[7] Diese Sammlung von Betrachtungen und Beobachtungen, ohne Ordnung und fast ohne strenge Reihenfolge, wurde einer guten denkenden Mutter1 zuliebe begonnen. Anfänglich hatte ich nur eine Abhandlung von wenigen Seiten beabsichtigt; da mich mein Gegenstand jedoch wider Willen fortriß, so schwoll diese Abhandlung allmählich zu einem förmlichen Werke an, das unzweifelhaft zu umfangreich ist, wenn man sein Augenmerk nur auf den Inhalt richtet, aber im Hinblick auf den Stoff, den es behandelt, trotzdem nicht ausführlich genug. Ich habe lange geschwankt, es zu veröffentlichen, und bei der Ausarbeitung hat mich oft das Gefühl überschlichen, daß die Abfassung einiger Broschüren noch keine hinreichende Bürgschaft für den Beruf darbietet, ein Buch zu schreiben. Nach vergeblichen Bemühungen, etwas Besseres zu leisten, glaube ich es so, wie es ist, vorlegen zu müssen, überzeugt, daß es von Wichtigkeit ist, die öffentliche Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand zu lenken, und daß, sollten sich auch meine Gedanken als falsch herausstellen, ich doch meine Zeit nicht völlig verloren habe, wenn auf meine Veranlassung hin[7] bei anderen richtige rege werden. Ein Mann, welcher seine Blätter aus seiner Zurückgezogenheit unter das Publikum streut, ohne empfehlende Reklame, ohne Partei, die ihre Verteidigung übernimmt, ja selbst ohne zu wissen, was man darüber denkt oder spricht, braucht nicht zu fürchten, daß man, wenn er sich irrt, seine Irrtümer ohne strenge Prüfung für wahr anerkennen werde.
Ueber die Wichtigkeit einer guten Erziehung werde ich wenig Worte verlieren, auch werde ich mich nicht bei dem Beweis aufhalten, daß die jetzt übliche nur einen schädlichen Einfluß ausübt. Tausend andere haben es vor mir getan, und es ist nicht nach meinem Geschmack, ein Buch mit allbekannten Dingen anzufüllen. Ich werde lediglich darauf hinweisen, daß sich gegen die eingeführte Praxis längst ein allgemeiner Schrei erhoben hat, ohne daß jemand sich dem unterzieht, mit Reformvorschlägen hervorzutreten. Die Literatur und Wissenschaft unsres Jahrhunderts läuft weit mehr darauf hinaus zu zerstören als aufzubauen. Man kritisiert mit dem absprechenden Ton eines Meisters; um Vorschläge zu machen, muß man jedoch einen anderen anschlagen, an welchem die philosophische Erhabenheit weniger Gefallen findet. Trotz so vieler Schriften, welche alle vorgeblich den allgemeinen Nutzen bezwecken, ist doch gerade die Kunst, welche den größten Nutzen gewährt, die Kunst Men schen zu bilden, noch immer vergessen. Mein Thema war trotz Lockes Buch völlig neu und ich befürchte sehr, daß dasselbe es auch noch nach dem meinigen bleiben wird.
Man kennt und versteht die Kinderwelt durchaus nicht; je weiter man die falschen Ideen, welche man von derselben hegt, verfolgt, desto weiter verirrt man sich. Die Weisesten behandeln mit Vorliebe das den Menschen Wissenswürdigste,[8] ohne dabei auf die Lern- und Begriffsfähigkeit der Kinder Rücksicht zu nehmen. Sie suchen stets schon den Mann im Kinde, ohne an den kindlichen Zustand zu denken, aus dem der Mann sich erst allmählich entwickelt. Und gerade das Studium dieses Zustandes habe ich mir am angelegensten sein lassen, damit, wenn auch meine ganze Methode wunderlich und falsch sein sollte, man doch immer aus meinen Beobachtungen Nutzen schöpfen könnte. Ich kann vielleicht über das, was zu tun ist, unklare Vorstellungen haben, allein den Körper, an dem zu operieren ist, glaube ich gut gesehen und beobachtet zu haben. Fangt also an, eure Zöglinge besser zu studieren, denn sicher kennt ihr sie noch gar nicht. Wohlan denn, lest ihr dies Buch von diesem Gesichtspunkt aus, so wird, wie ich glaube, die Lektüre für euch nicht ohne Nutzen sein.
Was nun den Teil anlangt, den man den systematischen nennen wird und der hier nichts anderes als den Gang der Natur schildert, so wird gerade dieser das Kopfschütteln des Lesers am meisten hervorrufen. Von hier aus wird man auch unzweifelhaft die Angriffe auf mich richten, und vielleicht hat man nicht unrecht. Man wird weniger eine Abhandlung über Erziehung als die Träumereien eines Phantasten über Erziehung zu lesen glauben. Was ist dabei zu tun? Ich schreibe ja nicht über die Ideen anderer, sondern über die meinigen. In meinen Augen erscheint alles anders als in denen anderer Leute; schon längst hat man mir das vorgeworfen. Aber hängt es etwa von mir ab, mir andere Augen zu geben und mir andere Ideen anzueignen? Nein. Es hängt von mir ab, nicht eigensinnig auf meinem Kopfe zu bestehen, mich allein nicht für klüger als die ganze Welt zu halten; es hängt von mir ab, nicht etwa meine Ansicht[9] zu wechseln, wohl aber der meinigen nicht unbedingt zu trauen: das ist alles, was ich tun kann, und was ich wirklich tue. Wenn ich bisweilen einen absprechenden Ton annehme, so geschieht das keineswegs, um den Leser damit zu blenden, es geschieht vielmehr, um mit ihm so zu sprechen, wie ich denke. Warum soll ich meine Ideen, an deren Wichtigkeit ich für meinen Teil nicht im geringsten zweifle, unter der Form des Zweifels zur Prüfung vorlegen? Ich schreibe genau, was in meinem Geiste vorgeht.
Indem ich meine Ansicht freimütig dartue, bin ich so weit davon entfernt, dieselbe von vornherein als eine ausgemachte Wahrheit hinzustellen, daß ich stets meine Gründe hinzufüge, damit man dieselben erwäge und mich danach beurteile: aber obgleich ich meine Ideen durchaus nicht hartnäckig verteidigen will, so halte ich mich doch nicht weniger für verpflichtet, sie zur Prüfung vorzulegen, denn die Grundsätze, hinsichtlich deren ich von den Ansichten anderer völlig abweiche, sind durchaus nicht gleichgültig. Sie gehören zu denjenigen, deren Wahrheit oder Unrichtigkeit zu kennen von höchster Wichtigkeit ist, und welche das Glück oder Unglück des menschlichen Geschlechts begründen.
Bringe nur Ausführbares zum Vorschlag, wiederholt man mir unaufhörlich. Das ist dasselbe, als ob man zu mir sagte: Schlage vor, das zu tun, was man tut, oder schlage wenigstens etwas Gutes vor, das sich mit dem bestehenden Schlechten vereinigen läßt. Ein solches Projekt ist in bezug auf bestimmte Gegenstände noch weit wunderlicher als meine Vorschläge, denn in dieser Vermischung verschlechtert sich das Gute, während sich das Schlechte nicht bessert. Ich würde lieber die einmal eingeführte Methode im ganzen unverrückt beibehalten, als mir eine[10] gute nur halb aneignen: es würde im Menschen dadurch ein geringerer Widerspruch hervorgerufen werden, weil er nicht nach zwei entgegengesetzten Zielen zu streben vermag. Väter und Mütter, das Ausführbare wollt ihr ja ausführen. Darf ich für euch einstehen?
Bei jedem Plan ist zweierlei zu erwägen: erstens die absolute Güte des Plans, und an zweiter Stelle die Leichtigkeit der Ausführung.
In ersterer Hinsicht genügt, um die Zulässigkeit und Ausführbarkeit des Plans an und für sich darzutun, daß das in ihm vorhandene Gute in der Natur der Sache liegt, hier zum Beispiel, daß die vorgeschlagene Erziehung dem Menschen entsprechend und dem menschlichen Herzen völlig angemessen ist.
Die zweite Erwägung hängt von den in bestimmten Lagen gegebenen Verhältnissen ab, von in bezug auf die Sache zufälligen Verhältnissen, welche mithin nicht notwendig sind und bis ins Unendliche variieren können. So kann eine Erziehungsweise in der Schweiz ausführbar sein und in Frankreich nicht; eine andere kann sich in Bürgerfamilien bewähren, und wieder eine andere unter den höheren Klassen. Die mehr oder weniger große Leichtigkeit der Ausführung hängt von tausenderlei Umständen ab, die sich unmöglich anders als in einer besonderen Anpassung der Methode auf dieses oder jenes Land, auf diesen oder jenen Stand genau beschreiben lassen. Nun, alle diese besondern Variationen, die zu meinem Thema nicht wesentlich gehören, habe ich in meinem Plan nicht aufgenommen. Mögen sich andere damit befassen, wenn sie wollen, jeder mit Rücksicht auf das Land oder den Staat, welchen er im Auge hat. Mir genügt, daß man überall, wo Menschen geboren werden,[11] aus ihnen das, was ich vorschlage, machen kann, und daß, wenn man aus ihnen das, was ich vorschlage, gemacht, man das ihnen selbst wie anderen Heilsamste getan hat. Wenn ich dies Versprechen nicht erfülle, dann habe ich unzweifelhaft unrecht; wenn ich es aber erfülle, würde man auch unrecht haben, mehr von mir zu verlangen, denn ich verspreche nur dieses.[12]
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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
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