenmeister.

Nicht wahr, wenn einer umgekehrt die Größe des Abstandes des vernünftig königlichen Individuums von dem Tyrannen hinsichtlich der gediegenen Wahrheit seines Vergnügens mathematisch ausdrücken wollte, so würde er nach angestellter Multiplikation finden, daß ersterer siebenhundertundneunundzwanzigmal vergnügter, der Tyrann aber um eben diesen Abstand unglücklicher lebe.

Eine ganz unvergleichliche Berechnung der Differenz, sagte er, zwischen beiden Individuen, dem Gerechten und dem Ungerechten, in bezug auf Vergnügen und Schmerz hast du da vorgebracht!

Und doch, sagte ich, eine sowohl richtige wie den Lebensweisen beider ganz entsprechende Zahl, wenn jenen Lebensweisen Tage, Nächte, Monate und Jahre zukommen.

Und die, sagte er, kommen ihnen doch gewiß entsprechend zu!

Wenn nun der gute und gerechte Mensch den schlechten und ungerechten in solchem Grade an Vergnügen übertrifft, um wieviel unendlich mehr muß er ihn erst an innerer und äußerer Bildung, an moralischem Adel, an geistiger Stärke übertreffen!

Freilich unendlich, bei Zeus! sagte er.

Gut denn! sprach ich weiter. Da wir nun an diesem Punkte unserer Aufgabe angelangt sind, wollen wir auf diejenige Behauptung zurückkommen, die am Anfang von einem Herrn[359] aufgestellt wurde und auf deren Veranlassung wir nach langer Untersuchung hierher zu diesem Resultate gekommen sind. Es lautete aber jene Behauptung: Unrechttun sei vorteilhaft dem meisterhaft Ungerechten, wenn er dabei den Schein des Gerechten habe. Oder lautete sie nicht so?

Ja, so lautete sie.

Nun, sagte ich, dann wollen wir mit jenem Herrn noch ein Wort reden, nachdem wir durch unsere Untersuchung sowohl hinsichtlich des Unrechttuns als des Rechttuns darüber einig sind, welche eigene Wirkung jedes von beiden an und für sich hat.

Wie denn? fragte er.

Indem wir in Gedanken ein Bild von der Seele aufstellen, damit der, welcher jene Behauptung äußerte, recht augenfällig sieht, was er damit für Dinge behauptet.

Was für ein Bild denn? fragte er.

Eines von solchen Wesen, antwortete ich, wie es solche der Fabel nach vor alters gab, wie z.B. das Bild von der Chimaira, von der Skylla, vom Kerberos, und wie noch von vielen anderen gefabelt wird, daß bei ihnen viele Tiergestalten in eine einzige verwachsen gewesen seien.

Ja, sagte er, freilich wird so gefabelt.

So schaffe dir denn einmal erstlich eine Gestalt eines mannigfach zusammengesetzten und vielköpfigen Ungeheuers, das rundum Köpfe von teils zahmen, teils wilden Tieren hat, dabei imstande ist, sich in alle diese Tiere zu verwandeln und auch alle diese Tiere aus sich zu erzeugen.

Dazu erfordert's, sagte er, einen erstaunlich geschickten Schöpfer: da aber indessen ein Gedanke sich leichter als Wachs behandeln läßt, so soll jenes Bild in Gedanken geschaffen sein.

So schaffe dir denn zweitens eine Gestalt eines Löwen, drittens in Menschengestalt einen Engel; denke dir dabei die erste Gestalt bei weitem als die größte, die zweite auch der Größe nach als die zweite.

Die zwei letzteren Gestalten, sagte er, sind schon leichter: sie sind geschaffen!

Diese drei Geschöpfe verbinde nun zu einem, so daß sie irgendwie mit einander verwachsen sind!

Es ist geschehen, sagte er.[360]

Nun umhülle sie mit der Gestalt eines Einzelwesens, nämlich mit der eines Menschen, so daß es dem, der nicht in das Innere zu schauen imstande ist, sondern bloß auf die äußere Umhüllung sieht, nur als ein einziges lebendes Wesen erscheint, nämlich ein Mensch.

Die Umhüllung ist in Gedanken geschehen, sagte er.

So lasse uns denn dem Herrn mit der Behauptung, diesem Menschen sei Unrechttun vorteilhaft und Rechttun unzuträglich, bedeuten, daß er hiermit nichts anderes sage, als es nütze demselben, wenn er durch Schwelgerei das vielgestaltige Ungeheuer, den Löwen und das, was zum Löwen gehört, stark machte, wenn er dagegen den Engel durch Hunger abzehrte und entkräftete, so daß dieser sich müßte hinschleppen lassen, wohin jedes von jenen beiden Ungetümen wollte, und wenn er nicht eines an den anderen gewöhnte und mit ihm befreundet machte, sondern sie einander sich zerbeißen, bekämpfen und auffressen ließe.

Ja, sagte er, das würde ganz der Sinn dessen sein, was der behauptet, der das Unrechttun anpreist.

Und nicht wahr, wer andererseits behauptet, gerechte Handlungen seien vorteilhaft, der würde damit sagen, man müsse in Tat und Wort sich so betragen, daß dadurch in jenem Menschen der Engel seiner Brust immer kräftiger werden und auf die Zähmung jenes vielköpfigen Ungeheuers seine Sorgfalt verwenden könne, indem er dem Ackerbauer gleich die guten Triebe nährt und pflegt, die wilden am Emporwuchern hindert, an dem Mut des Löwen sich einen Gehilfen erzieht, für die Bildung aller Seelenbestandteile zusammen Sorge trägt, sie untereinander sowohl wie sich selbst befreundet und in diesem Zustand erhält?

Ja, dies würde andererseits der Sinn dessen sein, was der behauptet, der die Gerechtigkeit preist.

In jeder Beziehung also würde der Lobpreiser der gerechten Handlungen haltbare Wahrheiten behaupten, der der ungerechten dagegen unhaltbare Unwahrheiten. Denn man mag auf Vergnügen, auf guten Ruf, auf Vorteil sehen, – so behauptet der Lobredner der Gerechtigkeit Wahrheit, der Tadler derselben aber gar nichts Haltbares und tadelt, ohne zu kennen, was er tadelt.[361]

Nein, sagte er, das kennt er wohl durchaus nicht.

Wir wollen also jenem Herrn mit guten Worten eine andere Ansicht beibringen, denn er ist auf dem Irrwege, ohne zu wissen, was er tut, und wir wollen an ihn die Frage richten: »O Bester, sollten nicht auch die moralischen und unmoralischen Handlungen aus solchen Gründen ihre herkömmliche Geltung bekommen haben? Haben die moralischen Handlungen einerseits ihre Geltung nicht darum, weil sie die tierischen Bestandteile unserer Natur unter den Engel oder vielmehr unter das Göttliche bringen? Andererseits die unmoralischen, tragen sie ihren Namen nicht darum, weil sie den edlen Teil der Seele in die Sklaverei des wilden bringen? Wird jener Herr Ja dazu sagen oder Nein?«

Ja, sagte er, wenn er mir folgen wollte.

Kann es also, fuhr ich fort, nach dieser Untersuchung noch jemanden geben, bei dem es als Vorteil gelten könnte, mit Ungerechtigkeit Gold zu erhaschen, wenn dabei der Fall der ist, daß er mit dem Gewinne des Goldes zugleich das Edelste seines Selbst in die Dienstbarkeit des Schlechtesten versetzt; Oder in anderen Worten: Wenn jemand für Gold einen Sohn oder eine Tochter in die Sklaverei, und zwar in das Haus wilder und schlechter Menschen, verkaufte, so wäre dies für ihn kein Vorteil, und wenn er noch soviel bekäme: wenn er aber erst das Göttlichste seines eigenen Selbst unter die Knechtschaft des Ungöttlichsten und Abscheulichsten bringt, ohne daß er es sich im geringsten dauern läßt, – ist er da nicht unglücklich und bringt er da für Gold nicht ein bei weitem noch grausameres Opfer als Eriphyle, die für ihres Mannes Leben jene bekannte goldene Kette annahm?

Ja, erwiderte Glaukon, ein bei weitem noch grausameres; denn ich will statt jenes Mannes Antwort geben.

Nicht wahr, was die einzelnen moralischen Gebrechen betrifft, so gibst du demnach auch zu, daß sinnliche Ausschweifung der Begierlichkeit von alters her aus solchen Gründen als tadelnswert gilt, weil in solchem Wandel jenes böse, große und vielgestaltige Ungeheuer allzu freies Spiel bekommt?

Offenbar, sagte er.

Ferner: Roher Übermut sowohl wie empfindelnder Mißmut wird getadelt, wenn der löwenartige und bissige Seelenbestandteil[362] übertrieben wird und mit der Vernunft nicht harmonisch gestimmt wird, nicht?

Ja, gewiß.

Weiter: Üppigkeit und Weichlichkeit, werden sie nicht in Rücksicht der übermäßigen Herabstimmung und Abspannung eben dieses Seelenteiles getadelt, wenn sie Feigheit in ihm hervorbringt?

Warum sonst?

Ferner: Die Laster des Schmeichlers und der niederträchtigen Bedientenseele, werden die nicht getadelt, weil dann jemand wieder eben jenen Seelenbestandteil, den stolzen Zornmut, unter das gemeine Ungetüm bringt, wegen des Geldes und der Freßgierde jenes Ungetüms ihn treten läßt und von Jugend an gewöhnt, statt eines Löwen ein Affe zu werden?

Ja, sicher, sagte er.

Stubenhockerei und Handwerksweise, weshalb, meinst du, bringen sie Schimpf und Schande mit sich? Wohl wegen etwas anderem, als weil jemand den edelsten Seelenbestandteil von Geburt schon so schwach hat, daß er damit die wilden Tiere in sich nicht beherrschen kann, sondern ihnen damit dienen muß und nur die Künste für ihren Kitzel und ihre Behaglichkeit zu lernen vermag?

Ja, offenbar, sagte er.

Nicht wahr, damit auch der unvernünftige gemeine Mensch unter gleicher Herrschaft stehe wie der vernünftig edelste, dürfen wir wohl behaupten, er müsse Untertan sein jenes vernünftig Edelsten, der das Göttliche als den Herrscher in seiner Brust besitzt? Mit dieser Behauptung wollen wir jedoch nicht gemeint haben, der Untertan müsse zu seinem, des Untertanen, Nachteil beherrscht werden, wie Thrasymachos von den Beherrschten wähnte: sondern, nicht wahr, wir lassen uns hierbei von dem Grundsatze leiten, daß es überhaupt für jeden Menschen das Beste ist, sich vom Göttlichen und Vernünftigen beherrschen zu lassen, am allerbesten zwar so, wenn er es als Eigentum in seinem Inneren hat, im anderen Falle aber, daß es als Regent von außen ihm vorgesetzt ist, auf daß wir alle insgesamt so viel als möglich in Gleichheit und Brüderlichkeit leben, indem wir uns durch ein und dasselbe göttliche Prinzip lenken und leiten lassen.[363]

Ja, sagte er, und dieser Grundsatz ist richtig.

Ja, auch das positive Gesetz, fuhr ich fort, spricht deutlich aus, daß es so etwas beabsichtigt, indem es allen ohne Ausnahme mit seinem Schutze beisteht; es beabsichtigt dies auch die Kinderzucht, wenn wir den Kindern nicht freien Willen lassen, bis wir in ihnen, wie in einem Staate, eine feste Verfassung eingesetzt, bis wir durch Entwicklung des Edelsten in ihnen mittels des Edelsten in uns statt unserer Aufsicht einen ähnlichen Aufseher und Gebieter in ihrer Brust aufgestellt haben, und dann erst lassen wir ihnen ihre Freiheit.

Ja, sagte er, dieselbe Absicht liegt auch hier zutage.

Auf welche Weise denn und aus welchem Grunde könnten wir, o Glaukon, nun noch behaupten. Unrechttun, Unzucht oder sonst etwas Unsittliches bringe einen Vorteil, Handlungen, durch die man an seiner Seele den größten Schaden leidet, wenn man dabei auch in einen größeren Besitz von Geld oder sonstiger Macht gelangt?

Auf keine Weise können wir es, war seine Antwort.

Ferner: Wie könnten wir behaupten, es sei ein Glück, wenn einer beim Unrechttun verborgen bliebe und keine Strafe dafür zu leiden brauche? Oder leidet der Verborgenbleibende nicht noch immer mehr Schaden an seiner Seele, während bei dem, der nicht verborgen bleibt und gestraft wird, das Tierische gestillt und gezähmt, das Himmlische entfesselt und überhaupt die ganze Seele in die beste natürliche Verfassung gesetzt wird? Und durch den hiermit verbundenen Gewinn an besonnener Selbstbeherrschung, Gerechtigkeitssinn und Vernunft erlangt er wohl einen viel wertvolleren Vorzug als ein Körper, der Kraft, Schönheit und Gesundheit bekommt, nämlich einen in eben dem Grade wertvolleren Vorzug, als eine Seele einen Körper an Wert übertrifft?

Ja, sagte er, allerdings.

Nicht wahr, wer Verstand hat, wird demnach mit Anstrengung aller seiner Kräfte das Leben so einrichten, daß er erstlich in bezug auf die in den Wissenschaften liegende geistige Nahrung nur diejenigen Wissenschaften hoch ehrt, die seine Seele zu einer solchen Verfassung heranbilden, das übrige Wissen aber gering anschlägt?

Versteht sich, meinte er.[364]

Daß er zweitens, fuhr ich fort, in bezug auf Unterhalt und Pflege des Körpers diese nicht dem tierischen und unvernünftigen Gefühle der Lust und Unlust anheimstellt und danach nur seine Lebensrichtung nimmt; ja, er sieht dabei nicht einmal die Gesundheit als das Hauptziel an: er wird größere Körperstärke, Gesundheit, Schönheit nicht hoch anschlagen, wenn er nicht zugleich auch an besonnener Selbstbeherrschung bei ihnen gewinnen sollte; sein Bestreben wird vielmehr dahin gehen, immer bei der Regulierung des Körpers von der Vernunft der Seele sich den Ton angeben zu lassen.

Ja, allerdings, sagte er, wenn er ein echter Musiker sein will.

Nicht wahr, sprach ich weiter, auch drittens wird er von der Vernunft der Seele sich den Ton angeben lassen hinsichtlich der Liebe für Talerkomposition und Talerklang, und er wird nicht, von der Stimme des Pöbels verführt, die Masse seines Reichtums ins Unendliche vermehren und dadurch mit unendlichen Übeln sich behaften?

Nein, ich glaube nicht, daß er letzteres tut, sagte er.

Sondern, sagte ich, er wird in bezug auf Erwerb jene vernünftige Verfassung in seinem Inneren zur Richtschnur nehmen und wohl wachsam sein, damit er in seinem Inneren keines der dortigen drei Vermögen in der ihm bestimmten Stellung verrücke, sei es infolge von Übermaß an Vermögen oder infolge von Mangel, und er wird also bei solcher Richtschnur hinsichtlich des Vermögens erwerben und aufwenden, soweit es nach jener Richtschnur möglich ist.

Ja, gewiß, sagte er.

Was viertens Ehren anlangt, so wird er im Hinblick auf dieselbe Richtschnur manche annehmen und ohne Widerwillen genießen, von denen er nämlich mit Grund annehmen darf, daß sie die Verfassung seines Inneren vervollkommnen helfen; von welchen er dagegen Grund hat zu fürchten, daß sie den Bestand jener Seelenverfassung zerrütten können, denen wird er ausweichen im Privat- wie im Staatsleben.

Demnach, sagte er, wird er keine besondere Lust und Liebe daran haben, sich mit den Angelegenheiten des Staates zu befassen, falls er Rücksicht auf diese Richtschnur nehmen sollte.

Jawohl, beim Hunde, sagte ich, jawohl hat er Lust und Liebe[365] dazu in dem für ihn geeigneten Staate, nicht jedoch in dem, in dem er geboren ist, wenn nicht ein besonderes Gottesgeschick ihn hierzu bestimmen sollte.

Ja, ich begreife, sagte er; in dem Staate nämlich, meinst du, würde er Lust und Liebe daran haben, mit dessen Gründung wir uns eben beschäftigten, in dem im Reich der Gedanken liegenden Staate: denn auf Erden existiert er, glaube ich, nirgends.

Nun, sagte ich, dann ist er doch wohl im Himmel als ein heiliges Mustervorbild für jeden aufgestellt, der ihn anschauen und durch seine Anschauung danach den Haushalt seines Inneren einrichten will; es liegt aber gar nichts daran, ob er irgendwo existiert oder noch existieren wird: denn nur mit den Angelegenheiten dieses Staates allein befaßt er sich, aber mit keinem anderen.

Ja, selbstverständlich, bemerkte er.

Quelle:
Platon: Sämtliche Werke. Band 2, Berlin [1940], S. 330-366.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Staat
Der Staat / Politeia: Griechisch - Deutsch
Der Staat
Staat: Kommentar
Der Staat
Der Staat

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.

112 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon