[96] In dieser Zeit – um 1888 herum – ward ich auf der einen Seite zur scharfen geistigen Konzentration durch mein inneres Seelenleben gedrängt; auf der andern stellte mich das Leben in einen ausgebreiteten geselligen Verkehr hinein. In meinem Innern ergab sich durch die ausführliche Einleitung, die ich zum zweiten Bande der von mir herauszugebenden naturwissenschaftlichen Werke Goethes zu schreiben hatte, die Nötigung, meine Anschauung von der geistigen Welt in die Form einer gedanklich durchsichtigen Darstellung zu bringen. Das erforderte eine innere Abgezogenheit von allem, womit ich durch das äußere Leben verbunden war. Ich verdanke dem Umstande viel, daß mir diese Abgezogenheit möglich war. Ich konnte damals in einem Kaffeehause sitzen, um mich herum das lebhafteste Treiben haben, und doch im Innern ganz still sein, die Gedanken darauf gewandt, im Konzept niederzuschreiben, was dann in die erwähnte Einleitung übergegangen ist. So führte ich ein inneres Leben, das in gar keinem Zusammenhange stand mit der Außenwelt, in die meine Interessen doch wieder intensiv verflochten waren.
Es war das die Zeit, in der sich in dem damaligen Österreich diese Interessen den krisenhaften Erscheinungen zuwenden mußten, die in den öffentlichen Angelegenheiten sich offenbarten. Persönlichkeiten, mit denen ich viel verkehrte, widmeten ihre Arbeit und Kraft den Auseinandersetzungen, die sich zwischen den Nationalitäten Österreichs vollzogen. Andere beschäftigten sich mit der sozialen Frage. Wieder andere standen in Bestrebungen nach einer Verjüngung des künstlerischen Lebens darinnen.
Wenn ich mit meiner Seele in der geistigen Welt lebte, dann hatte ich oft die Empfindung, daß alle diese Zielsetzungen in ein Unfruchtbares auslaufen müßten, weil sie es doch vermieden, an die geistigen Kräfte des Daseins heranzutreten. Die Besinnung auf diese geistigen Kräfte schien mir das zuerst Notwendige. Ein deutliches Bewußtsein davon aber konnte ich in dem geistigen Leben nicht finden, das mich umgab.
Es erschien damals Robert Hamerlings satyrisches Epos »Homunculus«. In diesem ward der Zeit ein Spiegel vorgehalten,[97] aus dem ihr Materialismus, ihre dem Äußerlichen des Lebens zugewandten Interessen in beabsichtigt karikaturenhaften Bildern erschienen. Der Mann, der nur noch in mechanistischmaterialistischen Vorstellungen und Betätigungen leben kann, geht eine Verbindung ein mit dem Weibe, das sein Wesen nicht in einer wirklichen, sondern in einer phantastischen Welt hat. Die zwei Seiten, in denen sich die Zivilisation verbildet hatte, wollte Hamerling treffen. Auf der einen Seite stand ihm das geistlose Streben, das die Welt als einen Mechanismus dachte und das Leben maschinenmäßig gestalten wollte; auf der andern die seelenlose Phantastik, die gar kein Interesse daran hat, daß ihr geistiges Scheinleben in irgendeine wahrhaftige Beziehung zur Wirklichkeit kommt.
Das Groteske der Bilder, in denen Hamerling malte, stieß viele ab, die seine Verehrer durch seine früheren Werke geworden waren. Auch in dem Hause delle Grazies, in dem man vorher in restloser Bewunderung Hamerlings lebte, wurde man bedenklich, als dieses Epos erschien.
Auf mich aber machte der »Homunculus« doch einen sehr tiefen Eindruck. Er zeigte, so schien es mir, die Kräfte, die als geist-verfinsternd in der modernen Zivilisation walten. Ich fand in ihm eine ernste Mahnung an die Zeit. Aber ich hatte auch Schwierigkeiten, eine Stellung zu Hamerling zu gewinnen. Und das Erscheinen des »Homunculus« vermehrte in meiner Seele zunächst die Schwierigkeiten. Ich sah in Hamerling eine Persönlichkeit, die mir in einer besonderen Art selbst eine Offenbarung der Zeit war. Ich blickte zurück auf die Zeit, in der Goethe und die mit ihm Wirkenden den Idealismus auf eine menschenwürdige Höhe gebracht hatten. Ich erkannte die Notwendigkeit, durch das Tor dieses Idealismus in die wirkliche Geistwelt einzudringen. Mir erschien dieser Idealismus als der herrliche Schatten, den nicht die Sinnenwelt hinein in die Seele des Menschen wirft, sondern als derjenige, der aus einer geistigen Welt in das Innere des Menschen fällt, und der eine Aufforderung darstellt, von dem Schatten aus die Welt zu erreichen, die den Schatten wirft.
Ich liebte Hamerling, der in so gewaltigen Bildern den idealistischen Schatten gemalt hatte. Aber es war mir eine tiefe Entbehrung, daß er dabei stehen blieb. Daß sein Blick weniger nach vorwärts auf das Durchbrechen zu einer neuen Form der[98] wirklichen Geistwelt gerichtet war, als nach rückwärts, auf den Schatten einer durch den Materialismus zerschlagenen Geistigkeit. Dennoch zog mich der »Homunculus« an. Zeigte er nicht, wie man in die geistige Welt eindringt, so stellte er doch dar, wohin man kommt, wenn man sich allein in einer geistlosen bewegen will.
Die Beschäftigung mit dem »Homunculus« fiel für mich in eine Zeit, in der ich dem Wesen des künstlerischen Schaffens und der Schönheit nachsann. Was mir damals durch die Seele zog, hat seinen Niederschlag in der kleinen Schrift »Goethe als Vater einer neuen Ästhetik« gefunden, die einen Vortrag wiedergibt, den ich im Wiener Goethe-Verein gehalten habe. Ich wollte die Ursachen finden, warum der Idealismus einer mutigen Philosophie, die in Fichte und Hegel so eindringlich gesprochen hatte, doch nicht bis zum lebendigen Geiste hat vordringen können. Von den Wegen, die ich ging, um diese Ursachen zu finden, war einer das Nachsinnen über die Irrtümer der bloß idealistischen Philosophie auf ästhetischem Gebiete. Hegel und die, die ähnlich wie er dachten, fanden den Inhalt der Kunst in dem sinnlichen Erscheinen der »Idee«. Wenn die »Idee« im sinnlichen Stoffe erscheint, so offenbart sie sich als das Schöne. Dies war ihre Ansicht. Aber die auf diesen Idealismus folgende Zeit wollte ein Wesenhaftes der »Idee« nicht mehr anerkennen. Weil die Idee der idealistischen Weltanschauung, so wie sie im Bewußtsein der Idealisten lebte, nicht auf eine Geistwelt hinwies, konnte sie sich bei den Nachfolgern nicht als etwas behaupten, das Wirklichkeitswert hatte. Und so entstand die »realistische« Ästhetik, die nicht auf das Scheinen der Idee im sinnlichen Bilde beim Kunstwerk hinsah, sondern nur auf das sinnliche Bild, das aus den Bedürfnissen der Menschennatur heraus im Kunstwerk eine unwirkliche Form annimmt.
Ich wollte im Kunstwerk als das Wesentliche dasjenige ansehen, was den Sinnen erscheint. Aber mir zeigte sich der Weg, den der wahre Künstler in seinem Schaffen geht, als ein Weg zum wirklichen Geiste. Er geht aus von dem, was sinnlich wahrnehmbar ist; aber er gestaltet dieses um. Bei dieser Umgestaltung läßt er sich nicht von einem bloß subjektiven Drang leiten, sondern er sucht dem sinnlich Erscheinenden eine Form zu geben, die es so zeigt, als ob das Geistige selbst da stehe. Nicht die Erscheinung der Idee in der Sinnenform ist das Schöne, so sagte ich[99] mir, sondern die Darstellung des Sinnlichen in der Form des Geistes. So erblickte ich in dem Dasein der Kunst ein Hereinstellen der Geist-Welt in die sinnliche. Der wahre Künstler bekennt sich mehr oder weniger unbewußt zum Geiste. Und es bedarf nur – so sagte ich mir damals immer wieder – der Umwandlung derjenigen Seelenkräfte, die im Künstler an dem sinnlichen Stoffe wirken, zu einem sinnenfreien, rein geistigen Anschauen, um in die Erkenntnis der geistigen Welt einzudringen.
Es gliederten sich mir dazumal die wahre Erkenntnis, die Erscheinung des Geistigen in der Kunst und das sittliche Wollen im Menschen zu einem Ganzen zusammen. In der menschlichen Persönlichkeit mußte ich einen Mittelpunkt sehen, in dem diese ganz unmittelbar mit dem ursprünglichsten Wesen der Welt zusammenhängt. Aus diesem Mittelpunkt heraus quillt das Wollen. Und wirkt in dem Mittelpunkt das klare Licht des Geistes, so wird das Wollen frei. Der Mensch handelt dann in Übereinstimmung mit der Geistigkeit der Welt, die nicht aus einer Notwendigkeit, sondern nur in der Verwirklichung des eigenen Wesens schöpferisch wird. In diesem Mittelpunkte des Menschen werden nicht aus dunklen Antrieben heraus, sondern aus »moralischen Intuitionen« Tatenziele geboren, aus Intuitionen, die in sich so durchsichtig sind wie die durchsichtigsten Gedanken. So wollte ich durch das Anschauen des freien Wollens den Geist finden, durch den der Mensch als Individualität in der Welt ist. Durch die Empfindung des wahren Schönen wollte ich den Geist schauen, der durch den Menschen wirkt, wenn er im Sinnlichen sich so betätigt, daß er sein eigenes Wesen nicht bloß geistig als freie Tat darstellt, sondern so, daß dieses sein Geisteswesen hinausfließt in die Welt, die zwar aus dem Geiste ist, aber diesen nicht unmittelbar offenbart. Durch die Anschauung des Wahren wollte ich den Geist erleben, der sich in seinem eigenen Wesen offenbart, dessen geistiger Abglanz die sittliche Tat ist, und zu dem das künstlerische Schaffen durch das Gestalten einer sinnlichen Form hinstrebt.
Eine »Philosophie der Freiheit«, eine Lebensansicht von der geistdurstenden, in Schönheit strebenden Sinneswelt, eine geistige Anschauung der lebendigen Wahrheitswelt schwebte vor meiner Seele.
Es war auch im Jahre 1888, als ich in das Haus des Wiener[100] evangelischen Pfarrers Alfred Formey eingeführt wurde. Einmal in der Woche versammelte sich dort ein Kreis von Künstlern und Schriftstellern. Alfred Formey war selbst als Dichter aufgetreten. Fritz Lemmermayer charakterisierte ihn aus Freundesherzen heraus so: »Warmherzig, innig in der Naturempfindung, schwärmerisch, trunken fast im Glauben an Gott und Seligkeit, so dichtet Alfred Formey in weichen, brausenden Akkorden. Es ist, als ob sein Schritt nicht die harte Erde berührte, sondern als ob er hoch in den Wolken hindämmerte und träumte.« Und so war Alfred Formey auch als Mensch. Man fühlte sich recht erdentrückt, wenn man in dieses Pfarrhaus kam und zunächst nur der Hausherr und die Hausfrau da waren. Der Pfarrer war von kindlicher Frömmigkeit; aber die Frömmigkeit ging in seinem warmen Gemüte auf die selbstverständlichste Art in lyrische Stimmung über. Man war sogleich von einer Atmosphäre von Herzlichkeit umgeben, wenn Formey nur einige Worte gesprochen hatte. Die Hausfrau hatte den Bühnenberuf mit dem Pfarrhaus vertauscht. Kein Mensch konnte in der liebenswürdigen, die Gäste mit hinreißender Anmut bewirtenden Pfarrerin die frühere Schauspielerin entdecken. Den Pfarrer pflegte sie fast mütterlich; und mütterliche Pflege war fast jedes Wort, das man sie zu ihm sprechen hörte. In den beiden kontrastierte in einer entzückenden Art Anmut der Seele mit einer äußerst stattlichen Erscheinung. In die weltfremde Stimmung dieses Pfarrhauses brachten nun die Gäste »Welt« aus allen geistigen Windrichtungen hinein. Da erschien von Zeit zu Zeit die Witwe Friedrich Hebbels. Ihr Erscheinen bedeutete jedesmal ein Fest. Sie entfaltete im hohen Alter eine Kunst der Deklamation, die das Herz in seliges Entzücken versetzte und den Kunstsinn völlig gefangen nahm. Und wenn Christine Hebbel erzählte, dann war der ganze Raum von Seelenwärme durchdrungen. An diesen Formey-Abenden lernte ich auch die Schauspielerin Wilborn kennen. Eine interessante Persönlichkeit, mit glänzender Stimme als Deklamatorin. Lenaus »Drei Zigeuner« konnte man von ihr immer wieder mit erneuter Freude hören. Es kam bald dazu, daß der Kreis, der sich bei Formey zusammengefunden hatte, sich auch ab und zu bei Frau Wilborn versammelte. Aber wie anders war es da. Weltfreudig, lebenslustig, humorbedürftig wurden da dieselben Menschen, die im Pfarrhause selbst noch ernst blieben, wenn der »Wiener Volksdichter« Friedrich Schlögl[101] seine lustigen Schnurren vorlas. Der hatte, zum Beispiel, als in Wien die Leichenverbrennung in einem engen Kreise eingeführt wurde, ein »Feuilleton« geschrieben. Da erzählte er, wie ein Mann, der seine Frau in einer etwas »derben« Art liebte, ihr bei jeder Gelegenheit, die ihm nicht paßte, zurief: »Alte, los di verbrenna!« Bei Formey machte man über eine solche Sache Bemerkungen, die eine Art kulturgeschichtlichen Kapitels über Wien waren; bei Wilborn lachte man, daß die Stühle klapperten. Formey sah bei der Wilborn wie ein Weltmann aus; die Wilborn bei Formey wie eine Äbtissin. Man konnte die eingehendsten Studien über die Verwandlung der Menschen bis in den Gesichtsausdruck hinein machen.
Bei Formey verkehrte auch Emilie Mataja, die unter dem Namen Emil Marriot ihre von eindringlicher Lebensbeobachtung getragenen Romane schrieb. Eine faszinierende Persönlichkeit, die in ihrer Lebensart die Härten des Menschendaseins anschaulich, genial, oft aufreizend offenbarte. Eine Künstlerin, die das Leben darzustellen versteht, wo es seine Rätsel in den Alltag hineinwirft, wo es seine Schicksalstragik zermalmend über Menschen hinwirft.
Da waren auch öfters die vier Damen des österreichischen Damenquartetts Tschempas zu hören; da rezitierte Fritz Lemmermayer melodramatisch zu Alfred Stroß' feurigem Klavierspiel wiederholt Hebbels »Heideknaben«.
Ich liebte dieses Pfarrhaus, in dem man soviel Wärme finden konnte. Es war da edelstes Menschentum wirksam.
In derselben Zeit fand es sich, daß ich mich in eingehender Art mit den öffentlichen Angelegenheiten Österreichs beschäftigen mußte. Denn mir wurde 1888 für kurze Zeit die Redaktion der »Deutschen Wochenschrift« übertragen. Diese Zeitschrift war von dem Historiker Heinrich Friedjung begründet worden. Meine kurze Redaktion fiel in die Zeit, in der die Auseinandersetzung der Völker Österreichs einen besonders heftigen Charakter angenommen hatte. Es wurde mir nicht leicht, jede Woche einen Artikel über die öffentlichen Vorgänge zu schreiben. Denn im Grunde stand ich aller parteimäßigen Lebensauffassung so fern als nur möglich. Mich interessierte der Entwickelungsgang der Kultur im Menschheitsfortschritt. Und ich mußte den sich daraus ergebenden Gesichtspunkt so einnehmen, daß unter seiner vollen Wahrung meine Artikel doch nicht als die eines »weltfremden[102] Idealisten« erschienen. Dazu kam, daß ich in der damals in Österreich besonders durch den Minister Gautsch eingeleiteten »Unterrichtsreform« eine Schädigung der Kulturinteressen sah. Auf diesem Gebiete wurden meine Bemerkungen einmal sogar Schröer, der immerhin für parteiliche Betrachtung viel Sympathie hatte, bedenklich. Ich lobte die sachgemäßen Einrichtungen, die der katholisch-klerikale Minister Leo Thun schon in den fünfziger Jahren für die österreichischen Gymnasien getroffen hatte, gegenüber den unpädagogischen Maßnahmen von Gautsch. Als Schröer meinen Artikel gelesen hatte, sagte er: Wollen Sie denn wieder eine klerikale Unterrichtspolitik in Österreich?
Für mich war diese kurze Redaktionstätigkeit doch von großer Bedeutung. Sie lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Stil, mit dem man damals in Österreich die öffentlichen Angelegenheiten behandelte. Mir war dieser Stil tief unsympathisch. Ich wollte auch in die Besprechungen über diese Angelegenheiten etwas hineinbringen, das einen die großen geistigen und menschheitlichen Ziele in sich schließenden Zug hatte. Diesen vermißte ich in der damaligen Tagesschriftstellerei. Wie dieser Zug zur Wirksamkeit zu bringen sei, das war damals meine tägliche Sorge. Und Sorge mußte es sein, denn ich hatte nicht die Kraft, die eine reiche Lebenserfahrung auf diesem Gebiete hätte geben können. Ich war im Grunde ganz unvorbereitet in diese Redaktionstätigkeit hineingekommen. Ich glaubte zu sehen, wohin auf den verschiedensten Gebieten zu steuern war; aber ich hatte die Formulierungen nicht in den Gliedern, die den Lesern der Zeitungen einleuchtend sein konnten. So war denn das Zustandekommen jeder Wochennummer für mich ein schweres Ringen.
Und so fühlte ich mich denn wie von einer großen Last befreit, als diese Tätigkeit dadurch ein Ende fand, daß der damalige Besitzer der Wochenschrift mit dem Begründer derselben in einen Streit über den Kaufschilling verwickelt wurde.
Doch brachte mich diese Tätigkeit in eine ziemlich enge Beziehung zu Persönlichkeiten, deren Tätigkeit auf die mannigfaltigsten Zweige des öffentlichen Lebens gerichtet war. Ich lernte Viktor Adler kennen, der damals der unbestrittene Führer der Sozialisten in Österreich war. In dem schmächtigen, anspruchslosen Mann steckte ein energischer Wille. Wenn er am Kaffeetisch sprach, hatte ich stets das Gefühl: der Inhalt dessen, was er[103] sagte, sei unbedeutend, alltäglich, aber so spricht ein Wille, der durch nichts zu beugen ist. Ich lernte Pernerstorfer kennen, der sich in der Umwandlung vom deutschnationalen zum sozialistischen Parteigänger befand. Eine starke Persönlichkeit von umfassendem Wissen. Ein scharfer Kritiker der Schäden des öffentlichen Lebens. Er gab damals eine Monatsschrift »Deutsche Worte« heraus. Die war mir eine anregende Lektüre. In der Gesellschaft dieser Persönlichkeiten traf ich andere, die wissenschaftlich oder parteigemäß den Sozialismus zur Geltung bringen wollten. Durch sie wurde ich veranlaßt, mich mit Karl Marx, Friedrich Engels, Rodbertus und anderen sozialökonomischen Schriftstellern zu befassen. Ich konnte zu alledem ein inneres Verhältnis nicht gewinnen. Es war mir persönlich schmerzlich, davon sprechen zu hören, daß die materiell-ökonomischen Kräfte in der Geschichte der Menschheit die eigentliche Entwickelung tragen und das Geistige nur ein ideeller Überbau dieses »wahrhaft realen« Unterbaues sein sollte. Ich kannte die Wirklichkeit des Geistigen. Es waren die Behauptungen der theoretisierenden Sozialisten für mich das Augen-Verschließen vor der wahren Wirklichkeit.
Und dabei ward mir doch klar, daß die »soziale Frage« selbst eine unbegrenzte Bedeutung habe. Es erschien mir aber als die Tragik der Zeit, daß sie behandelt wurde von Persönlichkeiten, die ganz von dem Materialismus der zeitgenössischen Zivilisation ergriffen waren. Ich hielt dafür, daß gerade diese Frage nur von einer geistgemäßen Weltauffassung richtig gestellt werden könne.
So war ich denn als Siebenundzwanzigjähriger voller »Fragen« und »Rätsel« in bezug auf das äußere Leben der Menschheit, während sich mir das Wesen der Seele und deren Beziehung zur geistigen Welt in einer in sich geschlossenen Anschauung in immer bestimmteren Formen vor das Innere gestellt hatte. Ich konnte zunächst nur aus dieser Anschauung heraus geistig arbeiten. Und diese Arbeit nahm immer mehr die Richtung, die dann einige Jahre später mich zur Abfassung meiner »Philosophie der Freiheit« geführt hat.
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